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1980er-Jahre in Neukölln

Buchauszug aus: Juliane Beer, Kreuzkölln Superprovisorium, Frankfurt a.M. 2013

von Juliane Beer

Sams erste eigene Berliner Wohnung lag im Bezirk Neukölln zwischen Weichselstraße und Weigandufer. Die Hausmeisterfamilie stammte aus der Türkei, ihre Arbeitsteilung war klassisch. Frau Ceylan war für die Sauberkeit von Treppenhaus und Hof zuständig, Herr Ceylan und seine beiden Söhne reparierten und installierten.

„Wenn es Probleme gibt, kommst du zu uns“ instruierte der ältere der Jungs Sam bei ihrem ersten Zusammentreffen am Fahrradschuppen, „parterre links!“ Er deutete zum Hinterhaus, fügte hinzu: „Jederzeit, auch nachts!“

Einmal klingelte Sam tatsächlich. Sie musste die Familie behelligen, weil Wasser aus einem defekten Hauptrohr im hohen Bogen durch ihr Badezimmer spritzte. Zwar passierte das Malheur glücklicherweise nicht mitten in der Nacht, aber immerhin während der Abendessenszeit. Da die Hausverwaltung lediglich zweimal die Woche eine telefonische Sprechstunde anbot, und selbst dann nur ein Band lief, das einen aufforderte, in Notfällen die Feuerwehr zu rufen und alles sonstige schriftlich darzulegen und an ein obskures Postfach außerhalb von Berlin zu senden, entschied sich Sam also nach einigem Zögern für die Hausmeisterfamilie, denn von besagtem Postfach erhielt man nie eine Rückmeldung, nicht einmal aus Versehen.

Sam versuchte es zunächst auf gut Glück an einer der beiden Türen Hinterhaus parterre, denn sie konnte rechts und links nicht auseinander halten, und Namensschilder gab es keine. Sie erwischte die falsche Wohnung; wie die meisten anderen Wohnungen im Haus stand die leer, sah man von dem Gerümpel ab, das aus dem Flur quoll. Die Etagentür war nur angelehnt, wie Sam schnell feststellte, und ließ sich auch nicht mehr schließen. Zwischen den Bodendielen vorne im Eingangsbereich wuchs Farn und Moos. Gut, dann gegenüber. Als dort geöffnet wurde begriff Sam, dass sie beim Essen oder zumindest bei den Vorbereitungen dazu störte. Köstlicher Duft zog aus Richtung Küche in den Hausflur.

Verlegen und unter großen Entschuldigungen skizzierte sie die Angelegenheit mit dem undichten Rohr; man versicherte ihr sogleich, dass sie überhaupt nicht ungelegen käme. Offenbar war Familie Ceylan Tag und Nacht auf derartige Überfälle vorbereitet. Beide Söhne kamen mit an den Ort des Unglücks, bewaffnet mit einer Plastiktüte und einer Rolle Paketband. Damit erstellte der jüngere eine Art Druckverband um das gebrochene Rohr, worauf das Wasser nicht mehr ins Badezimmer spritzte sondern nur noch träufelte. Der ältere telefonierte derweil einen Notdienst herbei, was Sam eigentlich auch hätte einfallen können.

Während sich wenig später der Klempner an dem Rohr zu schaffen machte, wurde Sam mit an den Abendbrottisch der Ceylans gebeten. Der Anblick des üppigen Mahls auf dem Tisch verwirrte sie. Auch derart prächtige Teppiche an den Wänden hatte Sam in einer Neuköllner Parterrewohnung nicht erwartet. Einen Augenblick zog sie die Möglichkeiten in Betracht bei reichen Orientalen zu Gast zu sein, die sich aus Exzentrik in einem fast leerstehenden Hinterhaus eine Märchenwohnung wie aus Tausend und einer Nacht eingerichtete hatten. An einem ganz gewöhnlichen Wochentag ohne Anlass, wie die Familie versicherte, stand hier ein Essen wie beim Großkalifen auf dem Tisch: Platten mit gegrilltem Fleisch und Gemüse, Schalen mit Salaten, ein Teller gefüllter Weinblätter, dazu Fladenbrote, ein Laib Schafskäse, Soßen, eingelegte Peperoni und getrocknete Tomaten. Später gab es Tee, Mandeln und in Zuckersirup getränkte Küchlein.
In armen deutschen Familien servierte man in den 1980iger Jahren abends ein Leberwurstbrot, dazu eine saure Gurke. Danach gab es für gern gesehene Gäste Bier und Zigaretten.

