von Angelika Petrich-Hornetz
Neiddebatten und Exklusionsbetrebungen haben in Deutschland eine lange Tradition und damit mehrere Jahrhunderte Geschichte hinter sich. In den Diktaturen wurden deren Auswüchse unterträglich und lebensfeindlich. Lange vorher, im Absolutismus erfuhr der Adel die größte Macht durch Geburt, später kam der vererbte Geldadel dazu. Auch die demokratischste Gesellschaft kennt solche Bestrebungen. So hatten die USA zwar nie einen Adel, schufen sich u.a. mit ihrer politischen Klasse eine Art Ersatz dafür, eine ebenfalls dünn besetzte, herrschende Obere-Zehntausend-Schicht und die führt sich in den Augen einiger US-Bürger exakt auch genauso auf. Ähnlich wie anderswo gelangt man in die so genannten besseren Kreise der (nordamerikanischen) Gesellschaft nicht unbedingt durch herovrragende Leistungen, sondern vor allem durch hervorragend gute Beziehungen, in Europa ist das nicht viel anders. Die Folge-Generationen haben es dann bequemer, sie werden in diese Kreise "hineingeboren". So kann auch heute noch bei jedem noch so gut gemeinten Netzwerk über das schon weitaus unangenehmere Geklüngel die latente Gefahr bestehen, in die letzte Stufe, nämlich die blanke Korruption hinüberzugleiten, ohne dass es jemand überhaupt bemerkt haben will. Man muss also immer und überall höllisch aufpassen.
Immerhin gibt es gegen Korruption anwendbare Gesetze, aber irgendwie sind mit der Anwendung alle ähnlich überfordert wie einst in und außerhalb des Römischen Reiches. Schon die alten Römer hielten sich selbst stets für etwas Besseres und Fortschrittlicheres als den Rest der Welt und so wurde dieser Rest gern als Barbaren bezeichnet. Einige wollen gerade darin den eigentlichen Grund für den Untergang des Römischen Reiches erkennen, weil Korruption nachweislich jede florierende Wirtschaft abwürgt. Die im Römischen Reich zum erfolgreichen Klüngeln notwendige Sklaverei wird deshalb als ein Beitrag sowohl zum Untergang als solchem als auch als eines der schwersten Symptome einer stark eingeschränkten Geisteshaltung gewertet. Zu den damaligen Barbaren zählten im Übrigen auch "die Germanen", im weitesten Sinne irgendwelche Stämme, deren vermeintliche Ableger sich nun in stets wachsender Zahl vorwiegend in ostdeutschen, aber auch versprengt in westdeutschen Städten zu Demonstrationen hinreißen lassen, in denen sie ihre Ressentiments gegen Wirtschaftsflüchtlinge sowie andere Glaubensrichtungen (als den eigenen), vorwiegend des Islams, freien Lauf lassen. Und auch hier ist man per Geburt etwas "Besseres". Auf einmal hört man in Deutschland wieder Ausdrücke wie "Neger" oder "Lügenpresse" durch die Straßen schallen, Ausdrücke die doch dank der sicher hier und da etwas nervigen Political-Correctness-Debatte endlich verschwunden waren, wodurch diese wenigstens einmal einen sinnvollen Beitrag geleistet hatte. Nun sind diese Verunglimpfungen auf einmal in Kreisen wieder salonfähig geworden, denen man bis dato deutlich mehr geistige Fähigkeiten unterstellt hatte. Offenbar ist man genau an dieser Stelle zu großzügig gewesen.
