Wirtschaftswetter Online-Zeitschrift      Wirtschaftswetter-Themen, Schwerpunkt Was Ihr wollt, Link Werbeseite


Erntedankfest und Welternährungstag

Zwischen Überfluss und Armut - Die Ernährungsschere klafft im Oktober 2014 weit auseinander

von Angelika Petrich-Hornetz

Im Herbst ist die Zeit der Erntedankfeste, eine nicht erst seit dem Christentum fest verwurzelte Tradition, denn das Wunder, dass ein kleines Samenkorn in die Erde gesteckt, etwas Nahrhaftes, Lebenserhaltenes wachsen lässt, flößt den meisten Menschen rund um die Erde immer noch großen Respekt ein, zumal eine gute Ernte keine Selbstverständlichkeit ist, nicht allein in Menschenhand liegt und nach wie vor großen Einfluss auf das Leben und Überleben hat. Menschen weltweit zeigen ihren Dank für eine gute Ernte, jedes Volk auf seine Art und Weise. Es werden Prozessionen, Gottesdienste und Umzüge abgehalten, Erntegaben und Erntekronen ausgestellt, die anschließend häufig gespendet werden.

In diesem Jahr bleibt den Erntedank-Feierenden jedoch die anfängliche Freude über eine reiche Ernte in und außerhalb Europas anschließend im Halse stecken, aus unterschiedlichen Gründen. So erlebten viele Regionen Europas einen früh einsetzenden, langen, sonnigen und warmen Sommer, u.a. in Deutschland, so dass 2014 eine reiche Ernte eingefahren werden konnte, in manchen Gegenden wurde dieses Jahr sogar zweimal geerntet.
Anfang August meldete das Bundeslandwirtschaftsministerium, der milde Winter und die früh einsetzende Vegetationsperiode haben zu einem Entwicklungsvorsprung von zwei bis drei Wochen geführt, Erträge und Erntemengen dürften in diesem Jahr bei Getreide, Obst und Gemüse deshalb zum Teil "deutlich höher ausfallen" als im langjährigen Mittel. Zwei Wochen früher als sonst, bereits Ende Juni begann dann auch im südlichen Rheinland-Pfalz die Getreideernte. Auch die Hopfenbauern erwarteten zu diesem Zeitpunkt um 20 Prozent höhere Erntemengen als im Vorjahr, ebenso freuten sich die Winzer auf einen frühen Lesebeginn eines guten Jahrgangs von geschätzten 9,5 Millionen Hektolitern. .

Die guten Prognosen sollten sich erfüllen. So fuhren z.B. bei einer um drei Wochen früher einsetzenden Ernte die Apfelbauern über eine Million Tonnen Äpfel ein, +29 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Süßkirschenernte steigerte sich um rund +10.000 Tonnen als im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre und um +20.000 Tonnen gegenüber dem Vorjahr. Die Sauerkirschenernte fiel um rund +28 Prozent höher als im Vorjahr aus. Ähnlich deutlich höher fielen die Ernteeträge bei Pflaumen, Erdbeeren und Beerenobst aus. Auch die Gemüseernte setzte bei fast allen Kulturen um drei Wochen früher ein, als im Durchschnitt der Vorjahre. Mit rund 115.000 Tonnen gab es 2014 eine der bisher größten Spargelernten. Mit 500.000 Tonnen wurden fast 100.000 Tonnen mehr Zwiebeln als im Vorjahr 2013 geerntet und auch die Kartoffelernte fiel reichlich aus - in ganz Europa. .

