von Angelika Petrich-Hornetz
Zitat:“Ich glaube, eine Gesellschaft, die fähig wäre, eine deutliche und klare Entscheidung in Richtung Verzicht zu treffen, hätte die Fallen vermieden, in die wir getappt sind. Solch eine Gesellschaft könnte sich auch modernste Technik leisten. Aber zu solch einer Entscheidung waren wir nie fähig.“ von Joseph Weizenbaum
Das Bundesjustizministerium plant ein Gesetz gegen sexistische Werbung. Der Satiriker Böhmermann wird zu einem juristischen Fall. Soziale Netzwerke sind mit Hasspostings geflutet. Und all das und noch viel mehr speichert das Internet mit Akribie und einem Ewigkeitswert, den bislang nur die Pyramiden Ägyptens oder verrottender Atommüll erreichten.
In einer Ortschaft den neuen Bundesländern fühlten sich Anwohner von ankommenden Flüchltingen beleidigt, die sich zuvor ihrerseits beleidigt sahen. Nun fühlt sich der türkische Präsident beleidigt. Dabei dürfte das türkische Verfassungsgericht schon lange ganz ähnlich empfinden. Deutsche Gerichte müssen sich schon seit Ewigkeiten mit jedem Detail herumschlagen, wann explizit dasselbe, an und für sich harmlos klingende Wort in einem anderen Kontext verwendet beleidigend, somit herabsetzend gebraucht wird und damit verurteilenswert sei. Auf der ganzen Welt geht es inzwischen zu wie am Fischstand von Verleihnix, womit auch die niemals zu klärende Frage geklärt werden soll: Wer ist die erste Dame des Dorfes?
In Deutschland darf schon lange kein Autofahrer mehr einem anderen einen Vogel zeigen, selbst wenn es noch so sachlich gerecht sein würde. Das Damoklesschwert einer teuren Beleidigungsklage hängt inzwischen schon so gut wie über jeder emotionalen Äußerung im Straßenverkehr. Insofern müssen wir uns vorwerfen lassen: Mit der Beleidigung als solcher und der Majestätsbeleidigung im Besonderen, die immerhin bald abgeschafft werden soll, haben wir selbst höchstpersönlich angefangen. Bevor sich der türkische Präsident beleidigt fühlte, führten wir uns längst auf wie moralinsaure Mimosen.
Auf der anderen Seite ist es auch eine Tatsache, dass Menschen aller Gattungen und Altersklassen weltweit stigmatisierenden bis hin zu ausgrenzenden Beleidigungen ausgesetzt sind und manchmal schwerwiegende Nachteile aus dieser Behandlung erleiden, einige ein Leben lang. Es ist darum auch nicht jedem von ihnen damit geholfen, sich das Kommunikationsverhalten in einem Friseurgeschäft im Eastwood-Film „Gran Tarino“ anzusehen, um festzustellen, wie einst schon ein US-Reiseführer bei Reisen nach Deutschland sinngemäß warnte: „Erschrecken Sie nicht, wenn sich zwei Deutsche auf der Straße anschreien. Es könnte sein, dass es sich dabei lediglich um Einheimische bei einer herzlichen Begrüßung handelt.“ Soviel zur unterschiedlichen Auslegung von kulturell höchst unterschiedlichem Verhalten. Womit wir schon beim nächsten Thema sind, nämlich wie erwachsen wir (noch) sind - und wie viele Gesetze wir uns noch zulegen wollen, um uns in ein Gefängnis für unmündige Kinder sperren zu lassen, damit wir auf keinen Fall mehr Gefahr laufen, uns mit Sandeimern zu bewerfen, oder anders ausgedrückt: Wie werfen wir uns mit welchen Regeln politisch korrekt in Zukunft weiter erfolgreich gegenseitig in die Pfanne? Oder meinte etwa jemand, die alltäglichen Dispute würden eines Tages aufhören, wenn sie nur schlicht verboten werden würden?