Es wundert deshalb, weil sich diese angeblich so bürgerlichen Kreise und Mittelschichtsvertreter in Ost und West bisher eher schweigsam verhielten, wenn es darum ging, sich überhaupt an irgendetwas Sinnvollem außerhalb des eigenen Berufs- und Privatlebens zu beteiligen und damit bisher kaum damit in Erscheinung traten, über den eigenen, ganz persönlichen Tellerrand hinaus zu sehen. Doch dem stark wachsenden Druck durch Arbeitsverdichtung, wachsender Bürokratie und Informationsflut, dem Anstieg prekärerer Arbeitsverhältnisse, kletternder Sozialbeiträge und steigender Bildungspanik sei Dank, rücken die Probleme nun auch immer näher an diese eigenen Tellerränder und an das ganz private Leben all jener heran, die sich bislang als noch ganz weit entfernt von diesem Rand der Gesellschaft vermuteten.
Somit handelt es sich zu einem Teil um ein klassisches Absetzungsproblem einer sich in Deutschland bis jetzt noch als stabil empfindenden Mittelschicht - und zwar nach unten: Man will partout nicht zu einem immer breiter werdenden Rand einer Gesellschaft gehören, die einige der dorthin Abgestellten bereits wie eine neue Feudalgesellschaft empfinden. Man will aber gleichzeitig auch unbedingt etwas Besseres sein - und wehrt sich nun mit Händen und Füßen dagegen, irgendwann doch an diesen Rand der Gesellschaft zu geraten. Mit welchen Argumenten?
Das ist schwierig herauszufinden in einer Bewegung, die lieber "Lügenpresse" brüllt, als sich in Interviews und Stellungnahmen zu ihrer Motiven und Zielen offen zu äußern. Wer stets nur die Anderen durchleuchten, selbst aber nie bei Licht betrachtet werden will, verhält sich folglich undurchsichtig und beansprucht bereits damit ganz exklusive Rechte nur für sich allein.
Was ist in solch einem Umfeld einfacher, als mit dem Finger immer nur auf die Anderen, und zwar auf diejenigen zu zeigen, denen es noch schlechter geht und sich darum noch viel besser für die Rolle der Ausgestoßenen eignen? Es ist kein neues, sondern ein altes, dankbares Feindbild, dem man die alleinige Schuld an der jüngsten gesellschaftlichen sowie der eigenen Misere zuweisen kann: Der asylsuchende Ausländer, am besten noch Muslim, der Deutschen und Europäern angeblich die Arbeitsplätze, die Renten und alles andere auch wegnehmen will. Und weil genau diesen Unsinn die Presse nicht druckt, schallen die Rufe der Pegida-Demonstranten durch die dazu passend dunkle Jahreszeit: "Lügenpresse!"
Schon einmal nach der Wende trieben die so genannten Montagsdemonstrationen bereits massenhaft Menschen vor allem in Ostdeutschland auf die Straße , um "Wir sind das Volk", den ehemaligen Ruf nach mehr Demokratie zu brüllen - und für eigene Zwecke zu verfremden. Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bescheinigte damals den Ostdeutschen deshalb allen Ernstes "ein tieferes Gerechtigkeitsempfinden" als den Westdeutschen. Wie falsch seine damalige Einschätzung gewesen ist, kann sich Herr Thierse nun jeden Montag in Dresden selbst ansehen.
Während die alten Montagsdemonstrationen wenigstens noch einen Körnchen Sinn beinhalteten, nämlich eine verständliche Verärgerung und bei einigen Teilnehmern sogar noch fundierte Kritik an den damals noch neuen Hartz-Gesetzen, entbehren die neuesten Montagsdemonstrationen inzwischen jeder vernünftigen Grundlage und offenbaren lediglich noch eine kleinkarierte Geisteshaltung nationalistischer Besitzstandswahrung. Nun geht es ganz offen ausschließlich nur noch um das eigene Wohlergehen (Stichwort: "Europäische Patrioten"), und um diffuse Ängste vor Anderen (Stichwort: "Islamisierung"), die dieses Wenige, was man jetzt noch selbst hat, künftig wegnehmen könnten. Dieses Denken spielte aber schon damals eine weitaus größere Rolle, als die meisten sehen wollten, nur traute sich noch niemand, ganz offen auf der Straße gegen Ausländer und andere Religionen zu hetzen.
