von Juliane Beer
Eine Ärztin, die ein dunkles Geheimnis mit sich herumzutragen scheint. In Juliane Beers neuem Roman "Frau Dr. E. liebt die Abendsonne", der im März 2015 erschienen ist, geht es um den Umgang mit Mädchen und das unbedingte Gehorsamkeitsgebot für Töchter – gestern wie heute.
Ich zelebriere ebenfalls den Sommer.
Auch wenn meine Zeit in der kleinen Stadt nicht glücklich endete, werde ich viel später einmal über meinen 45. Frühsommer berichten, dass er von einem gewisser Zauber untermalt war.
Ausgerechnet hier?
Ja. Weil ich in den nächsten Wochen etwas begreifen würde.
Heute Abend aber sitze ich noch unwissend auf meinem Balkon, trinke ein Glas Rosé, hinter der Milchglas-Trennscheibe das aufgeregte Getuschel der Schwestern.
Unten im Ort gehen die Lichter an, Lampions, Gartenleuchten, auch mal ein Lagerfeuer am Strand. Gebäude heben sich gegen einen Himmel ab, der im sommerlichen Norden nicht dunkel werden will. Hier und da kommt leise Musik aus der kleinen Stadt zu uns hinauf. Brummen von Motoren, Lachen. Der heitere Teil des Jahres steht vor der Tür, und Menschen, denen es möglich ist, ihr Leben zu lieben, vergessen jetzt, was sie bedrückt.
Ich lasse mich anstecken von so viel Fröhlichkeit ringsherum, werde mich später gern erinnern, dass ich mir ebenfalls jemanden zum Liebling erkor.
Der junge Assistenzarzt war es, der mir zugeteilt wurde.
Wir werden so geschwind alt, dass die Wahrnehmung es manchmal nicht hinterher schafft. Ich kann noch immer nicht einschätzen, wie ich, jetzt eine reife Frau, auf junge Männer wirke; ich kann das Verhalten der jungen Männer mir gegenüber noch nicht deuten. In meinem Kopf hält sich das so lange gewohnte Bild von mir – erstaunter Blick, dazu das blauschwarze, glänzende Haar.
Ich wollte damals wie heute niemanden, der immer an meiner Seite ist, ich wollte lediglich schön sein, damit die Leute freundlich zu mir sind und Hemmungen haben, mich zu verletzen, und so verhielt es sich dann auch meistens.
Und in diesem Frühsommer? In diesem Frühsommer habe ich leise Angst davor, dass meine äußerliche Schönheit demnächst dahin gegangen ist. Wie schütze ich mich dann vor meinen Zeitgenossen?
Dies ist mein 45. Sommer, noch erkenne ich die, die da in den Spiegel schaut, und der Assistenzarzt und ich, wir sind ein drolliges Sommerpaar. Er, fast noch ein Junge, denkt womöglich an nichts anderes als an das, was die ältere Ärztin ihm beibringen kann, er wird sich so viel wie möglich von ihr abschauen wollen. Und gelernt hat zum Schluss auch sie.
Aber der Reihe nach.
Er geht mit ganz ernster Miene neben mir her, das Stethoskop um den Hals, in der Tasche des Arztkittels, den er noch nicht zu tragen gewohnt ist, sich deshalb linkisch darin bewegt, ein Blöckchen und Kugelschreiber, um sich jederzeit Notizen zu machen. Wie die meisten Assistenzärzt*innen hat sich mein Junge viel vorgenommen. Er möchte es besser machen als all die Generationen von kalt interessierten Psychiater*innen vor ihm, denen es in letzter Konsequenz nur um Macht ginge, und zwar um die höchste aller Mächte – um die Macht über die Gedanken und Gefühle anderer Menschen. Über dieses Fehlverhalten der Kolleg*innen kann er mit mir unbefangen sprechen, denn ich bin keine Psychiaterin. Ich, die Internistin, bringe meinem Jungen ganz gewissenhaft all das über Organe und Nervenfunktionen bei, was ich mir über Jahre hoch interessiert angelesen habe. So viel wie möglich möchte er wissen, um später alle Krankheitsauslöser in Betracht ziehen zu können, zum Wohle der Patient*innen. Ohne Allmachtsansprüche.
Ich werde von ihm bewundert, er gibt es freimütig zu, strahlt mich an, seine Augen funkeln. Eine Internistin, die einen grösstmöglichen Bogen um Tabletten und Spritzen macht, eine Ärztin, die erst einmal überlegt, ob alle natürlichen Methoden wie beispielsweise Schlaf, Entspannung oder Gespräche ausgeschöpft sind, das gefällt ihm offenkundig sehr.