Doch die Ceylans schienen tatsächlich nicht vermögend zu sein. Während des Essens erzählte der Vater, niemand aus seiner Verwandtschaft in der Türkei dürfte wissen, dass er und seine Familie im Stadtteil Neukölln wohnten. Hier lebten doch lediglich die Türken, so erklärte er Sam, die es noch nicht geschafft hätten oder nie schaffen würden. Die, die ihre Frauen zwangen, ein Kopftuch zu tragen und sich weigerten, ihre Töchter zur Schule zu schicken. Die, die nicht lesen und schreiben könnten. Die, die immer noch in einer Fabrik arbeiteten, weil sie nichts anderes gelernt hätten.

Er aber wäre in der Türkei zur Schule gegangen, keine Selbstverständlichkeit!, wie er ausdrücklich betonte. Danach hätte er in einem Büro gelernt, seine Frau ebenfalls. Seine Söhne sollten einen Abschluss machen und danach eine Ausbildung, dafür würde er sorgen. Entscheide die Familie sich eines Tages zurück in die Türkei zu gehen, könnten die Söhne dort mit einer deutschen Berufsausbildung eine gute Arbeit finden und viel Geld verdienen. Frau Ceylan und die Jungs nickten zustimmend, aber offenbar war es üblich, dass bei Tisch nur das Familienoberhaupt sprach, von dem auch Sams verstohlener Blick auf einen goldgerahmten Koranvers an der Wand sogleich aufgefangen und durch eine entschiedene Geste beantwortet wurde. Die deutete Sam dahingehend, dass man trotz Bildung gläubig war, weil alles andere unvorstellbar wäre.

Sowohl der Hausmeisterposten als auch Frau Ceylans diverse Putzstellen waren lediglich eine Übergangssituation, erfuhr Sam. Als türkische Billiglöhner in Deutschland zu leben war für das Ehepaar kein Dauerzustand. Genau so wenig wollte die Familie für immer im billigsten Bezirk von Berlin bleiben. Das Wort billig sprach der Vater mit einer Mischung aus Scham und Verachtung aus. Und im Übrigen – am Essen sparte man nicht, nicht alltags und erst recht nicht an Feiertagen, das würde unglücklich machen. Herr Ceylan hielt einen Moment inne, wurde aber gleich wieder lebhaft, als die Sprache auf seine Zukunftspläne kam. Die Familie legte Geld zurück für einen Zeitungsladen, wo auch türkische Literatur, orientalischer Tabak und Rauchutensilien verkauft werden sollten, um dann, wenn die Geschäfte liefen, eine Wohnung in einem besseren Bezirk wie beispielsweise Schöneberg oder Nordcharlottenburg anzumieten. Eine Wohnung, in der es für jedes Familienmitglied ein eigenes Zimmer gäbe, fügte Herr Ceylan hinzu und sah Sam einen Augenblick lang mitleidig an, denn es war ihm offenbar nicht entgangen, dass ihre jeweiligen Geliebten mit in der engen Einzimmerwohnung zwischen Farbtöpfen und Leinwänden lebten. Sam senkte nachdenklich den Blick, sie litt damals noch nicht unter ihrer Armut, weil alle um sie herum, die noch lernten, studierten, über ihr erstes ernstzunehmendes Werk nachdachten oder den Berufsalltag einfach nur herauszögerten, um nichts zu überstürzen, arm waren, was einem aber keineswegs das Leben vermieste. Wenn es einem beliebte, konnte man ja jederzeit einsteigen. Nur jetzt noch nicht.

Und Briefe, fuhr der Hausherr fort, Briefe schickte man momentan noch mit dem Schöneberger Absender von Freunden in die Türkei. Sobald man ebenfalls in Schöneberg eine Wohnung gemietet hätte, würde die Familie aus der Türkei eingeladen werden...

Achung, Werbung + Infos zum Buch:
Superprovisorium
von Juliane Beer
Roman, erschienen bei michason & may
ISBN: 978-3-86286-032-6
228 Seiten
Erschienen bei michason & may


2016-10-27, Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
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