Man meint, das eigene Hab und Gut gegen andere, noch ärmere Menschen, die in noch elenderen Verhältnissen und von noch prekäreren Jobs und noch kleineren Einkommen leben müssen, verteidigen zu müssen. Sicher, die Angst vor dem sozialen Abstieg und darin enthalten auch die nicht ganz unrichtige Vermutung, von einem immer löchriger werdenden Sozialstaat nicht mehr ausreichend versorgt zu werden, sind durchaus nachvollziehbar, denn diese Löcher im System haben nicht nur die seit Günter Wallraff ins Interesse der Öffentlichkeit Gerückten sehen können, die "ganz unten" sind, sondern werden nun immer mehr auch in der bisher noch gut situierten Mittelschicht immer spürbarer. Immerhin, so eine der Kritik des Politikwissenschaftlers Butterwegge, sei es dem Hartz-IV-System vollkommen egal, ob jemand 25 Jahre lang beschäftigt war und in die Sozialversicherungssysteme eingezahlt hat. Wer über ein Jahr lang arbeitslos ist, wird durch das Arbeitslosengeld II genauso an den Rand der Gesellschaft gedrängt wie jemand, der noch keinen einzigen Tage gearbeitet hat. Und inzwischen reicht für den totalen Absturz bereits eine einzige "falsche Bewegung": Der Verlust eines einzigen Arbeitsplatzes, eine einzige schwerere Krankheit, eine einzige Scheidung oder einfach das falsche Haus gekauft, schon das und Ähnliches kann ein ganzes Leben ruinieren - und sogar das der Kinder und Kindeskinder. So gut funktioniert dieses Deutschland also, dass es tatsächlich möglich ist, einen einzigen Fehltritt lebenslänglich bezahlen zu müssen, und es handelt sich schon lange nicht mehr um Einzelfälle. Soweit her kann es mit dem sozialen Netz dann natürlich auch nicht mehr sein. Und das muss geändert werden, das kann geändert werden, selbstverständlich. Einiges dazu wurde auch schon erreicht, aber es reicht immer noch nicht. Daran kann man arbeiten.
Nur ist die Schlussfolgerung der Pegida-Demonstranten aus diesem noch verständlichen Eindruck heraus, dem sozialen Druck von allen Seiten nicht mehr standhalten zu können, der eigentliche Fehler der ganzen Bewegung, nämlich nicht etwa an den Strukturen löchriger Systeme etwas zu ändern, die Forderungen an die Verantwortlichen zu adressieren, konstruktive Vorschläge zu machen oder andere sachdienliche Hinweise und Vorschläge zu unterbreiten, sondern man beschränkt sich von vornherein lediglich darauf, hohle Phrasen zu dreschen, ausgerechnet gegen jene, die angeblich noch mehr Fehler als nur einen (s.o.) gemacht haben, wie etwa den, im falschen Land geboren zu sein, in dem noch mehr als "nur" der gesellschaftliche Absturz, nämlich Hunger, Tod und Elend drohen. Auf die Idee, von solchen Menschen übervorteilt zu werden, muss man erst einmal kommen und sie hat etwas Zynisches. Offenbar ist man auch 25 Jahre nach der Wende immer noch der Meinung ist, der Staat habe ausschließlich für das "eigene Volk" zu sorgen und es zu bezahlen, und aus allem anderen solle er sich gefälligst heraushalten, als wäre der deutsche Staat eine Insel. Dass es so etwas wie eine globale Wirtschaft, gegenseitige Abhängigkeiten, internationale Beziehungen, Verpflichtungen, globale Zusammenarbeit etc. und darunter auch die humanitärer Art, gibt, scheint in einigen Teilen Deutschlands noch überhaupt nicht angekommen zu sein. Wie ist das möglich? Ist die innerdeutsche Grenze in den Köpfen etwa immer noch nicht abgetragen worden? Und wie viele Europa-Gegner aus West- und Ost-Deutschland mischen sich inzwischen jeden Montag unter die angeblichen "Europäischen Patrioten" und fordern das Abschotten Europas vom Rest der Welt?