Die Freude der Bauern über dieses ihnen wettertechnisch wohlgesonnene Jahr und die guten Ernteerträge währte allerdings nur kurz, u.a. vermasselte ihnen das Russland-Embargo zusätzlich zu den bereits sinkenden Preisen - als Folge der höheren Ernteertragsmengen - die Festlaune zum Erntedankfest: Der Markt ist überschwemmt mit Äpfeln, Kartoffeln und Co. Die Preise rasseln seitdem in den Keller. 2,5 Kilo Kartoffeln aus Deutschland für 60 Cent - wann hat der Verbraucher so etwas das letzte Mal erlebt?
Diese gute Ernte trieb noch andere Blüten als lediglich günstige Verbraucherpreise, die zweifelsohne sicher zunächst für mehr Gemüse und Obst auf den Tischen auch in Privathaushalten sorgt. So warb auch der Bundeslandwirtschaftsminister noch eine Woche vor dem deutschen Erntedankfest dafür, dass sich die Verbraucher jedes Jahr über die Ernte dankbar zeigen - und daher nicht so viele Lebensmittel wegwerfen sollten, während Bauern in Bayern ein paar Wochen zuvor bereits tausende Tonnen Gurken vernichtet hatten, weil ihnen die Kapazitäten, eine derart große Gurkenernte zu verarbeiten, schlicht fehlten. Aus Polen kam der durch das Russland-Embargo verursachte Trend, mit Äpfeln um sich zu werfen, bzw. überall, die nunmehr nicht mehr nach Russland exportierbaren Äpfel, selbst zu verspeisen - und vor allem, den Verzehr von Äpfeln unentwegt anzupreisen. Auf einmal stehen im ganzen Land wieder auf allen Tischen gut gefüllte Obstschalen herum, ein schon fast vergessenes Tischaccessoire, das bereits als so gut wie ausgestorben gegolten hatte.

Für die Verbraucher in den Ländern, die solche Erntesteigerungen verzeichnen, sind die sinkenden Preise für regionales, frisches Obst und Gemüse erst einmal schön, wenn sie sich darauf einlassen, auf einmal solche Mengen an gesunder Kost ins eigene Haus zu lassen. Vielleicht bringt das den ein oder anderen auch tatsächlich noch dazu, sich wenigstens dieses Jahr etwas gesünder zu ernähren und auch mal etwas Außergewöhnlicheres zu kochen, weil das günstigere Rohmaterial dazu anregt, zu experimentieren. Es ist ja nicht so teuer, noch einen Sack Kartoffeln zu holen, wenn die ersten selbst gemachten Kartoffelpuffer nichts geworden sind. Aber auch die Fast-Food-Fans dürften mittlerweile wieder auf ihre Kosten kommen, weil durch die niedrigen Kartoffelpreise aktuell auch die für Pommes Frites und andere Kartoffelerzeugnisse fallen. Damit dürfte auch die Apfelschorle im Restaurant eigentlich mit etwas zeitlicher Verzögerung wieder günstiger werden. Eigentlich.

Auf dem globalen Markt stellen sich die guten Ernten in Europa und den USA ebenso zunächst einmal in gesunkenen Nahrungsmittelpreisen dar. Bereits im Juni fielen aufgrund der guten Ernteprognosen für die USA, dem weltweit größten Exporteur von Mais, Sojabohnen und Weizen, die Preise im Vorjahresvergleich für Getreide um rund -23 Prozent, für Ölsaaten um rund -14,5 Prozent. Ähnlich verbilligten sich Mais und Sojabohnen. Ende Juli lag der Maispreis bei 3,57 US-Dollar pro Scheffel (Quelle HWWI) und damit so niedrig wie vor vier Jahren. 2012 kostete der Scheffel Mais noch 8 US-Dollar - mehr als eine Halbierung der Preise.

Bereits in normalen Erntejahren werden in Deutschland etwa elf Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Die Gründe sind mehrdimensional und liegen nicht nur in einer schlechten Bewirtschaftung der Küchen von Verbrauchern, u.a. verursachen Lagerverluste (z.B. durch Schadpilze) und/oder Handelsbeschränkungen, die zu Verzögerungen in der Lieferkette führen, riesige Verlustmengen, die besonders beim Transport von verderblichen Lebensmitteln an der Tagesordnung ist. In diesem Jahr stießen bereits die Verarbeiter in den Erzeugerländern an die Grenzen ihrer Kapazitäten, die zum Teil deutlich größeren Ernteerträge überhaupt noch wirtschaftlich verarbeiten zu können und auch das führte und führt zum Worst Case in der Lebensmittel-Industrie: zur Vernichtung von Lebensmitteln.

Die exorbitanten Erntemengen von Einlegegurken in Bayern, dem in Europa dafür größten Anbaugebiet, führten also dazu, dass tausende Tonnen des leckeren, gesunden Gemüses schlicht vernichtet werden mussten - sie werden untergepflügt oder an Biogasanlagen verfüttert. Nach zwei Tagen muss eine Gurke im Glas sein, heißt es dazu beim Erzeugerverband GEO. Selbst die Tafeln, die kostenlos Lebensmittel verteilen, und die auch von Gurkenerzeugern beliefert werden, könnten solche Mengen an Gurken nicht mehr aufnehmen, äußerte sich der Verband gegenüber der Presse. Doch man gab auch zu, aus marktpolitischen Gründen Gurken vernichtet zu haben - das Verramschen mit zu niedrigen Preise sei eben schlecht fürs Geschäft der Erzeuger. Noch im Februar hatte dagegen der Bundesverband der Obst, Gemüse und Kartoffeln verarbeitenden Industrie, nichts ahnend, wie viele Gurken 2014 tatsächlich übrig bleiben würden, davor gewarnt, dass Gurken wie im Vorjahr 2013, "auch im Jahr 2014 in Deutschland knapp bleiben dürften." und das Szenario der Arbeitsplatzverlagerung beim Gurkenanbau in Länder mit preiswerteren Lohnstrukturen gezeichnet.