Das Bundesjustizministerium plant, sexistische Werbung künftig strafrechtlich verfolgen zu wollen, statt es bei der bisherigen Praxis zu belassen, sich bei den bekannten Gremien, u.a. dem Deutschen Werberat, über sexistische Werbung - die es definitiv gibt, genauso wie rassistische, altersdiskriminierende usw. - zu beschweren. Fühlt man sich persönlich beleidigt, kann man darüberhinaus bereits jetzt schon Anzeige erstatten. Im Fall eines Falles kann der Werberat allerdings nur eine Rüge erteilen, die im globalen Infomationsfluss aber nicht ganz so unwichtig ist, wie sich das manche immer noch vorstellen. Die Pläne für ein neues Gesetz treffen daher auf ein geteiltes Echo. Die Befürchtung lautet nicht zuletzt: Wer soll die auf die Gerichte zurollende Welle der Beschwerden über sexistische Werbung bearbeiten und jemals die vielen Zweifelsfälle, in denen es dann womöglich ähnlich wie beim Vogel-Zeigen um so etwas wie Beleidigung gehen wird, für alle Seiten jemals befriedigend auflösen können?
Was ist aber nun eindeutig sexistische Werbung und was nicht? Die Urteile und Einschätzungen dazu wandeln sich Jahr für Jahr, womit sich der Werberat dann auch Jahr für Jahr so sachlich wie fachlich möglich auseinandersetzen muss. Aber wird das auch ein starres Gesetz leisten können? Während in einigen Fällen sexisitischer Werbung längst Konsens besteht, gibt es daneben noch unzählige Fälle, die eher einem zweifehaften Witz-Verständnis entsprechen, das der Öffentlichkeit eher ein zweifelhaftes Bild über den Urheber solch seltsamer Einfälle vermittelt, als dass die miese Pointe den „Objekten“ irgendetwas anhaben oder wirklich schaden könnte. Und so werden die Urheber schlechter Pointen auch regelmäßig mit Preisen für schlechten Geschmack überhäuft, u.a. für den schlechtesten Film (Goldene Himbeere), für ein überholtes Frauenbild in TV-Produktionen der öffentlich-rechlichen Sender (Saure Gurke) und für sexistische Werbung (Zitrone von dieStandard).
Eine Heizungfirma warb einmal mit den sinngemäßen Worten: „Warum bei der Alten bleiben, wenn man eine Neue haben kann?“ Auf den ersten Bildern wurde eine sichtbar heruntergekommene, alte Heizung gezeigt. In den folgenden dann eine neue, ansehnliche Heizung präsentiert, an der – und das ist die Pointe – eine schöne, junge Frau mit flatterndem Kleid lehnte, die den Betrachter hingebungsvoll anlächelte. Ist das schon sexistisch?
Eher nicht, schließlich ist es austauschbar. „Warum bei dem Alten bleiben, wenn man einen Neuen haben kann?“, würde schließlich in einem Werbespot für Autos oder Kühlschränke genauso auf das andere Geschlecht umgemünzt werden können. Die derart bespaßten Geschlechter müssten dabei jeweils, und das ist das große Aber, allerdings die Fähigkeit besitzen, auch über sich selbst lachen zu können.
Käme dagegen Alterdiskriminierung in Frage? Die meisten älteren Mitbürger in diesem Land haben immerhin noch so viel Humor, dass sie sinngemäß bekennen: „Wer nicht alt werden will, muss eben früher sterben.“ Wieviel Humor die aber jetzt in Massen alternde Generation X überhaupt noch übrig hat oder künftig per Gesetz abzuschaffen gedenkt, wird sich dagegen bald zeigen.
Wer weiß, vielleicht erreicht es diese gut besetzte Generation ja noch tatsächlich, einen gesetzlichen Anspruch darauf zu verankern, lebenslänglich wie 25-Jährige behandelt zu werden? Ist es denn etwa nicht diskriminierend, in der Werbung für Abführzäpfchen oder Sessellifte ständig und ausschließlich ältere Menschen zu zeigen? Müsste nicht längst ein Neunzehnjähriger den Sessellift vorführen und eine 25-Jährige die Abführzäpfchen? Exemplare dieser Altersgruppe dürften solche Hilfsmittel vielleicht doch auch benutzen? Oder wäre der junge Mann im Sesselift dann etwa eine Diskriminierung von jüngeren Behinderten und die Abfürmittelwerbung eindeutig sexistisch?