Die Demonstranten äußern sich nicht dazu, wer das "wir" dort eigentlich sein soll und wer nicht, Offenbar sind damit aber all jene Barbaren gemeint, die man damals in der umzäunten DDR auch eher selten zu Gesicht bekommen hat und daran hat sich in einigen Teilen der ostdeutschen Gesellschaft bis heute erstaunlich wenig geändert. Das wiederum ruft die westdeutsche Variante auf den Plan, die das Schengener Abkommen am liebsten gleich wieder einstampfen würde. Die Folge ist ein Mischmasch aus kruden Forderungen, die sich alle gegenseitig widersprechen, ein einziger "Kessel Buntes", in dem es nicht eine einzige klare Position gibt.
Dass es zum Beispiel ein Fehler sein könnte, Menschen zu verunglimpfen, deren Anblick man schlicht nicht gewohnt war und dass es genauso ein hausgemachter Fehler ist, sich auch nicht im geringsten selbst anzustrengen, irgendetwas an einem veralteten Bild eines abgeschotteten Nationalstaates und damit an seinen eigenen, veralteten Gewohnheiten ändern zu wollen, auf die Idee ist in diesem "Kessel Buntes" wohl noch niemand gekommen. Dass man wegen der lächerlich wenigen Ausländer vor Ort in Ostdeutschland eigentlich auch gar nichts zu jammern hat, wenn aktuell 97 Prozent aller Ausländer in den westdeutschen Bundesländern leben, stört offenbar auch niemandem am selbstverliebten Bild des "Wir sind das Volk!"
Vor dem Hintergrund der Pegida-Demonstrationen sollten die Unterbringungsschlüssel tatsächlich geändert werden, um den Gewöhnungsprozess an Menschen anderer Herkunft zu erleichtern, zumal Zuwanderung trotz aller Proteste eher noch zu- als abnehmen wird, d.h. es handelt sich um Realitäten, die man nicht mehr umkehren, sondern lediglich steuern und gestalten kann und gerade einigen, durch Abwanderung inzwischen dünn besiedelten Gegenden in Ostdeutschland täte etwas mehr Zuzug von Familien mit Kindern durchaus gut.
Aber auch in Westdeutschland wurden seit einiger Zeit hinter vorgehaltener Hand herabwürdigende und diskriminierende Äußerungen gegenüber Ausländern wieder erstaunlich salonfähig. Nicht zuletzt in den vermeintlich besseren Kreisen, in denen so mancher Zeitgenosse bereits einen wachsenden Grad sozialer Verwahrlosung mit antidemokratischen Zügen verortete. Aktiv ist hier vor allem eine Generation, die den zweiten Weltkrieg, das Nazi-Regime, den Holocaust und dessen weitreichende Folgen nur noch aus Büchern und Filmen kennt und keinen Bezug mehr zu einem persönlichen Erleben von Volksverhetzung, Rassenhass und Verfolgung herstellen kann. Muss sich Geschichte etwa wiederholen? Oder wie erklärt man sich die Tatsache, dass auf einem immer leerer gefegten Lehrlingsmarkt lediglich diejenigen Bewerberinnen und Bewerber mit einem ausländischen Namen immer noch schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben als jene mit urdeutschen Namen?
Wer schon so ein handfestes Vorurteil wie das gegenüber einem schlichtem Namen nicht als solches erkennen will, der darf sich als blind genug auf beiden Augen bezeichnen, um eine Entwicklung so lange verschlafen und dieser zugewartet zu haben, bis sich diese bislang nur hinter vorgehaltener Hand tuschelnde, flüsternde und lästernde und ansonsten schweigende Masse nun auf die Straße in Marsch setzte und unbefleckt von jeder ernstzunehmenden Erkenntnis herumgrölt, Ausländer würden ihnen angeblich ihre Arbeitsplätze stehlen, aber haben sie keine, gleichzeitig die Sozialsysteme zum Einsturz bringen.
