von Angelika Petrich-Hornetz
Zwei Kinderbücher* , veröffentlicht im Abstand von etwa zwanzig Jahren. Das erste handelt von einer klassischen Alleinerziehenden-Familie, die aus einer Mutter und in diesem Fall einem Sohn besteht. Die Geschichte beschreibt zunächst ihren vergleichsweise normalen Alltag, mit dem die Protagonisten trotz der üblichen Problemchen nach der Trennung der Eltern inzwischen ganz gut leben können. Spannung kommt in der Geschichte in dem Moment auf, als die Mutter einen neuen Mann kennenlernt, er wird ihr Partner, und der Junge reagiert mit einer nicht untypischen Ablehnung. Mit ein paar anderen Kindern gründet er eine Bande, deren Ziel es sein wird, "den Neuen" möglichst schnell wieder loszuwerden. Das führt zunächst zu einigen lustigen, aber später auch zu dramatischen Szenen, die eine Wendung und Entwicklung anstoßen. Das Ende bleibt zwar offen, die Aussichten auf die weitere Entwicklung sind jedoch versöhnlich und optimistisch. Alle Personen in dem Buch haben sich am Ende durch das Erlebte verändert, besonders der Junge. Die Protagonisten können erst durch den Konflikt die Sichtweisen ihrer Mitmenschen verstehen und die Welt damit folglich auch mit anderen Augen sehen.
Das Buch ist damit eine ganz typische Geschichte aus den 80er, 90er Jahren: Der Alltag der Hauptfigur wird nachvollziehbar dargestellt, junge Leser finden sich nach einer Trennung ihrer Eltern auch in der Realität zu Hauf in ganz ähnlichen Situationen wieder, eine zeitlose Geschichte. Sie können sich in den direkt betroffenen Helden und/oder in die nicht direkt betroffenen Nebenpersonen, z.B. die Bandenmitglieder hineinversetzen, ebenso in die beschriebenen Aktivitäten, Situationen und Gefühle und damit die Geschichte der Handelnden verstehen. Es würde nicht besonders ungewöhnlich sein, so etwas tatsächlich auch selbst zu erleben.
Die zweite Hauptperson der Geschichte, die alleinerziehende Mutter arbeitet, ebenfalls ganz typisch, in einem wenig außergewöhnlichem Beruf, als Laborantin in einem großen Krankenhaus in der Stadt, in der sie mit ihrem Sohn lebt. Auch das wird realistisch dargestellt, ein Job, der eine Ausbildung und ein gewisses Können verlangt, der manchmal zwar etwas eintönig ist, andererseits für das Auskommen der kleinen Familie sorgt, weil sich der Arbeitsplatz vor allem ganz gut mit dem Kind vereinbaren lässt. Auch diese Schilderungen und damit die Umstände, in der die Personen in diesem Buch leben, stellen auch im echten Leben vorhandene Realitäten vieler alleinerziehender Mütter und Kinder dar, und zwar bis in die Gegenwart hinein. Das Buch ist übrigens von 1989.
Ganz anders das Kinderbuch aus dem Jahr 2008. Hier wird die Geschichte aus der Sicht des Kindes, eines Jungen, erzählt der sich selbst als "tiefbegabt" bezeichnet. Seine Gedanken rotieren manchmal "wie Billardkugeln im Kopf" durcheinander, beschreibt er einen offenbar unabänderlichen Zustand, mit dem er sich abgefunden hat und in dessen Grenzen er sich bewegt. Er findet in der Geschichte einen hochbegabten Freund, und gemeinsam erleben sie, direkt vor ihrer Haustür ein unglaubliches Abenteuer. Der "Tiefbegabte" kommt einer immer fantastischer werdenden Entführungsstory auf die Spur, irgendwann auch dem Täter, womit er gleichzeitig seinen Freund befreit, der, so wird es beschrieben, durch seine Hochbegabung verursacht, äußerst ängstlich ist. Die Mutter des Helden heißt Tanja und arbeitet als Nachtclub-Tänzerin. Offenbar zählt auch sie nicht zu den Hochbegabten, neben ihrem Job sind auch ihre Angewohnheiten ganze besondere und eine ihrer größten Sorgen besteht darin, eines Tages Hängebrüste zu bekommen.
