Interview zum 37. Geburtstag des Autonomen Frauenhauses in Lübeck mit Anke Kock
Die Fragen stellte Angelika Petrich-Hornetz
Wirtschaftswetter: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag des Autonomen Frauenhauses in Lübeck, Frau Kock. Wie lange gibt es Ihre Einrichtung und wie sind Sie auf die Idee gekommen, dort tätig zu werden?
Anke Kock: Das Autonome Frauenhaus wurde am 1. Juli 1978 in der Lübecker Altstadt eröffnet. Damals hatten sieben Frauen die Idee, nach dem Londoner Vorbild auch in Lübeck Frauen (und Kindern), die von Gewalt bedroht oder betroffen waren, Unterkunft und Unterstützung zu bieten. Ich stieß erst zwei Jahre später zum Team, als ich im Rahmen meines Studiums der Sozialarbeit ein Praktikum suchte. Damals bewegte mich die Frage, was veranlasst die Frauen, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen und den Mann zu verlassen? Woher bekommen sie schließlich den Mut und die Kraft zum Widerstand? Hinzu kommt, dass ich an einer Arbeit interessiert war und auch noch bin, die die gesellschaftspolitischen Verhältnisse kritisch in den Blick nimmt.
Wirtschaftswetter: Gab es Höhepunkte und Tiefpunkte in der Geschichte des Hauses, und wie haben Sie diese erlebt?
Anke Kock: Die Arbeit in einem Autonomen Frauenhaus gleicht gelegentlich einer Achterbahnfahrt und die Höhen und Tiefen gehören einfach dazu. Zu den Höhepunkten zählen sicherlich die vielen Erfolge, die Frauen für sich und ihre Kinder vom Frauenhaus aus erkämpft haben. Sei es eine eigene Wohnung, die Trennung vom gewalttätigen Ehemann/Partner, das Gelingen der Erziehung der Söhne und Töchter - und nicht selten auch der Start einer beruflichen Laufbahn oder ein positiver Ausgang des Asylantrags.
Im politischen Feld gab es auch einen steten, wenn auch sehr schleppenden Wandel in eine Finanzierung der Arbeit mit gesetzlicher Grundlage und festen Budgets ohne Berichtswesen über die Bewohnerinnen. Dies stellt eine große gesellschaftliche Anerkennung der Notwendigkeit von Frauenhäusern dar, ohne Wenn und Aber.
Vor ziemlich genau 38 Jahren hieß es in Lübeck indes noch, ein Frauenhaus sei nicht notwendig, da es in dieser Stadt keine Gewalt gegen Frauen gäbe.
Tiefstpunkte in der Arbeit sind, wenn auf Frauen durch die Ex-Partner Mord- oder Tötungsversuche verübt werden. Dann bleibt die Zeit stehen - und wir alle versuchen, die Erschütterung langsam und vorsichtig in neue Kraft umzuwandeln. Ähnlich ratlos macht mich manchmal die politische Ignoranz, die sich zum Beispiel in dem Satz äußert: „Wolltet Ihr nicht die Gewalt abschaffen, das habt Ihr aber nicht erreicht.“
Auch finanzielle Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich tun weh und taten es bereits in der Vergangenheit.
Seit 1978 haben sich einige Gesetze geändert: 1995 wurde Gewalt gegen Frauen zu einer Menschenrechtsverletzung erklärt. Im gleichen Jahrzehnt wurde die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt und seit 2002 gibt es das sogenannte Gewaltschutzgesetz, außerdem haben auch Kinder und Jugendliche endlich ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.
Beglückend sind die Momente, wenn die Frauenhausbewohnerinnen mit uns in Aktion treten, wie zum Beispiel 1989, als sie ein leer stehendes Haus besetzten. Oder 1999, als die Frauen in ihren Heimatländern nach Frauenhäusern forschten. Auch 2008 werde ich nicht vergessen, als wir die erste internationale Bewohnerinnenkonferenz im Lübecker Rathaus abhielten und dabei auch zwei Pakistanerinnen willkommen heißen konnten. Jedes Jahr hat seine Höhepunkte.
Wirtschaftswetter: Welche aktuellen Projekte des Frauenhauses liegen Ihnen derzeit besonders am Herzen?
Anke Kock: Zurzeit liegen wir im Endspurt mit der Renovierung des Hauses sowie der Neueinrichtung. Und so freuen wir uns auf das Gartenfest am 3. Juli 2015, zu dem viele ehemalige Bewohnerinnen kommen werden und natürlich auch die Sponsoren, die Spenderinnen sowie viele Kollegen und Kolleginnen von der Polizei, den Schulen, dem Jugend- und dem Arbeitsamt u.a.
Dann heißt es erst einmal tief durchatmen und schon starten wir mit meinem Lieblingsprojekt, und zwar um die Sommerferien für elf Tage in Schweden zu verbringen, mit Töchtern und Söhnen, die im Frauenhaus leb(t)en. Diese Ferien in der schwedischen Einsamkeit sind einfach, erlebnisvoll und einmalig.