Und er ist einer, der die Menschen ernst nehmen will, auch wenn sie sich noch so merkwürdig, gar gefährlich benehmen und äußern.
„Wir werden viele Menschen nicht verstehen“, sagt er dennoch. „Nie!“
Und er findet auch, dass Ärzt*innen, die von sich behaupteten, wahnsinniges Verhalten zu durchschauen und zu verstehen, selbst wahnsinnig seien. „Um nicht zu sagen: Sie sind selbst gestört und gehören in Behandlung!“, fügt er hinzu und lacht sonnig. Mehr noch: Wozu wir die Wahnsinnigen denn auch verstehen müssten?, fragt er mich. Wir wollten uns doch gar nicht in ihrer Welt aufhalten, oder? Sobald wir die Wahnsinnigen verstehen würden... fingen wir dann nicht automatisch an, mit ihnen zu kooperieren? Das aber sollten wir nicht. Wir müssten die Wahnsinnigen vielmehr in unsere Welt holen, diese aber vorher sehr gewissenhaft überprüfen. Das sei das Ziel, nichts sonst.
Nach diesem Maßstab will mein Junge arbeiten. Aber verstehen, nein, wirklich verstehen würden wir so viele nie, nicht die Wahnsinnigen und nicht die, die sich für normal halten.
Ich bin angetan von dem, was er da sagt. Er wird ein umsichtiger Arzt werden, einer, der sich seiner Fehlbarkeit bewusst ist und deshalb nicht aufhören wird, auch sich selbst immer wieder zu überprüfen. Wenn ich auch etwas skeptisch bin, ob er bei der Prüfung seiner Welt objektiv vorgehen kann. Er ist ein Mann. Seine Welt sieht anders aus, als die Welt einer Frau. Ist ihm das klar?
Er bejaht, als ich ihn danach frage. Es wäre ihm klar, natürlich, versichert er mir.
Ich denke dennoch, dass der blinde Fleck bleibt.
Aber womit er Recht hat: Unsere Zeitgenoss*innen werden wir nie restlos verstehen, nicht die vermeintlich Normalen, nicht die vermeintlich Irren. Und in der Männerwelt, zu der Frauen zu gehören, ist ein schwelendes Irre-sein. Warum gelingt es manchen Frauen, den Brand in Schach zu halten und anderen nicht? Wir werden es nicht verstehen.
Als ich gestern Morgen in mein Sprechzimmer kam, saß mein Junge bereits da, hatte uns Kaffee geholt, den Tisch aufgeräumt, das Fenster geöffnet. Pünktlich um sechs zur Frühschicht konnte er schon lächeln, sein warmes, unbeirrbares Wesen erfüllte den kleinen Raum.
Ich versuchte, mich zu sammeln – bin ich Schneewittchen, das die Menschen freundlich stimmen muss, damit sie ihr nichts antun oder bin ich eine erwachsene Ärztin, die keine Angst mehr zu haben braucht, und jetzt glücklich über die Gesellschaft eines jungen Mannes ist, der sortiert ausspricht, was ihr immer wieder ungeordnet durch den Kopf ging?
„Guten Morgen, Sie sind immer so pünktlich, das macht Sie mir noch sympathischer!“, sagte ich keck, während ich mich in die Rolle der erfahrenen Ärztin einfand. „Menschen fühlen sich geachtet, wenn man sie nicht warten lässt. Immer pünktlich zu sein, also Achtung vor dem anderen zu zeigen, ist eine gute Voraussetzung fürs medizinische Fach.“
Er strahlte mich an, schneeweiße kräftige Jungenzähne blitzten, es vergnügte ihn, von mir gelobt zu werde, und ich wusste plötzlich ganz genau, dass ich nicht mehr Schneewittchen bin, nie wieder sein werde. Ich bin die Ärztin, die ein Lob austeilen darf und dadurch erreichen kann, dass ein Mensch wie dieser bedachte junge Arzt sich wohl fühlt.
Das waren Sommerwochen! Ich spürte mich durch die Bewunderung meines Jungen von Tag zu Tag ruhiger und sicherer werden, und umgekehrt. Trifft man auf einen Menschen, der mit Verstand gesegnet ist, so glaubt und hofft man plötzlich wieder auf den Verstand der gesamten Menschheit.
Mein Junge redete ausführlich mit den Patient*innen, wollte wissen, wer genau sie nachts besuchte und bedrängte. Wir besprachen uns, ich versuchte zu ergründen, warum diese dämonischen Gestalten auftauchten, warum sie in unseren Patient*innen eine leichte Beute sahen.
„Wir werden nicht dahinter kommen, warum die Gespenster Einlass begehren!“, warf mein Junge jedes Mal ein, „beratschlagen wir also lieber, wie man diese unliebsamen Gäste loswerden kann, wie man es hinkriegt, ihnen die Tür nicht mehr zu öffnen.“
Er hatte bestimmt Recht.