Das Risiko der Erzeugerkosten ist natürlich ein Handfestes, seien es steigende Strompreise oder Tariflöhne, die trotz aller Bemühungen ständig aufwendiger werdende Bürokratie, Sozialversicherugnsrisiken bei Erntehelfern, immer komplexere Im- und Exportverträge, steigende Kosten sowie wachsender Bürokratieaufwand bei Lebensmittelsicherheit und Pflanzenschutz sowie der in der Branche viel kritisierte Mindestlohn, der in den Betrieben zu einem Paradox führt: Kurzfristig angeheuerten Erntehelfern werde wegen dem Mindestlohn am Ende mehr ausgezahlt als einer langjährigen Stammbelegschaft, die Sozialversicherungsbeiträge leisten muss, heißt es. Das alles sind nicht zu vernachlässigende Probleme, die den Erzeugern zusetzen, darunter vor allem - allen Sonntagsreden zum Trotz - eine geradezu penetrant wachsende Bürokratie, die in allen Branchen gerade kleineren und mittleren - und damit oft familiengeführten - Betrieben immer mehr zu schaffen macht.

Insgesamt führt das alles zu immer neuen Seltsamkeiten auf einem Markt, der keineswegs mehr nach den Regeln von Angebot und Nachfrage funktioniert: So werden die Gurken für den Verbraucher trotz der guten Ernte vielleicht mittelfristig wirklich nicht billiger, weil auch die Gurken, die anschließend lediglich vernichtet werden, abgeerntet werden müssen - und das steigert die Kosten für den Verbraucher, der mit seinem käuflich erworbenen Glas Gurken auch die Kosten für vernichtete Gurken mitbezahlen soll, von denen er nichts hat.

Das offensichtliche Desaster einer sehr guten Ernte, über die man sich eigentlich zu freuen hätte, wiederholt sich gegenwärtig täglich und überall: In Belgien und den Niederlanden wurden bereits tonnenweise Äpfel, Birnen und Tomaten vernichtet. In Deutschland bleiben inzwischen auch die Kartoffeln auf den Äckern liegen oder werden in Biogasanlagen gesteckt, die deutschen Obstbauern hadern laut Medienberichten noch damit, ihre Ernten zu vernichten, obwohl von der EU dafür Prämien bezahlt werden. Aber ihre Äpfel und Kartoffeln kostenlos an Schulen und Altersheime zu verschenken, wie es der Bundeslandwirtschaftsminister nach dem Russlandembargo allen Ernstes vorgeschlagen hatte, wollen und können sie auch nicht, weil sie dafür nichts bekommen. Da hilft es auch nichts, wenn der Bundeslandwirtschaftsminister sagt, er werde eine Vernichtung von Lebensmitteln nicht finanzieren. Auch Polen bleibt auf seinen Äpfeln sitzen, deren von der EU geförderte Produktion bislang zu einem großen Teil nach Russland exportiert wurde und stellen nun massenhaft Anträge auf Ausgleichszahlung für die Vernichtung bei derselben EU. In Österreich bleibt tonnenweise Sauerkraut auf den Feldern liegen, wird verhäckselt und wie die Äpfel untergepflügt.

Die Vernichtung von Lebensmitteln aus "marktpolitischen Gründen" verhindert das Verschenken und den Verkauf zu für die Erzeuger zu billigeren Preisen durch Entzug der Ware vom Markt, wodurch der Preisverfall aufgehalten werden könnte oder, siehe oben, sich die noch im Marktkreislauf verbliebene Ware sogar verteuern könnte. Das alles passt aber so gar nicht zum Erntedankmonat Oktober, in dem man neben dem Dank auch eine Rückschau auf die vergangene Ernte zu halten pflegt - und die nächste geplant wird. So wird u.a. mit einer Reduzierung der Anbauflächen für Kartoffeln im kommenden Jahr gerechnet, denn der Kartoffelanbau lohnt sich für die Erzeuger nicht, so das Fazit 2014, deren Anzahl sich mit jedem Erntejahr übrigens auch stets aufs neue reduziert.

