von Annegret Handel-Kempf
Eine Reform der „tief gespaltenen“ Europäischen Union, mit ihren 28 Mitgliedstaaten und einer halben Milliarde Bürger, steht an. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, diagnostizierte kürzlich die Notwendigkeit einer neuen ökonomischen Ordnung. Reformvorhaben und Idealismus charakterisieren den historischen Weg der Europäischen Union seit ihrer Gründung in den 1950er-Jahren mit damals sechs Mitgliedsstaaten..
Eine Vor- und Rückschau in Zeiten der Krise
Schulz, ein ebenso überzeugter Europäer wie die von den Weltkriegen geprägten Gründer der Europäischen Union, rief im Mai 2016 in einer bewegenden Rede vor dem EU-Parlament zur Rettung der Europäischen Union auf:
„In dieser Zeit, in der wir eine Solidaritätskrise durchleben, in der unsere gemeinsame Wertebasis ins Wanken geraten ist, gilt es, den Weckruf dieser Männer und Frauen…, dass Europa sich nicht an einem Tag baut und dass es aufgebaut ist auf der Solidarität der Tat, ernst zu nehmen…. Es ist an der Zeit, für Europa zu kämpfen. Alle Europäerinnen und Europäer, die an dieses Modell der transnationalen Demokratie als das beste Modell für die Sicherung von Zusammenhalt und Frieden glauben, sind aufgerufen, aufzustehen und nicht länger zu schweigen und sich zu unserem Europa zu bekennen.“
Die Grundlagen und Pioniere der Europäischen Union geraten leicht in Vergessenheit, der Alltag kaschiert das Unvollendete.
„Die Widerstände werden, daran gibt es keine Zweifel, immer zahlreicher, je mehr man sich dem Ziel nähert, denn beim Aufbau Europas schieben die Menschen wie bei anderen großen Unternehmungen auch die schwersten Hindernisse vor sich her und überlassen den Nachfolgern die Sorge, sie zu beheben“. Kein Geringerer als Jean Monnet, der geistige Vater der Europäischen Gemeinschaft, schrieb dies 1976 als 87jähriger in seinen „Erinnerungen eines Europäers“.
Nationenübergreifendes politisches System
Das„Europa der Bürger“, also ein demokratisches und soziales Europa, war seit jeher notwendige Voraussetzung der Idee eines Nationen übergreifenden politischen Systems Europas. Das Manko an institutioneller Ausgestaltung, insbesondere die jahrzehntelang unterentwickelten Entscheidungsbefugnisse des Europäischen Parlaments, behindern bis heute die Europäische Einigung. Das Misstrauen vieler Bürger gegenüber Europa geht hierauf mit zurück, auch wenn die diffusen Angstgefühle gegenwärtig gerne an einem möglichen EU-Mitglied Türkei oder an der Wirkung des Euros als einheitliche Währung festgemacht werden. Es mangelt an Transparenz: Kaum ein EU-Bürger weiß Näheres darüber, wer wofür zuständig ist, und was möglichst nah bei den Menschen entschieden, beziehungsweise gestaltet werden kann.
Aus seiner Erfahrung als Mitglied des Bundestagsausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union heraus, betonte der 2013 verstorbene Sozialdemokrat und Saarländer Ottmar Schreiner: „Es muss für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein, wer warum welche Entscheidungskompetenzen hat.“
Harmonisierung der Sozialstandards
Anstelle von Renationalisierung strebte Schreiner eine Harmonisierung der Sozialstandards in Europa an. Er sagte dazu in einem Interview vor über zehn Jahren zur Autorin dieses Artikels: „Besonders am Herzen liegt mir die soziale Gestaltung der Globalisierung. Ich sage bewusst Globalisierung, da vieles, was heute unter dem Thema Erweiterung diskutiert wird, eine Folge von Globalisierungsprozessen ist. Die Politik muss ihre Steuerungsmöglichkeiten nutzen: In der EU müssen verbindliche Sozialstandards umgesetzt werden. Es darf nicht sein, dass aufgrund rein wirtschaftlicher Interessen soziale Errungenschaften geopfert werden. Wir brauchen eine europäische Arbeits- und Sozialpolitik, die einer Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern entgegenwirkt. Die sozialpolitische Agenda muss von den Mitgliedstaaten umgehend in konkrete Maßnahmen der Politik umgesetzt werden.“
Idee des „Spill-Over“
Doch es geht langsam voran auf dem Weg nach Europa und mit der Idee des „spill-over“. Seit jeher hatte der Gedanke eines geeinten Europas mindestens ebenso viele destruktive wie konstruktive Gestalter.
„Man muss die Etappen überschauen, aber nicht die Termine. Man muss sich an eine Richtung halten, aber sich nicht durch Treffpunkte festlegen lassen“, so Monnet 1976 angesichts des Schneckentempos der institutionellen Absicherung der europäischen Einigung.
Eigenständige Leitidee der Europäischen Integration ist die Festschreibung vom „gemeinsamen Handeln“, vom „einvernehmlichen Vorgehen“, mit dem Ziel, „Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen“, wie sie in der Präambel des Vertrags zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1957 artikuliert wurde. Die Struktur der Gemeinschaft unterliegt dem Zweck „einer immer engeren Union zwischen den Völkern Europas“. Die Väter der Europäischen Integration wollten ein „spill-over“, ein Übergreifen vom wirtschaftlichen Zweckverband auf weitere Politikbereiche, hin zur politischen „Europäischen Union“.