Wir entwickelten ausgeklügelte Regieanweisungen, wie mit diesen Erscheinungen umzugehen sei, stellten klar, wo die Gespenster eigentlich hingehörten, wie man es bewerkstelligen konnte, sie in ihre düstere Welt zurückzuschicken und die Türen hinter ihnen zu schließen, ein für alle Mal.
Ich lernte hinzunehmen, dass es diese Ungeheuer gab. Wichtig war nur eins: sich vor ihnen zu schützen.
Einmal erzählte uns ein Patient, dem der Chefarzt eine schwere Borderlinestörung diagnostiziert hatte, der nach Meinung meines Jungen aber schizophren war, dass sein toter Bruder immer in seiner Nähe wäre. Wir besprachen uns darüber in meinem Büro. Ich gab meinem Junge zu bedenken, dass Schizophrene möglicherweise gar nicht verrückt wären, sondern lediglich über einen Sinn verfügten, der uns Normalen fehlte. Wer konnte endgültig sagen, dass dieser Bruder eine Halluzination war? Er war doch anwesend für den Patienten. Vielleicht wären wir diejenigen, denen etwas fehlte, nämlich der entscheidende Sinn.
Diese Überlegung hatten bereits andere vor mir angestellt. Auch mein Junge, wie er gestand. Aber so sehr ihm diese Idee auch gefiele, sie brächte weder uns noch die Hellsichtigen auch nur einen Schritt weiter. Wir hätten ja keine Möglichkeit, uns diesen fehlenden Sinn anzueignen und waren uns in der westlichen Welt deshalb darüber einig geworden, dass Tote nicht mehr körperlich anwesend sein konnten. Also müssten wir dem Sehenden beibringen, seinen Bruder entweder fortzuschicken oder aber uns Defizitären zu verschweigen, dass er da sei. Aber warum ein paar Menschen Tote sahen, die meisten Menschen aber nichtm könnten wir nach dem momentanen Stand der Wissenschaft noch nicht begreifen. Alle bisherigen Erklärungen dazu seien nichts als hilfloses Gerede.
Darauf konnten wir uns einigen.
Er wich kaum von meiner Seite, wollte mir jeden lästigen Handgriff abnehmen; abends saß er in meinem Büro am Schreibtisch und tippte gewissenhaft alles, was er den Tag über rasch notiert hatte, in seinen kleinen Computer, nicht ohne es vorher mit mir noch einmal genau durchzusprechen. Dann, wenn es an den Feierabend ging, ein zartes, verlegenes Aufblitzen in seinen Augen. Manchmal Erröten. Mein Junge rieb sich verlegen die Hände. Mein schöner Junge. Wenn wir schließlich nebeneinander durch die langen Irrenhausflure schritten stellte ich mir vor, wie es wäre, mit ihm irgendwo hinzugehen, wo wir ungestört wären. Plötzlich käme alles zu Tage, was ihn sonst noch ausmachte. Das Menschliche, Verlangende, Bedürftige.
Ich fürchtete mich davor.
Unten, vor der Kliniktür, verabschiedete ich meinen Jungen. Es durchzuckte ihn kurz, dann nahm er es hin.
Ich lernte viel in diesen Wochen.
Als das neue Semester in der medizinischen Hochschule begann, ging mein Junge zurück nach Lübeck.
Morgens kam ich ins Büro, in dem niemand auf mich wartete. Der leere Raum war ein so erschreckender Anblick, für einen Moment war ich bestürzt. Ich war ja ganz allein! Und das hier, für jeden sichtbar! Ich verspürte einen kurzen, heftigen Fluchtimpuls. Raus aus der Kleinstadt. Dann fiel mein Blick auf die Vase voller herrlicher Blumen, auf den Brief, in dem mein Junge sich in ungekünstelter Weise für die Wochen mit mir bedankte, ich fand mich wieder in der Wirklichkeit ein.
Ich war wehmütig, aber hoffte, endgültig zur Ärztin geworden zu sein.
Ich hatte begriffen, dass ich weiterhin hilflos bleiben würde, wenn ich nicht aufhörte zu glauben, die für verrückt oder nicht für verrückt Erklärten verstehen zu müssen.
Weiter Informationen zum Buch:
Frau Dr. E. liebt die Abendsonne
von Juliane Beer
ISBN: 978-3-944442-31-0
erschienen bei Marta Press
Erhältlich u.a. bei fem books
Erster Buchauszug aus dem gleichnamigen Roman: Frau Dr. E. liebt die Abendsonne
2015-07-01, Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Foto + Foto-Banner: ©aph
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