Wer es sich nicht so recht vorstellen kann, was so ein Ferienerlebnis in der Kindheit bedeutet, ihm oder ihr möchten wir demnächst mit einem Dokumentarfilm einen Einblick vermitteln. Reisen bildet, ich denke, dass das unumstritten ist, aber Mädchen und Jungen, die häusliche Gewalt erlebt haben, sind oft unsicher und eingeschüchtert - in den Ferien können sie wachsen.
Ich erhoffe mir von dem Film, dass er vielen die Augen öffnen wird, um zu sehen, wie wichtig diese ganz eigenen Lebenserfahrungen sind. Auch den Pädagoginnen und Lehrern möchte ich gern die besondere Bedeutung der Gruppenfahrten ans Herz legen. Deshalb habe ich mit Marius Wawer - heute Regisseur und vor zwanzig Jahren ein Frauenhauskind - zwei Jahre lang immer wieder zusammengehockt und über den Film gesprochen und jetzt soll es endlich losgehen. Über weitere Spenden würden wir uns natürlich sehr, sehr freuen, denn es fehlen leider aktuell noch etwa sechstausend Euro für dieses wichtige Projekt.
Wirtschaftswetter: Ist es eine Besonderheit, dass Lübeck gleich zwei Frauenhäuser hat - und arbeiten die Frauenhäuser im Bundesgebiet eigentlich zusammen?
Vielleicht ist es eine Besonderheit, mehr noch ist es eine Notwendigkeit, da die Häuser, nicht nur in Lübeck, sondern bundesweit nicht immer genügend Kapazitäten haben, um allen Schutz suchenden Frauen ein Bett und ein Dach über dem Kopf zu geben.
Am 2. Juli 2015 wird es eine Demonstration der Frauenhausvertreterinnen in Berlin anlässlich der Konferenz der Gleichstellungsminister_Innen geben. Hieran wird deutlich, dass es natürlich eine Kooperation gibt. Es gibt auch einen starken politischen Zusammenhalt der Frauenhäuser und die Vernetzung ist sowohl regional als auch national.
In diesem Jahr wird auch die Weltkonferenz der Frauenhäuser ganz in unserer Nähe, nämlich in Den Haag stattfinden. Wir vom Autonomen Frauenhaus Lübeck pflegen außerdem Kontakte nach Pakistan, Polen, in die Türkei und die USA und von Schweden bis Island. Der Blick über den Tellerrand fördert besonders die Weiterentwicklung unserer Arbeit.
Wirtschaftswetter: Trotz aller Gesetze, Maßnahmen und politischen Bekenntnisse hat auch in Deutschland Gewalt gegen Frauen nie aufgehört. Hat sich aus Ihrer Sicht in den vergangen 37 Jahren daran etwas geändert, etwa bei der Häufigkeit oder den Formen der Gewalt gegen Frauen?
Anke Kock: Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, denn heute verlassen die Frauen in der Regel eine Misshandlungsbeziehung zeitlich betrachtet früher als noch vor dreißig Jahren und so kann ich nicht sagen, ob es grundsätzlich mehr oder weniger Gewalt gibt. Dass aber die Gewalt intensiver geworden ist, muss ich leider feststellen. Unter anderem mache ich dafür auch eine Krieg führende Politik mitverantwortlich. U.a. Männer als Soldaten im Einsatz, die nach der Rückkehr in die Familie eigentlich selbstverständliche Unterstützungs- bzw. Therapieangebote dann nicht erhalten oder wahrnehmen, sind gefährdet, gewalttätig zu werden. Kriege zu erleben, auf der Flucht zu sein - das sind traumatisierende Erfahrungen. Auch das Leben in beengten Wohnverhältnissen, was für viele Familien inzwischen wieder Alltag ist, begünstigt Gewalt. Eine Rückläufigkeit der Intensität oder der Häufigkeit von Misshandlung, vermute ich, ist nicht gegeben.
Wirtschaftswetter: Seit mehr als zehn Jahren ist das Gewaltschutzgesetz in Kraft, das bei akuter häuslicher Gewalt dafür sorgt, dass der Aggressor die gemeinsame Wohnung verlassen muss. Seitdem ist die Zahl der Frauenhäuser in Deutschland zurückgegangen. Warum bleiben Frauenhäuser trotzdem notwendig?
Anke Kock: Vielen Dank für diese Frage, denn die Zahl der Frauenhäuser ist zurückgegangen, weil der politische Rotstift den Strich durch die Rechnung gemacht hat und nicht, weil es ein Gewaltschutzgesetz gibt. Das Gewaltschutzgesetz nehmen andere Frauen in Anspruch. Es sind Frauen, die sich noch trauen, den gewalttätigen Mann immer wieder wegzuschicken bzw. (jedes Mal) die Polizei zu rufen, damit diese den Mann dann auffordert zu gehen. Es sind auch diejenigen Frauen, die ausdrücklich in der Wohnung bleiben möchten. Die Frauen, die ins Frauenhaus flüchten, wollen zumeist nicht mehr in die Wohnung zurück; dort haben sie zu viel Bedrückendes und Traumatisierendes erlebt. Diese Frauen hätten auch nicht die Kraft, den drohenden Mann in die Schranken zu weisen.