Man kann diese beiden Kinderbücher auch einfach als zwei Universen nebeneinander stehen lassen, inklusive der so unterschiedlichen Figuren. Es mag vielleicht ganz normale Kinder, die bei einem Elternteil leben, als auch ganz besondere Kinder geben, die bei einem Elternteil leben, aber seltsamere Dinge erleben als andere, weil das Anderssein in ihnen selbst begründet ist, so wie es in diesem Kinderbuch jüngeren Datums ausführlich geschildert wird, aber das Ausmaß der unveränderbaren Charaktere fällt schon ziemlich deutlich aus. Während das erste Buch beschreibt, wie ein Konflikt in einem zuvor ganz normalen Leben eine Entwicklung anstößt, aus der am Ende alle verändert hervorgehen, und den Leser dazu bringt, sich in die Personen hineinzuversetzen sowie Vergleiche mit der eigenen Realität anzustellen, führt die zweite Geschichte die handelnden Personen trotz Ich-Perspektive lediglich vor. Der Leser kann sich mit den Figuren dieses spektakulären Mikrokosmos kaum vergleichen oder in diesen hineinversetzen, sondern "schaut" deshalb je nach Szene mehr oder weniger amüsiert einfach nur noch zu, wie die Protagonisten denken und handeln, und die Menge der daraus resuliterenden Ereignisse ist beachtlich.
Am Ende sind die beiden Protagonisten immer noch genauso begabt, wie sie es am Anfang der Geschichte bereits waren. Der Blickwinkel bleibt derselbe. Auch wenn sich zwischen ihnen immerhin der Beginn einer Freundschaft abzeichnet (die in den nächsten Folgen sicher noch ausgebaut wird) , kann man die Figuren, freundlich ausgedrückt höchstens so deuten, dass sie sich in der Geschichte eben stets selbst treu geblieben sind. Realistisch ist so viel Unveränderlichkeit in dem Alter aber wohl kaum. Ähnlich unveränderlich konstruiert verbleibt die Figur der Mutter - im Gegensatz zur anderen - in ihrem ganz eigenen Kosmos waltend stehen, die als junge, herzensgute, ihren Sohn immer bestärkende, wenn auch etwas naive Frau beschrieben wird, die manchmal komische Einfälle hat und wegen ihrerNachtarbeit, tagsüber eben auch mal schlafen muss. Die Figuren werden so bildlich beschrieben, als wäre es ein Drehbuch, so dass die inzwischen laufenden Fortsetzungen und Verfilmungen voraussehbar waren, auf solche plakativen Bilder springen Medien einfach an.
Am echten Leben der Masse alleinerziehender Mütter und Kinder scheint sich die Geschichte dagegen deutlich weniger orientiert zu haben. Zwar werden die Begrifflichkeiten bemüht und deren Bilder im Stakkato vorgeführt, die inzwischen mit Kindheit als solcher verbunden werden, als gehörten sie ganz selbstverständlich dazu - vorgestellt werden prekäre Verhältnisse, ein Krimineller, ADS, Hochbegabung, eine alleinerziehende Mutter, die in einer Bar arbeitet, aber damit bedienen diese Bilder eben auch nur sämtliche aktuelle Klischees.
Besonders deutlich wird dies in den Rollen der alleinerziehenden Mütter, und deren "Jobwechsel" vom Labor (1989) zur Bar (2008), der allerdings auch dem tatsächlich erfolgtem Wechsel der Vorstellungen in den Köpfen vieler Zeitgenossen entspricht. Ist die eine Mutter eine ganz normale, seriöse Angestellte, etwas, das in der Realität auch tatsächlich tausendfach vorkommt, die mit all den Sorgen, Nöten und Freuden, die dieses Leben so hat, gesegnet ist, ist die andere, neue Alleinerziehende nun das absolute Gegenteil davon, eine überzeichnete Exotin, die Schwierigkeiten hat, mit sich selbst zurecht zu kommen, als Nachtclub-Tänzerin arbeitet, deshalb tagsüber stundenlang schläft. Offenbar kann sie auch nicht kochen und tischt deshalb ihrem Nachwuchs vorzugsweise Fastfood auf und überlässt ihren Sohn gern auch mal tagelang sich selbst oder irgendwelchen Nachbarn.