Das Dilemma der unterschiedlichen Geschmäcker wird auch nicht dadurch kleiner, dass "nackte Tatsachen" als solche ebenfalls alles andere als immer einfach zu bewerten sind. Durch die Werbung sind wir u.a. ständig von nackten Brüsten umgeben - in einer Zeit der doppelten Doppelmoral, in der sich moderne Menschen allen Ernstes darüber aufregen, wenn sie eine stillende Mutter in einem Restaurant „ertragen“ müssen. Diese wiederrum müssen sich u.a.. als „ekelhafte Weiber, die in aller Öffentlichkeit ihre 'Quarktaschen' auspacken“, verunglimpfen lassen. Mit dem von Maas geplanten „Prüderiegsetz“, so bekrittelte es in den vergangenen Tagen u.a. die Werbebranche, dürften Frauen in der Werbung bald nur noch verschleiert abgebildet werden. Erübrigt sich die Frage, wer das Ziel, etwas durchzusetzen, damit wohl zuerst erreicht hätte.
Frauen scheinen insgesamt eine ganze Menge mehr Sandeimer-Würfe gewohnt zu sein und deshalb das dickere Fell beider Geschlechter zu haben. Das gilt auch für die wichtigste Frau der Nation: die Bundeskanzlerin.
Während sich der türkische Präsident über ein albernes, unappetitliches Gedicht aufregt, das erst durch seine Beschwerde und Anzeige einer breiten Öffentlichkeit überhaupt bekannt wurde und er auch sonst nicht viel Sinn für Humor und Witz übrig zu haben scheint,, hätte die Kanzlerin sich längst totgeklagt, wenn sie nur auf einen Bruchteil der Witze auf ihre Kosten reagiert hätte. U.a. prangte in Polen und Griechenland die Kanzlerin immer mal wieder in Nazi-Uniform, mit und ohne Hitlerbärtchen auf den Titelblättern der Tagezeitungen. Und?
Im Düsseldorfer Karneval 2009 säugte sie als splitterfasernackte Pappmache-Figur auf allen Vieren in Schweineoptik mit der Aufschrift „die kapitulierende Wölfin“ die „Ferkel“ Konkunkturpaket, Abwrackprämie und Bankenhilfe. In Köln kroch die Kanzlerin auf einem Karnevalswagen einst aus dem nackten Hintern von Uncle Sam. Der italienische Karneval stellte sie wegen ihrer Sparpolitik als Prositiuierte in schwarzer Spitzenkorsage mit heraushüpfenden Brustwarzen dar. Und wieder im deutschen Karneval wurde Kanzlerin Merkel als nackter, lediglich mit einem knappen Bikini in Deutschland-Farben bedecktem Jabba-Verschnitt, Hand in Hand mit einem sichtlich abgemagerten, damaligen französischen Präsidenten Sarkozy als Napoleon in Trikolore-Badebüx abgebildet. Auf einem anderen Karnevalswagen sitzt Napoleon-Sarkozy am Busen von Merkel mit Pickelhaube, die ein „Merkozy“-Herzchen-Tatoo trägt. Und wiederholt splitterfasernackt nahm Kanzlerin Merkel im Karneval 2010 auf dem Motivwagen „Der Sündenfall“ von der Schlange im Garten Eden eine CD mit der Aufschrift „Steuerflucht“ entgegen. Und? Hat sie die Karnevalisten wegen Beleidigung angezeigt? Oder wegen Seximus in der politischen Karrikatur? Schließlich wurde selten ein Bundeskanzler im Karneval dermaßen oft ausgezogen. Und? Hat es die Kanzlerin etwa interessiert?
Fazit: Zumindest Staatsoberhäupter und andere wichtige Entscheider dürften es sich leisten können, in der Art der ihrem Amt angemessenen Souveränität auch entsprechend souverän über solche Unwichtigkeiten hinwegzusehen.
Das gilt auch für den auf einst auf einem Karnevalswagen geköpften Lafontaine von der als „hirnlos“ kritisierten Partei die Linke, sowie für den auf einem roten Dinosaurierskelett namens „SPD“ sitzenden Gabriel oder dem auf den Kopf - mit verlorenem Heiligenschein – stehenden „gefallenen Erlöser“ Barack Obama, der an anderer, karnevalistischen Stelle mit Europa an den Rockschößen grinsend davonfliegt. Oder dem seinerzeit auf einem Karnevalswagen gesichteten, mit der Mafia kopolierendem Berlucsoni oder der als scharfe Waffe dargestellten Pressefreiheit Putins – und auch für die durch mit kostbaren Fransen verzierten EU-Regenschirme geschützte Großindustrie – während dem Mittelstand nur noch ein klappriges Schirmgerüst übriblieb. Sie alle müssen sich den Spott der Karnevalisten gefallen lassen, jedes Jahr, immer wieder. Man hat sich daran gewöhnt, schließlich muss man es auch schon weit gebracht haben, um es zu verdienen, dem Spott der kleinen Leute auf einem Motivwagen ausgesetzt zu werden.