Dass die Sozialsysteme in der jüngeren Geschichte eher beinahe durch Ostrentner zum Einsturz gebracht worden wären, die nie oder kaum eine müde D-Mark oder einen Euro in die Rentenkassen eingezahlt hatten, will auf diesen Demonstrationen natürlich auch niemand hören und wahrhaben, weil diese Veranstaltung, die sich als "unschuldiges Opfer" von Überfremdung, Kapitalismus und Ausbeutung versteht, vor allem eines ist: zutiefst selbstgerecht und ignorant. Dass Millionen Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund, die Arbeitsplätze haben, massenhaft in die Sozialsysteme einzahlen, ist deshalb auch den meisten dort vollkommen entgangen.
Es sind exakt alle jungen und junggebliebenen, arbeitenden Menschen, und darunter In- und Ausländer, die alle diese Sozialleistungen bezahlen, die so mancher davon profitierende Ostdeutsche genauso gern wieder vor seine alten ostdeutschen Grenzen schieben würde, wie so mancher genauso davon profitierende Westdeutsche die Europäischen Außengrenzen am liebsten komplett umzäunen würde.
Vor den Ausländern, für die der Staat in den Augen mancher Demonstranten angeblich besser als für "die eigenen" Ostdeutschen sorgt, waren es die Westdeutschen, für die der Staat angeblich besser sorgte. Die Realität kann man u.a. in Wuppertal und Dortmund bestaunen. Und so richtet sich der Unmut auch gegen einen Staat, der angeblich das eigene Volk übervorteilt, indem er sich überhaupt um etwas anderes als die eigenen Provinzen kümmert.
Dass aber ohne Zuwanderung und Integration von Ausländern überhaupt kein Staat, kein Bundesland, keine Kommune und damit auch keine Provinz mehr zu erhalten und zu bewirtschaften ist und dass man die Mauer eben nicht mehr so einfach wieder hochziehen kann, um sich komplett vor sämtlicher Unbill der ganzen Welt abzuschotten, begreifen die von Abstiegsängsten Geplagten offenbar nicht, aber lassen sich zu gern etwas Anderes und Einfacheres einreden.
Weiterentwickelt hat sich die Argumentationskette dennoch: So haben die ostdeutschen Islamophoben inzwischen von den westdeutschen Islamophoben gelernt und damit die im Westen allen Demokratiebestrebungen zum Trotz herrschende Hackordnung inzwischen begriffen und dankbar übernommen. In dieser Hackordnung gibt es auf der sozialen Rangfolge-Treppe nach unten nämlich immer noch jemanden, der einen noch niedrigeren Rang bekleidet. Ganz unten rangieren zur Zeit offenbar mittellose Flüchtlinge muslimischen Glaubens. Den Platz teilen sie sich zwar inzwischen einigermaßen gleichwertig mit der "Lügenpresse", aber können von der Politik dennoch nicht viel erwarten, denn die steht bei den Demonstranten "ähnlich hoch" im Kurs.
So wurde ein Mann, der angesichts der Entstehung einer Flüchtlingsunterkunft in seinem Ort aufgeregt in die Kamera schrie "Wir sind das Volk - und ihr nich!" zum Sinnbild einer Bewegung, die irrationale Fremdenfeindlichkeit zum lediglich vermeintlich guten Ton erklärt und eine Ausgrenzungs-Demokratie betreibt, in der ausschließlich der so genannte "Bio-Deutsche" zum eigentlichen Volk gehörte, deshalb auch mehr zu sagen und mehr zu bekommen hätte als jeder andere, denn die gehörten ja angeblich alle nicht dazu.