Dies entspricht durchaus einem auch im wirklichen Leben wieder vorhandenem Image. Alleinerziehend zu sein, hat im Gegensatz zu den 80er und 90er Jahren interessanterweise wieder etwas Anrüchiges. Es wird damit nicht selten wieder das Stigma von Versagen und Unfähigkeit verbunden, das in der Person der alleinerziehenden Frau selbst verortet wird, zuletzt war das übrigens in den 50er und 60er Jahren der Fall. Dazwischen hätten es sich die berufstätigen Mütter wahrscheinlich verbeten, sich ihren redlichen, durch Job und Kinder hart getakteten Alltag zum Wohle von Rentenkassen und Bruttosozialprodukt ausgerechnet als Versagen vorhalten zu lassen. Aber auch hier hat sich das Bild der alleinerziehenden Mutter in den Köpfen von Außenstehenden mittlerweile beträchtlich verändert. Und so würde die solchen Vorstellungen ausgesetzte, Alleinerziehende, die 1989 noch arbeiten und kochen konnte zwanzig Jahre später einfach nicht mehr in die für sie in der Gegenwart nun vorgesehene Rolle passen.
Am Ende erbt die neue Figur oder Karrikatur einer alleinerziehenden Mutter sogar noch ein kleines Vermögen. Ein plötzliches Glück, die vielen Ereignisse und die ganze fantastische Kriminalgeschichte obendrauf, die die unabänderlich Begabten erleben, hat zwar wenig mit der Wirklichkeit in Alleinerziehenden-Haushalten zu tun, entspricht dem herrschenden Zeitgeist von Casting-Shows, dicker Schminke und Selfies aber viel mehr, als das noch Ende des vergangenen Jahrhunderts vorhandene Rollenbild einer Alleinerziehenden als der einer schwer arbeitenden Alltagskönnerin, die sich wie ein Fels in der Brandung gemeinsam mit ihrem Kind durch die üblichen Krisen und Probleme kämpft, die jedes Leben mit sich bringt.
Der "normale" Junge in dem älteren Kinderbuch erlebt für seine Leser so auch nachvollziehbare Wutanfälle und Ängste. Es handelt sich dabei keineswegs um Symptome irgendeiner schon immer vorhandenen, und für alle Zukunft unveränderbaren Störung, wie in dem zwanzig Jahre jüngeren Kinderbuch, sondern um verständliche Reaktionen auf ein Umfeld, das dem Protagonisten schwere, aber nicht unlösbare Probleme bereitet und damit in der Tat einiges abverlangt. Das Buch vermittelt, dass Konfliktsituationen real und auch die sie auslösenden heftigen Gefühle angemessen sein können, weil sie zum Leben, insbesondere von heranwachsenden Kindern und Jugendlichen gehören. Daraus folgt am Ende ein Optimismus, dass sich auch ernsthafte Probleme und äußerst verfahrene Situationen durchaus lösen lassen.
In der zweiten Geschichte dagegen stehen die unumstößlichen Störungen der Haupt- und Nebenfiguren im Vordergrund, auf der anderen Seite ebensolche unveränderbaren Begabungen, die sich als genauso statisch erweisen, es also weder einen bedeutenden Fortschritt, eine Entwicklung, noch eine (Auf-)Lösung geben wird. Die Störungen und Begabungen sind im Alltag sich aneinander reihender Ereignisse zudem so hinderlich, dass sie zum Dauerstörfeuer geraten und regelmäßig für neue Probleme sorgen oder in aufregende, außergewöhnliche Geschehnisse führen - womit die so dauerhaft Außergewöhnlichen zumindest in ihren fantastischen Abenteuern durchaus einige Fähigkeiten entwickeln, die allerdings in der jeweiligen Situation gebunden verharren.
Werbung + Info - *die Bücher:
"Jeder Trick erlaubt"
von Eva Polak
1989 erschienen
"Rico, Oskar und die Tieferschatten"
von Andreas Steinhöfel
2008 erschienen
2015-07-01, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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