Mit vor allem auf Selbstdarstellung bedachten Staatsoberhäuptern gibt es dagegen nicht mehr viel zu lachen, weder im Karneval noch anderswo. Das gilt in der Gegenwart allerdings nicht nur für den türkischen Präsidenten. So musste im Vorfeld der diesjährigen Karnevalsumzüge Regierugnssprecher Seibert bereits die polnische Regierung darüber aufklären, dass die geplante Intervention des polnischen Außenministers gegen einen Karnevals-Motivwagen keinen Erfolg haben werde, in Deutschland gelte die Freiheit der Meinungsäußerung. Die Karnevalisten beriefen sich ihrerseits auf die Narrenfreiheit. Auf dem beanstandeten Wagen wurde Polen als unter dem Stiefel des nationalkonsevativen PiS-Parteichef Kaczynski leidende Frau dargestellt - der polnische Außenminister sah darin eine „Verachung Polens und der polnischen Politiker“. Und ein weiterer Karnevalswagen mit einer ebensolchen karnevalistischen Darstellung Erdogans und sein Verhältnis zu den Kurden. zog im Frühjahr bereits den Unmut der türkischen Generalkonsulin in Düsseldorf auf sich. Und dann wurde der Karneval in Düsseldorf tatsächlich abgesagt - wegen Unwetters - und später nachgeholt.
Es fällt auf, dass sich besonders gut geschützte, vorwiegend männliche Staatsoberhäupter, häufig ohne jede Not, sehr schnell persönlich angegriffen fühlen, wenn es sich um humoristische Kritik an ihrer politischen Arbeit handelt. Den im Karneval, in der Satire oder in Karrikturen üblichen, manchmal beißenden Spott scheinen sie gar nicht zu vertragen. Die Damen auf den Chefposten sind da offenbar wesentlich gelassener, vielleicht haben sie auch nur verstanden, dass Lachen befreiend wirkt und der Stimmung im Land deshalb nicht abträglich ist, im Gegenteil. Dabei scheint es ihnen persönlich und damit auch ihrem gutem Ruf nicht zu schaden, wenn sich das „gemeine Volk“ und damit die Öffentlichkeit ab- und zu köstlich über sie amüsiert.
Irgendwelche Beleidigungs-Anzeigen wirkten da nur wie die wortwörtliche Fehlanzeige. Ansonsten hätten u.a. auch die britischen Königinnen, inklusive die seit fast einem Jarhhundert unangefochtene Elisabeth II. wirklich allen Grund zur Klage, wenn man sich die Karikaturen der britischen Zeitungen ansieht. Einen Deivel würde sie tun, sich zu so etwas herabzulassen, weil sie es gar nicht nötig hat: Der Schutz vor sarkastischem Spott in zweifelhafter Form und Pointe wird demnach wirklich Schutzbedürftigeren zugestanden. So ist es nur konsequent, wenn die Bundesregierung nun den längst vom Zeitgeist überholten Paragraphen der „Majestätsbeleidigung“ abschaffen will.
Nicht zuletzt gibt es bereits genug Gesetze, die Bürokratie hat längst kafaeske Auswüchse erreicht. Man hat sich auch längst darauf geeinigt, dass Gruppen von Schutzbedürftigen sowie Individuen auch dementsprechend schützenswert sind und möglichst nicht verspottet werden sollten. So dürfte z.B. beißender Spott auf Minderjährige und Heranwachsende im Allgemeinen und Besonderen eher kontraproduktiv sein, weil sich junge Menschen viel leichter als Erwachsene verunsichern lassen, wofür sie gar nichts können. Was Kinder noch nicht ertragen, müssen in dagegen vielen Fällen erwachsene Menschen ertragen können. Aber auch hier enstanden schon Dispute, u.a. als die Abiturienten-Rede „Ihr seid nichts Besonderes“ (Wellesley High) in den USA, später auch in Europa publik wurde, über die sich einige Jugendliche und ihre Eltern echauffierten. Darf man der Jugend nicht einmal mehr ins Gewissen reden, dass es für die Gesellschaft und für sie selbst gefährlich ist, sich für etwas Besonderes zu halten, ohne bereits etwas Besonderes geleistet zu haben? Die Reaktionen zeigten, wie subjektiv die Empfindung des Beleidigtseins ausfallen kann, aber es spricht auch für den Zeitgeist, dass die Rede immerhin der Mehrheit sehr gut gefallen hatte.