Mit diesem dünnen Unterscheidungsmerkmal kann man getrost auf sozial (noch) Schwächeren herumhacken, aber genauso gut auch auf wirtschaftlich Stärkeren, als man vielleicht selbst dank Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter o.a. ist, als würden die sozialen Verhältnisse für Deutsche dadurch etwa besser. Und damit wird die nur allzu bekannte Neiddebatte wieder einmal durchs Dorf getrieben. Als wäre man etwa damit schon etwas Besseres, denn auch wer selbst arbeitslos ist oder aus anderen Gründen kein eigenes Einkommen hat und damit den Sozialsystemen zur Last fällt, ist zumindest kein Ausländer und kein Muslim. Die Frage solcher Hackordnungen bleibt indes immer dieselbe: Was erzählt man eigentlich dem Letzten in solch einer Reihe? Mit welchen Aufstiegschancen kann er rechnen, wenn diese von vornherein ausgeschlossen sind, weil er oder sie im falschen Land mit der falschen Religion und in der falschen Schicht geboren worden ist, wie zu den allerbesten Feudalherrschaftszeiten?
Das Gefühl, allein durch Herkunft etwas Besseres zu sein, wird durch das Zusammentreffen allein diesbzüglich Gleichgesinnter auf den Demonstrationen gestärkt, die sich ausgerechnet "Europäische Patrioten gegen eine Islamisierung" nennen, obwohl nur eine geringer Teil Muslime in Europa lebt und es keinen Grund gibt, diese als weniger zugehörig als andere zu definieren, warum auch? Nehmen islamisch geprägte Migranten dem Sozialsystem etwa Geld weg, das dann nicht mehr für deutsche christliche oder atheistische Arbeitslose zur Verfügung stünde? So lautet die Logik einiger der Teilnehmer der Pegida-Demonstrationen. Wer aber lediglich auf diejenigen in der Rangordnung unter einem Stehenden einhaut, macht gar nichts besser, im Gegenteil, dadurch wird der Kuchen weder größer noch kleiner, man positioniert sich lediglich innerhalb eines verbesserungbedürftigen Systems als der angeblich bessere Anspruchsberechtigte, aber verbessert an diesem System selbst gar nichts.
So mancher Muslim, mit Kindern und Kindeskindern in der Bundesrepublik Deutschland über mehrere Jahrzehnte ansässig, dürfte inzwischen deutlich mehr in die deutschen Sozialsysteme eingezahlt haben, als so mancher erst seit 25 Jahren daran teilnehmende Ostdeutsche. Statt sich aufzuraffen, um selbst etwas zur Verbesserung beizutragen, werden lieber alte Feindbilder bedient, ein gefundenes Fressen für Radikale. Nur, zu keinem einzigen Zeitpunkt wurden in Deutschland und Europa die Lebensverhältnisse der Menschen durch Rassismus und Ausgrenzung besser, sondern im Gegenteil, ausschließlich durch deren Überwindung sowie durch die richtige Adressierung von konkreten, berechtigten Forderungen.
Es ist sicher auch nachvollziehbar, dass sich jemand darüber aufregt, wenn der lokale "Weihnachtsmarkt" auf einmal in "Wintermarkt" unbenannt werden soll. Dabei werden bei solchem und ähnlichem Verwaltungs-Aktionismus die Vertreter von Religionen jedoch in schönster Regelmäßigkeit meistens gar nicht erst gefragt, abgesehen davon, dass es sich bei der wirklichen Geschichte zu diesem Vorfall auch um etwas ganz anderes handeln könnte. Bevor man auf die Straße geht, sollte man aber wenigstens einigermaßen wissen wofür und wogegen.
Der allgemeine Hang der Gegenwart zur Political Correctness ist zwar manchmal lästig und kann in seinen extremen Formen oder von allen Seiten betrieben durchaus dahin führen, andere mundtot machen zu wollen, aber es gibt genauso gewichtige Gegenströmungen im Land der Dichter und Denker, die sich eben nicht vorschreiben lassen wollen, was sie zu dichten und zu denken haben.
