von Angelika Petrich-Hornetz
Ein Disput um die Anstandsregeln einer Schule in der Schweiz scheuchte jüngst die Medienöffentlichekeit auf: Zwei Jugendliche (14 und 16 jahre alt) hatten Anfang April einer Lehrerin den Handschlag verweigert – aus relgiösen Gründen, wie sie erklärten. Die Schulbehörde entschied zuletzt, sie seien von nun an zum Handschlag verpflichtet, im öffentlichen Interesse wiege die Gleichstellung von Mann und Frau schwerer als die Religionsfreiheit. Die Behörde drohte bei weiterer Zuwiderhandlung mit Disziplinarmaßnahmen für die beiden Schüler sowie den Eltern mit Bußgeldern. In der öffentlichen Diskussion sammeln die weiterhin Handschläge verweigernden Jugendlichen sowohl Stimmen für als auch gegen ihre Entschlossenheit ein, aus allen Schichten und weltanschaulichen Lagern. Nun wollen sie vor Gericht ziehen.
In Deutschland, genauer in Thüringen, sprach ein Gericht vor etwa einem Jahr schon ein Urteil zum Handschlag: Ein SPD-Bürgermeister hatte sich geweigert, zwei NPD-Stadträten die Hand zu geben, die klagten - und verloren den Rechtsstreit. Das Gericht in Gera ordnete dem Handschlag einen lediglich sympolichen Charakter bei, der Status der betroffenen Abgeordneten werde von der Weigerung nicht berührt, wurde entschieden. Zuvor hatte bereits eine Bürgemeisterin ebenfalls den Handschlag verweigert, auch in diesem Fall verlor die NPD den angestrengten Prozess. Daneben gab es noch zahlreiche andere Vorfälle in denen die/der eine dem jeweiligen Gegenüber das Händereichen verweigerte, im derzeit bierernst zerstrittenen Deutschland erhielt einer der Handdruck-Verweigerer sogar Morddrohungen.
Allgemeine Erkenntnis aus den Gerichssälen , zumindest in Deutschland, bislang: Es gibt keinen Zwang zum Händeschütteln und damit auch nicht zum Anfassen. Und das sollte tunlichst auch so bleiben, und zwar nicht nur, weil es sicher auch genügend Frauen geben dürfte, die dem ein oder anderem Mann nicht einmal zur Begrüßung ihre Hand geben würden. Wer wollte die denn zum Handshake verdonnern und bei Wiederholungsgefahr mit welcher Maßnahme sanktionieren? Oder anders gefragt: Wie viel Gängelei darf es künftig in europäischen Ländern denn noch werden?
Die Gesten der Begrßung wechslen von Land zu Land, von Region zu Region. Während das Händeschütteln – mit und ohne Kopfnicken oder Augenkontakt - in westlichen Industrieländern auch im privaten Miteinander üblich ist und im Geschäftsleben mehr oder weniger auf allen Kontinenten angewendet wird, kommt man sich in manchen Ländern noch viel näher. In Frankreich ist der Wangenkuss üblich bzw. gleich mehrere, und hat sich seinerseits in mehreren Ländern durchgesetzt. So küsst man sich – oder deutet zumindest einen Kuss an – auch bei den europäischen Nachbarn u.a. in Spanien, in den Niederlanden, in Belgien, Luxemburg und in Griechenland, wobei überall ein etwas anderes Reglement herrscht, z.B. zweimal, viermal, dreimal - mit und ohne gleichzeitigem Begrüßungs-Smalltalk.
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In Spanien wird nur die Frau geküsst, für den Mann bleibt nur der Handedruck übrig. In einigen Gegenden Italiens darf man der Dame dagegen nur die Hand geben, wenn diese ihre Hand zuerst anbietet – sie entscheidet allein, wie sie begrüßt werden möchte. Durch die geringen Entfernungen innerhalb Europas ist es für Reisende schon eine echte Herausforderung, sich das alles zu merken, zumal es auch noch diverse regionale Unterschiede in den vielen, einzelnen Ländern gibt.
In Ost-Europa und Russland wird ebenfalls geschüttelt (die Hände) und/oder werden Umarmungen und Bussis verteilt. In Polen und Österreich wird gegenüber Frauen auch noch der fast schon vergessene Handkuss gepflegt – außer in Polen tunlichst ohne jede, direkte Berührung, sondern nur elegant angedeutet. Das sollte Mann vorher unbedingt richtig üben.
Asiaten verhalten sich noch vornehmer, man verbeugt sich in Indien, Thailand oder Japan u.a. Ländern Asiens leicht bis tief, kurz oder lang mit oder ohne Geste der zusammengelegten Hände und/oder gesenktem Haupt - auf jeden Fall immer dankbar und respektvoll auf die ein oder andere Art. Ein kurzes Handesschütteln ist im Geschäftsleben zwar üblich, aber darüber hinaus wäre jedes weitere Anfassen ein Fauxpas. Selbst jemanden zu lange anzuschauen, auch unhöfliches Ansstarren genannt (in Europa hat man das im Laufe der Zeit schlicht vergessen), gilt in vielen Regionen Asiens als verpönt, weil es unangehme Empfindungen beim angestarrten Gegenüber auslöst.