Soviel ist sicher: Die Karnevalswagen werden nach drei Tagen Karnevalsradau regelmäßig auf Nimmerwiedersehen eingemottet, d.h. aktiv von ihren eigenen Erschaffern zerstört - am Aschermittwoch ist alles vorbei. Gedruckte Zeitungen werden irgendwann im Altpapier entsorgt. Für andere Papiere und Publikationen gelten hierzulande gesetzliche Aufbewahrungsfristen. Und alle sind heilfroh, dass sie weg sind: Es schafft nämlich Platz für Neues, Wichtigeres, Interessanteres, Aktuelleres – in Gegenwart und Zukunft. Der Produktlebenszyklus ist nun einmal begrenzt.
Nicht so im Internet, dessen Speicherkapizitäten jeden noch so unwichtigen Unsinn unauslöschbar in Stein meißeln, ein Novum der Geschichte und nur noch mit der Halbwertzeit von Plutionium oder Uran vergleichbar – und damit das eigentliche Problem der digitalen Gegenwart. Menschen erfahren Beschimpfungen und Beleidigungen immer mehr online als offline und jede Offline-Beleidigung ist heutzutage auch gleich online veröffentlicht, verteilt, geliked und endlos gespeichert. Die damit zum Teil einhergehenden, auf alle Ewigkeit unauslöschbaren Folgen solcher Attacken sollen hier auch gar nicht schöngeredet werden.
Bislang sind alle Versuche, die internationale Maßnahmen oder Rechte auf Löschung beinhalteten oder weltweit eigenständige Fristen für die Aufbewahrung von Online-Content im globlen Netz einräumen wollten, regelmäßig gescheitert. Damit hat die Müllabfuhr im globalen Internet bisher kläglich versagt, obwohl allen Beteiligten irgendwie einleuchtet, dass der Müll immer größere Ausmaße annimmt, Leitungen verstopft und Suchen erschwert. Selbst mit einzelnen Maßnahmen, z. B. das Löschen einzelner Beiträge, Einträge etc., was hier und dort zumindest auf lokaler Ebene, Foren Unternehmen und Gremien ermöglichen, ändern nichts an der Tatsache, dass sich die Fake-Berge stapeln und alles irgendwann auf einer anderen Seite der Erdugel wieder auftauchen kann, weil es irgendjemand für veröffentlichkeitswürdig hält.
Man kann dem Schmäh-Gedicht von Böhmermann - inklusive des oft vergessenen Kontextes - sicher vieles vorwerfen, ob Geschmacklosigkeit oder einen etwas seltsamen Humor auf Schüler-Niveau, aber wenn er vor dem Hintergrund der aktuell geradezu krankhaften Datenspeicher- und Veröffentlichkeitswut, ob absichtlich oder unabsichtlich, dabei auf die Gefährlichkeit der schönen neuen Welt hingewiesen haben sollte, die sich ohne Nachdenken dem Internet der Dinge (IoT) hingibt, indem er mit einem weitestgehend sinnentleerten Wortlaut in den „Verbreitungs-Speicherung-Test“ trat, dann hat er tatsächlich etwas erreicht. Der Fall macht auch als Versehen auf etwas aufmerksam, was wir an der Schwelle zur konsequenten Durch-Digitalisierung der Wirtschaft – infolgedessen der ganzen Gesellschaft – nur zu gern unter den Teppich kehren. Und genau das könnte uns eines Tages um die Ohren fliegen:
Es ist offenbar immer noch nicht allen klar, dass Maschinen, egal wie intelligent sie seines Tages auch sein werden, immer im wörtlichen Sinn berechnend sind. So, wie heute nicht nur das Böhmermann-Gedicht durch alle Kabel und Funkverbindungen auf der ganzen Welt verbreitet wird, auf irgendwelchen Servern und in irgendwelchen Clouds in Ländern XY landet und niemand irgendeine Handhabe hat, es jemals wieder aus sämtlichen Leitungen herauszubekommen, könnte es auch eines Tages im IoT zugehen.