So ein ernüchterndes Ergebnis einer an und für sich guten und damit begrüßenswerten Ernte - inklusive solcher Extrem-Ereignisse wie eine massenhafte Vernichtung von Lebensmitteln - passt auch deshalb nicht in den Erntedankmonat, weil in diesem Monat ebenso der Welternährungstag stattfindet. Und auch der fällt in diesem Jahr ähnlich drastisch anders aus als im vergangenen:
Dank den vielen Kriegshandlungen und Krisen in Syrien, im Irak, in der Ukraine und dank Ebola fallen im Gegensatz zu Europa und den USA in vielen anderen Regionen der Welt nicht nur in diesem Jahr die Erntedankfeste komplett aus, sondern werden es auch im nächsten Jahr: In den krisengeschüttelten Regionen ist niemand mehr dazu in der Lage, die Felder für die nächste Ernte zu bestellen. Das bedeutet, auf Ebola, Krieg und Terror werden in vielen Gegenden der Welt mindestens zwei ausgefallen Ernten folgen, die in davon betroffenen Länder aber dringend gebraucht werden. Mit diesem Elend des Hungers auf der einen Seite, auf die der Welternährungstag alljährlich hinweist, und den satten Ernten auf der anderen Seite, die dazu führen, dass man dort nicht mehr weiß, wohin mit den ganzen Gurken, Kartoffeln und Äpfeln, wächst einmal mehr nicht nur die bereits weit auseinander klaffende Schere der Einkommen in der Welt, sondern auch die der Chance auf das nackte Überleben.
Das sollte gerade im Oktober sämtliche an den Entscheiderschrauben der Lebensmittelindustrie und Lebensmittelpolitik sitzende Verantwortliche dringend zum Nachdenken und zum sofortigen Handeln anregen, welche noch so kleinen Möglichkeiten denkbar wären, den Überschuss der einen Seite in die Hungerregionen auf die andere Seite zu verfrachten.

Ganz vorneweg ist die Europäische Union gefragt, die den Bauern für die Vernichtung von Lebensmitteln Prämien zahlt. Sie könnte langfristig dafür sorgen, dass die bereits hier und da eingeführten regionalen Herkunftsbezeichnungen auf europäischer Ebene eingeführt werden, so dass der Verbraucher u.a. weiß, aus welchen Regionen die Äpfel in seinem Apfelsaft stammen, weil Lebensmittel "aus der Region" in der Verbraucherbeliebtheit steigen, das will der Verbraucher also. Das wäre echter Wettbewerb, dessen Förderung sich die EU genauo auf die Fahnen geschrieben hat, wie die Informations-Rechte des Verbrauchers in ganz Europa. Immerhin hat die EU auch dafür gesorgt, das ab 13. Dezember 2014 Palmöl auf Lebensmittel gekennzeichnet werden muss, also sind solche Maßnahmen möglich.

Doch für die aktuelle angespannte Situation, die dieses Jahr deutlich klaffende Schere des Nahrungsmittel-Elends auf der einen Seite und die reiche Ernte auf der anderen Seite (in Europa), sollte sich die EU dringend ein Notprogramm einfallen lassen, das etwas anderes vorsieht, als große Teile der Ernte lediglich zu vernichten. Genauso gut könnten Erzeuger Geld dafür erhalten, ihre überschüssigen Ernteerträge dort abzugeben, wo diese dringend gebraucht werden, schließlich ist nicht alles so leicht verderblich wie Gurken und damit auch einigermaßen transportfähig. Das Fazit des Erntejahres 2014 kann deshalb nur lauten: Alles ist besser, als Lebensmittel zu vernichten. Sonst könnte, wie einige religiös geprägte Menschen bereits befürchteten, der Erntedank, frei nach Marcel Reich-Ranicki, eines Tages womöglich noch auf folgenden Kommentar treffen:
"Ich nehme diesen Preis nicht an!"


2014-10-14, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: © Angelika Petrich-Hornetz
Foto Banner: aph
Infos zu Datenschutz + Cookies

zurück zu: Themen

zurück zu: Startseite

wirtschaftswetter.de
© 2003-2021 Wirtschaftswetter® Online-Zeitschrift