Das Schaffen politischer Institutionen wurde hierbei strategisch angegangen: Die wirtschaftliche Integration trieben die EU-Gründer in der Erwartung voran, dass sie vom gesellschaftlichen Zusammenwachsen begleitet würde.
Sie nahmen an, dass auf diese Weise die Interessen und Loyalitäten zumindest der Eliten in zunehmendem Maße von der Ebene der Nationalstaaten auf die breiter institutionalisierte Gemeinschaftsebene übergehen würden. Auf diese Weise sollten die Grundlagen für die letztlich angestrebte politische Union geschaffen werden.
Historische Schritte
1929 schlug der französische Außenminister Aristide Briand der Völkerbund-Versammlung in Genf die Schaffung „einer Art föderativer Verbindung“ der europäischen Staaten vor. 1946 forderte Churchill in Zürich die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Monnet zufolge war die öffentliche Meinung damals davon überzeugt, dass „die magischen Formeln“ ausgesprochen waren, und sie verstand nicht, dass die Wirklichkeit „sich ihnen so beharrlich widersetzte“.
Pläne für ein supranationales, föderatives Zusammengehen Europas verbanden während des Zweiten Weltkriegs Mitglieder von Widerstands- und Exilgruppen, die auf dauerhafte Friedensstrukturen hofften. Die Nachkriegspolitik der vierziger und frühen fünfziger Jahre griff diese Gedanken leidenschaftlich auf. Die begriffliche Polarität zwischen „Föderalismus“ und „Unionismus“ bildete sich heraus. Für die Verfechter der „Union“ kam nur eine Kooperation der Einzelregierungen, die die nationale Souveränität unangetastet ließ und rein pragmatisch orientiert war, in Frage.
In Paris einigten sich die Staats- und Regierungschefs 1972 auf den Begriff der „Europäischen Union“ als Zielvorgabe. Der schließlich im Februar 1992 in Maastricht unterzeichnete Vertrag über die Europäische Union stellte die wichtigste Fortentwicklung der europäischen Integration seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahr 1957 dar. Mit ihm wurde die Europäische Union gegründet, aber keineswegs vollendet. Nicht „miteinander“, sondern „untereinander“ wurde hier eine Europäische Union installiert.
Dialektik des Zusammenwachsens und Konstitutionalisierung
Professor Dr. Roland Bieber, EU-Rechtsexperte und Mitglied im Wissenschaftlichen Direktorium des Instituts für Europäische Politik, sieht als Merkmal der Union „die Dialektik zwischen der Veränderung zu dem immer engeren Zusammenschluss der Völker einerseits und der Stabilität, der Existenzerhaltung der Staaten, andererseits“.
Die politische Entwicklung führte hin zu einer Konstitutionalisierung des Europäischen Integrationsprozesses. Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“, der 2003 vom Europäischen Konvent vorgeschlagen und vom Abschlussgipfel der Regierungskonferenz 2004 politisch verabschiedet wurde, galt als Meilenstein für eine Reform des gemeinsamen politischen Systems, die der Europäischen Union eine einheitliche Struktur und Rechtpersönlichkeit geben sollte. Mehr Kompetenzen, mehr Demokratie und Handlungsfähigkeit für ihr institutionelles Gefüge waren in Ablösung des bis dahin gültigen Vertrags von Nizza geplant.
Doch der 2004 feierlich von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten in Rom unterzeichnete neue völkerrechtliche Vertrag über eine Verfassung für Europa trat nicht in Kraft. Seine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten geriet 2005 infolge ablehnender Plebiszite in Frankreich und den Niederlanden ins Wanken. Im Dezember 2007 schlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs unter portugiesischer Ratspräsidentschaft als schwächeren Ersatz den Vertrag von Lissabon ab, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Inhaltlich übernahm der Vertrag von Lissabon die wesentlichen Elemente des gescheiterten EU-Verfassungsvertrags von 2004. Im Gegensatz zum Verfassungsvertrag ersetzte er EU- und EG-Vertrag aber nicht, sondern änderte sie nur ab.
Zu den Neuerungen des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag) von 2009“ zählten unter anderem die rechtliche Fusion von Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft, die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens auf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, die stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente bei der Rechtsetzung der EU, die Einführung einer Europäischen Bürgerinitiative, das neue Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, der Ausbau der Kompetenzen des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, die Gründung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes, die Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta und die erstmalige Regelung eines EU-Austritts.
Monnet resümierte 1976: „Ich lege mich nicht auf ein Datum fest. Andererseits bin ich sicher, dass die Folge der Jahreszeiten uns zu einer größeren Einheit führen wird, und wenn es nicht die ist, die wir organisieren wollten, so wird es eine sein, die wir erleiden werden. Wenn sie nicht vom Gesetz der Demokratie beherrscht wird, so wird sie sich mit brutaler Gewalt aufdrängen.“
2016-06-20, Annegret Handel-Kempf, Wirtschaftswetter
Text: ©Annegret Handel-Kempf
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