Vor allem aber muss man erst einmal erkennen, dass Ausländer als solche und auch (andere) Religionen als solche dafür eben nicht nur nicht verantwortlich sind, sondern selten überhaupt irgendetwas etwas dazu beigetragen haben, dass man sich über sie erzürnt - es sind höchstens einzelne Vertreter unterschiedlicher Strömungen, und selbst diese unterschiedlichen Strömungen wollen sich gar nicht immer von jenen vertreten lassen, die lediglich am lautesten brüllen. Nicht zuletzt gehörten "Wintermärkte" an Stelle von "Weihnachtsmärkten" und "geflügelte Jahresendzeitfiguren" an Stelle von "Engeln" einst zum DDR-Vokabular, das mit seiner sehr eigenen Wortwahl seinen Bürgern genauso auf den Geist ging, wie allen anderen auch. Aber diese Details zu entdecken, erfordert, sich an Diskussionen zu beteiligen, mitzureden und keine Angst vor Widerspruch zu haben, der für jede Demokratie so typisch ist wie das Gebet für jede Kirche. Ein gut gewähltes, einfach gestricktes Feindbild ist dagegen natürlich viel bequemer und wird deshalb viel dankbarer aufgenommen, denn, so haben alle Machiavellisten der Welt längst gelernt, es lenkt immer von den wirklich vorhandenen Problemen ab. Zumindest solange, bis diese Taktik durchschaut wird.
Wer die Taktik des einfachen Feindbildes anwendet und wer auf sie hereinfällt und sich einer bisher tunlichst schweigenden Mehrheit zugehörig fühlt, die sich ansonsten weder an sinnstiftenden Diskussionen noch an Wahlen beteiligen will, sondern sich gern alles von oben auf dem Silbertablett servieren lässt, braucht dringend Nachhilfe. Offenbar haben einige Vertreter der neuen Ausländerhetze einige grundlegende Kenntnisse über die Demokratie weitaus nötiger als diejenigen Zuwanderer, die auf der Flucht vor Extremisten in ihrem eigenen Land gerade wegen der Aussicht auf Demokratie hierher gekommen sind. Sie rechnen wohl kaum damit, dass sie hier einfach weiter wegen ihrer Religion und Herkunft verfolgt und ausgegrenzt werden, von Leuten, die sich, ähnlich wie diejenigen, vor denen sie einst flüchteten, nach einer Vorzugsbehandlung für ausschließlich bestimmte Bevölkerungs- und Religionsgruppen sehnen. Diese exklusive Sehnsucht beinhaltet den gleichzeitigen Ausschluss vorhandener Bevölkerungsgruppen. Sie entspricht damit einer reinen Interessensvertretung und purem Lobbyismus, deren Vorzugsbehandlung mit der Verfassung unvereinbar sein dürfte, die allen Bürger dieses Landes die gleichen unveräußerlichen demokratischen Rechte garantiert, und zwar auch Angehörigen muslimischen Glaubens, ob es den sich als etwas Besseres fühlenden christlichen und atheistischen Abendländern in Dresden nun passt oder nicht.
Während für all die neuen Ebenezer Scrooges als beste Medizin für diese ausgerechnet zur Weihnachtszeit 2014 in Erscheinung getretenen angeblichen Patrioten mindestens eine Woche lang ununterbrochen die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens verordnet werden sollte, dürfte das Bekanntwerden des Pegida-Gründers als einstigem "Lesereporter" einer großen Tageszeitung den ein oder anderen Anti-Islam-Demonstranten sicher zum Nachdenken anregen. Währendessen hat die deutsche Öffentlichkeit mit #Schneegida wenigstens ihren Humor wiedergefunden.
Die Bundespolitik muss sich derweil trotzdem die Frage gefallen lassen, warum es 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und 25 Jahre nach der Wende ausgerechnet jetzt in diesem Land wieder gesellschaftsfähig geworden ist, sich öffentlich derart menschenverachtend, zynisch und herablassend gegenüber Menschen anderer Staatsangehörigkeiten, Religionen und Hautfarben zu äußern - und was sie dagegen zu tun gedenkt.
2015-01-01, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
Foto + Foto-Banner: ©ap
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