von Juliane Beer
Wer monatlich weniger als das so genannte Existenzminimum zur Verfügung hat, das vom Gesetzgeber momentan auf 404 Euro im Monat festgelegt worden ist, kann im Sinne von vollwertiger Ernährung und Begleichung der laufenden Kosten nicht oder nur unter großer Entbehrungen überleben.
Dennoch: Rund fünf Prozent aller Erwerbslosen sind gezwungen, mit einer Summe unter dem Existenzminimum zu überleben. Das Jobcenter hat ihnen die Leistungen gekürzt. Vielleicht konnte ein Termin beim Amt nicht wahrgenommen werden, weil die Einladung zu spät oder gar nicht ankam. Vielleicht wurde eine unterbezahlte oder ungeeignete Arbeitsstelle abgelehnt oder der/die Erwerbslose ist aus gesundheitlichen Gründen dazu nicht in der Lage oder es fehlt eine Betreuung für die Kinder.
Die Gründe sind vielfältig, aber in den allermeisten Fällen nachvollziehbar. Sie aber anzuerkennen liegt im Ermessen des Jobcenter-Personals. Häufig werden dennoch Sanktionen verhängt; wer bei einem Jobcenter arbeitet befindet sich nicht selten unter dem permanentem Druck der Vorstellungen seiner Vorgesetzten.
Hier setzt die neue Initiative "sanktionsfrei.de" ein. Mit dem Grundgesetz sei die Kürzung des Existenzminimums nicht vereinbar, heißt es dort.
Dirk Feiertag, Anwalt und einer der drei Initiatoren, ist immer wieder erschüttert darüber, dass so wenige Erwerbslose ihre Rechte kennen, wenn ihnen das Amt die Bezüge kürzt, manchmal sogar um 100 Prozent. In Mitteldeutschland beispielsweise sind derzeit rund 14.000 Erwerbslose sanktioniert und leben unter dem Existenzminimum. Nicht selten handelt es sich um Familien mit Kindern. Als Beispiel wehren sich in Halle etwa nur drei Prozent der Betroffenen.
Die Initiative sanktionsfrei.de hat es sich zum Ziel gesetzt, die von Hartz lV betroffenen Menschen über ihre Rechte aufzuklären, sie zu einer Klage zu ermutigen und sie durch den Hartz lV Klage-Dschungel zu begleiten. Dies soll mit ganz gezielter Unterstützung, in Form von Übersetzungen aus dem Amtsdeutschen, dem Erstellen von Widersprüchen, der Vertretung durch JuristInnen sowie finanzieller Unterstützung während eines Prozesses uvm. geschehen.
Die beiden MitstreiterInnen von Dirk Feiertag sind dabei keine Unbekannten. Da wäre einmal der Berliner IT-Unternehmer Michael Bohmeyer, der im Sommer 2014 bereits ein Projekt ins Leben rief, im Rahmen dessen über Crowdfunding Geld für jeweils einjährige Grundeinkommen gesammelt wird. Bis heute sind schon 33 Grundeinkommen für ein Jahr auf diese Weise finanziert und verlost worden. Weitere Infos, externe Seite: www.mein-grundeinkommen.de
Natürlich kommen diese Grundeinkommen bislang nur wenigen zu Gute, jedoch ist dadurch nicht zuletzt die öffentliche Sensibilisierung und Diskussion über das Thema in Gang gesetzt worden.
Die dritte Aktivistin bei sanktionsfrei.de ist Inge Hannemann, seit 2005 Mitarbeiterin beim Jobcenter Hamburg-Altona. Hannemann weigerte sich, bei Regelverstößen Sanktionen zu verhängen. Zudem kritisierte sie öffentlich das gesamte System Hartz lV. Daraufhin wurde sie 2013 vom Dienst freigestellt, erhielt Hausverbot - und wurde anschließend versetzt.