Solange nur einer von rund 7 (Im Jahr 2050: rund 9) Milliarden Menschen irgendetwas für verbreitenswert hält, könnte es eines Tages auch dem Internet der Dinge (IoT) passieren, dass sich die Dinge verselbständigen, nur mit wesentlich weitreichenderen Folgen, weil kein einziger Mensch mehr dazu nötig wäre, irgendetwas verbreiten und ewig speichern, in der IoT-Steigerung auch verfälschen, verändern und manipulieren zu wollen
Worte können verletzen, Handlungen und damit Anwendungen haben einen noch anderen, viel bedeutungsvolleren Wirkungskreis mit den entsprechenden Folgen. Beides, Worte und Handlungen können andererseits auch wieder vergessen werden, aber nur von Menschen, nicht von Programmen oder Maschinen. Maschinen können nicht vergessen wollen, weil sie nicht wie Menschen eines Tages irgendwelcher Worte, Bilder und Sensationen überdrüssig geworden sind und das Interesse daran verlieren. Zu so etwas sind ausschließlich Menschen fähig, dagegen können sogar Programme und Maschinen nichts ausrichten - solange die Macht von Menschen, individuell und selbst zu entscheiden, was sie interessant finden und was nicht, der Macht von Maschinen und Programmen überwiegt. Menschen klicken weiter und schalten weg, wenn sie sich langweilen. Was aber ist, wenn Menschen nicht mehr weiterklicken und wegschalten können, dürfen, sollen, weil sie dem Diktat von Maschinen/Programmen unterworfen werden?
Wer sich heute akribisch mit der Verbreitungsgeschwindigkeit von Nachrichten und Bildern, darauf aufbauenden Gerüchten, womöglich daraus resultierenden Untaten im dann echten, analogen Leben ernsthaft beschäftigte, könnte zumindest ansatzweise eine Ahnung davon bekommen, mit welcher Geschwindigkeit eines nicht zu fernen Tages im IoT die Dinge vollkomnen aus dem Ruder laufen könnten - und wahrscheinlich auch werden. Damit besteht auf lange Sicht die ernstzunehmende Gefahr, dass wir uns unbemerkt selbst degradieren, und zwar zu Maschinen zweiter Klasse.
Was bei Nachrichten, Bildern – manche werden das Folgende jetzt aus gut nachvollziehbaren Gründen ablehnen – noch relativ harmlos ist, könnte sich im Internet der Dinge zu einem Desaster auswachsen, wenn nicht unverzüglich viel mehr Zeit, Geld, Energie und Personal in internationale Vereinbarungen für die nur notwendigsten Regulierungen oder wenigstens in so etwas wie ein international funktionsfähiges Beschwerde- und Beratungsgremium investiert wird.
Sollte Herr Böhmermann darauf hingewiesen haben, hätte ihm der 2008 verstorbene Meister der kritischen Informatik Joseph Weizenbaum wahrscheinlich beigepflichtet, dessen Warnungen in den Wind geschlagen wurden und der neben dem oben Erwähnten u.a. auch sagte, Zitat: „Eine Gesellschaft, die es vorzieht, Milliarden Dollar für einen Flug zum Mars auszugeben, statt Hunger und Armut in der Welt zu bekämpfen, hat eine Wahl getroffen.“
Um die Frage zu klären, welche Wahl Maschinen angesichts schon sehr viel kleinerer Destinationen treffen würden, bedarf es keiner Fantasie mehr, sondern lediglich noch eines Funken Verstandes.
Es sollte jedes Jahr ein internationales Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter geben, anlässlich dessen sie sich jedes Mal aufs Neue die erwähnte Abiturienten-Abschlussrede "Ihr seid nichts Besonderes" anhören müssten, um niemals zu vergessen, dass sie im Gegensatz zu Schulabgängern zwar schon Einiges geleistet haben, aber aktuell noch viel Wichtiges entscheiden müssen. Wichtigeres, als sich dauernd mit Banalitäten zu beschäftigten, dürfte es für Staatsoberhäupter jetzt allemal zu tun geben.
2016-04-22, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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