Wirtschaftswetter: Welche Unterstützung können Sie Frauen und auch Kindern im Frauenhaus konkret anbieten? Und wie geht es für die Frauen und Kinder weiter, wenn sie das Frauenhaus verlassen?
Anke Kock: „Jede Frau ist ein Original und Originale sind kostbar“, mit diesem Zitat schloss ein kleines Video, das wir 1995 gemacht haben. Jede Frau wird im Frauenhaus beraten und jede Tochter/jeder Sohn erhält ebenso eine unterstützende Mitarbeiterin. Der Aufenthalt im Frauenhaus ist der erste Schritt auf der Erfolgsleiter nach oben, die anschließenden Wege können sehr verschieden sein. Alle Themen sind wichtig: die erfahrene Gewalt, die gesundheitliche Situation, die wirtschaftliche Lage, die rechtlichen Schritte, die Sicherheit und deren Bedrohung, das Verhältnis der Kinder zur Mutter, zum Vater, die persönlichen Ziele, die schulische und/oder berufliche Situation, das soziale Netz, die Versorgung der Kinder, die Freizeitgestaltung. Alles sind Themen, die eine Rolle spielen. Außerdem, neben den Beratungsangeboten, auch immer wieder: das Zusammenleben und Wohnen im Frauenhaus mit dreißig bis vierzig Personen.
Neben der Beratung ist es genauso wichtig, Zeit zu haben, um einfach miteinander zu leben, zu kochen, herumzualbern, zu diskutieren, Konflikte zu besprechen, schwimmen zu gehen, Geburtstage, Bayram oder Weihnachten zu feiern - gemeinsame Aktionen zu starten, eine Demonstration, eine Spendenübergabe, einen WenDo-Kursus zu besuchen oder ins Theater zu gehen. Das sind eben nicht nur bewegende Momente, sondern auch ganz wichtige Weichen zur Veränderung, die in eine neue Richtung weisen.
Nach so einer intensiven Zeit im Frauenhaus ziehen die Frauen und Kinder dann oft mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus - und sie möchten auch nicht so ganz den Kontakt verlieren. Sie können bis zu vier Monate nach ihrem Auszug, jederzeit ins Haus zu Besuch kommen. Bei einzelnen Frauen verlängern wir auch die Beratungsangebote, schließlich finden die Frauen, ihre Töchter und Söhne aber ihren Weg und wir begegnen uns noch auf Festen oder anderen Veranstaltungen. Dann wird in Erinnerungen geschwelgt, denn fast jede Frau betrachtet ihren Aufenthalt im Haus im Nachhinein als eine ganz besonders bedeutungsvolle Zeit.
Wirtschaftswetter: Wie gehen Sie und die Mitarbeiterinnen mit den sicher anspruchsvollen Anforderungen Ihrer Arbeit um? Suchen Sie in der Freizeit bewusst Ausgleich, hat man als Mitarbeiterin eines Frauenhauses überhaupt Freizeit?
Anke Kock: Ob und wie anspruchsvoll diese Anforderung ist, wird jede Kollegin möglicherweise anders beantworten. Ich empfinde meine Arbeit als eine Herausforderung, der ich mich gerne täglich und immer wieder neu stelle. Gleichzeitig wäre ich den Herausforderungen in anderen Bereichen, zum Beispiel als Bäckerin nicht einmal halb so gut gewachsen. Das Arbeiten gegen Gewalt und die Haltung, dass Gewaltverzicht eine Lebenseinstellung ist, gibt mir Kraft und Energie. Ich erlebe es durchaus als Privileg, mit dieser Arbeit mein Geld verdienen zu können, das ist nicht überall selbstverständlich. Hieß es nicht einmal „das Private ist politisch“? Deshalb trenne ich gar nicht so sehr zwischen meinen beruflichen und meinen privaten Aufgaben. Da ich kulturell sehr interessiert bin, habe ich wiederum auch hier die besten Möglichkeiten, beispielsweise der strukturellen Gewalt auf der Spur zu sein und gleichzeitig mittels Kultur die Frauenhausarbeit/die Menschenrechte ins Rampenlicht zu stellen.
Wirtschaftswetter: Was wünschen Sie dem Frauenhaus für die nächsten 37 Jahre?
Anke Kock: Weiter wirksam zu sein!
Weitere Informationen:
Autonomes Frauenhaus Lübeck
2015-07-01, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz und Gesprächspartnerin Anke Kock
Schlussredaktion: Ellen Heidböhmer
Foto + Foto-Banner: ©aph
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