Hannemann äußert sich dazu, Zitat, (Quelle: inge-hannemann.de): „Die Gesetzgebung nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) basiert auf einem Menschenbild, das einer Demokratie unwürdig ist. Ich trete ein für die Abschaffung der Sanktionen, Hartz IV, und eine Arbeitsmarktpolitik, die gute bezahlte Arbeit fordert und umsetzt. Eine gesellschaftliche Teilhabe, neben einem menschenwürdigen Leben muss jedem Menschen zugestanden werden:" Zitatende
Hannemanns Petition zur Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen, die von 91 000 Menschen unterschrieben wurde, ist am 17.2. 2016 im Petitionsausschuss des Bundestages mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD abgeschmettert worden. Hannemann hatte das offenbar erwartet - zusammen mit ihren Mitstreitern leistete sie schon seit Monaten Vorarbeit für sanktionsfrei.de.
Am 9. Februar gingen die drei Initiatoren mit einer Pressekonferenz an die Öffentlichkeit. Denn obwohl Bohmeyer, Feiertag und Hannemann sowie zahlreiche Ehrenamtliche unentgeltlich arbeiten, ist das Projekt ohne finanzielle Mittel nicht zu realisieren. Eine Anlauf-und-Info-Website musste erstellt und vor allem ausreichend gesichert/verschlüsselt werden, Anwälte müssen bezahlt werden. Sanktionierte, die sich gerichtlich wehren, sollen finanziell unterstützt werden.
Und da Bohmeyer mit Crowdfunding bereits gute Erfahrungen gemacht hatte, sammelte man auf dieselbe Weise seit Februar ein Startkapital für sanktionsfrei.de ein - innerhalb von lediglich zehn Tagen kamen auf diese Weise bereits 30.000 Euro zusammen. Mindestens 75 000 Euro werden laut der Initiative aber gebraucht. Die Sammelaktion läuft also noch bis Ende März weiter.
Besonders gefreut haben sich die InitiatorInnen über Kleinstbeträge von SpenderInnen, die eigentlich selbst nichts übrig haben, aber Hoffnung in das Projekt setzen. Das Thema bewegt. Ein Anfang ist also gemacht.
Nun kann man einwenden, es gäbe doch bereits in allen Städten zahlreiche Initiativen, die sich an Sanktions-Betroffene wenden, um ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Das ist richtig, und natürlich kann auch diese Arbeit nicht hoch genug geschätzt werden.
Bedenken sollte man jedoch, dass nicht jede/r eine solche Beratungsstelle vor Ort aufsuchen möchte. Gerade in kleineren Städten kann Anonymität nicht garantiert werden, die manchmal alles ist, was Erwerbslose noch haben. Viele Hartz lV-Betroffene haben eine lange Erwerbsbiografie hinter sich, und die Scham, nun auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein, ist entsprechend groß, so dass sich viel mehr Menschen als von der Öffentlichkeit angenommen im Falle von Sanktionen oftmals lieber damit abfinden und stillschweigend hinter verschlossenen Türen leiden, als ihre Rechte wahrzunehmen. Die neue bundesweite Iniative will also genau hier ansetzen und für Abhilfe sorgen.
Und auch dieser Punkt sollte nicht unerwähnt bleiben: Michael Bohmeyer ist ein erfolgreicher `Digital Native´, der sich nun mit einer hippen, professionell programmierten Website für Hartz lV-Betroffene einsetzen möchte. Gerade dadurch bekommt der Widerstand einen beinahe popkulturellen Anstrich und soll auch all jene ansprechen, die sich nach Studium oder guter Ausbildung zwischen Projekten, Praktika und Hartz lV-Bezug hin und her hangeln müssen oder geschoben werden. Diese zwischen allen Stühlen, in keinem Job wirklich sesshaft werdenden jungen Leute gibt es inzwischen zuhauf, auch wenn das Arbeitsministerium dieses Phänomen tunlichst zu verschweigen versucht und der Bevölkerung suggeriert, Hartz lV-Betroffene seien in der Mehrheit ungebildet und faul und wollten es sich in der ´sozialen Hängematte´ gut gehen lassen. Wie "gut" es den Menschen in dieser "Hängematte" allerdings wirklich geht, dürften die darin "Hängenden" wohl besser wissen als jede graue Theorie.
Weiter Informationen, externe Webseite:
sanktionsfrei.de
2016-02-27, Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
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