Dagegen weitestgehend bekannt dürfte das Nahekommen der Nasen bzw. das Berühren der Stirn bei den Maori sein, spätestens seit die Boulevard-Presse so erpicht darauf ist, immer neue schicke Bilder zu schießen, die u.a. Bundeskanzlerin Merkel oder Prinz William nebst Gattin Kate zeigen, wie sie von den Ureinwohnern Neuseelands derart begrüßt werden, eine Begrüßung, die, wie auch bei den Inuit, dem Zweck dient, den Atem des Gegenübers zu spüren - man beschnuppert sich. Dass dies gewiss Sinn hat, weil eines anschließenden, freundlich gesinnten Austausches dienlich sein könnte, ist nicht von der Hand weisen, pardon, dürfte einleuchten. Weniger bekannt ist der Gruß der Kung Fu-Kämpfer: Man ballt die zum Kampf bereite rechte Faust, aber legt die linke Hand – des Herzens – darüber und verbeugt sich, um seinem Gegenüber Respekt zu zollen und die besten Absichten auszudrücken, bleibt dabei aber immer abwehrbereit.
Und dann ändern sich Gesten und Gebräuche auch noch ständig ohne Vorankündigung, jede Generation erfindet zudem neue Begrüßungsrituale und letztendlich ist es damit eine Frage der Zeit, der Umstände und des Geschmacks, welche Geste sich länger durchsetzt und welche wieder vergessen wird. Das Rülpsen und Furzen bei Tische, angeblich von Martin Luther einst gepriesen, konnte sich jedenfalls in diesen Breitengraden nicht bis in die Gegenwart durchsetzen.
Die ständige Modifizierung durch jede neue Heranwachsenden-Generation sorgt ebenfalls für ständigen Ärger. So setzte sich einst das informelle „Hallo“ zum Ärger der ältereb Generationen gegenüber dem "Guten Tag" in der Öffentlichkeit durch, inzwischen ist zumindest "Guten Morgen" wieder deutlich in der Beliebheitswertung gestiegen. Auch der Handschlag geriet nach seinem anfänglichen Siegeszug unter jungen Menschen mehr und mehr ins Abseits. Inzwischen scheint das (sanfte) Abschlagen mit geschlossenen Fäusten üblicher als der Handedruck - und gilt selbst unter Experten als die der Gegenwart angemessene Begrüßungsgeste, dazu weiter unten.
Da die Begrüßung auf die eine oder ander Art aber nach wie vor wichtig ist, ist es verständlich, wenn sich unbegrüßte Personen echauffiert zeigen. Ohne auf konkrete Umstände und Details einzugehen, kann man zumindest sagen, dass sich von üblichen Begrüßungsgesten Ausgeschlossene auch mindestens genauso fühlen, nämlich ausgeschlossen und ausgesgrenzt - mit dem Stigma einer Minderheit der nicht Dazugehörenden versehen, allein gegenüber einer Mehrheit der Begrüßten. Mit einer Verweigerung der üblichen Begrüßungsgeste kann darüber hinaus jede noch so gute Stimmung mit einem einzigen (fehlenden Hand-) Schlag vollkommen umkippen – und verärgert i.d.R. nicht nur die direkt Betroffenen.
Da können die beiden Jugendlichen in der Schweiz noch so redlich beteuern, dass sie genau damit doch erst ihren Respekt vor einer Frau gemäß ihrer Kultur bekunden wollten, indem sie diese ausdrücklich nicht anfasssen. Und der Witz daran: Es ist auch wirklich so, Menschen können exakt so empfinden. Die umgekehrte Variante ist auch nicht immer die bessere - auch sie kann dazu benutzt werden, um Frauen respektlos zu behandeln, die Doppelmoral lässt grüßen. Es gibt unendlich viele „Begrüßungs-Erlebnisse“, von denen Mädchen und Frauen berichten, bei denen sie den Eindruck gewinnen mussten, die Chance zum Anfassen bei den üblichen Umarmungen, Wangenküssen und Handschlägen werde von einigen Männern schamlos ausgenutzt, mit Betonung auf einige. Es scheint eher eine Frage des Charakters und nicht der Religon zu sein. Die vom Handschütteln fest Überzeugten werden den Schweizer Teenagern dennoch keinen Glauben schenken, sie befürchten im Gegenteil ihrerseits eine bewusste Herabwertung durch den ausdrücklich einer Frau verweigerten Handschlag - und vertreten darüber hinaus die These der Anpassung, schließlich musste selbst Prinz William in Neuseeland den Atem seines Gegenübers erschnuppern und kann sich auch nicht darüber beschweren, denn es handele sich um eine in Stein gemeißelte Landessitte, der man gefälligst Folge zu leisten habe.
Man kann trotz allem Verständnis für das Gefühl des Ausgegrenztwerdens nur davor warnen, aus den Schweizer Vorgängen einen Zwang zum Anfassen abzuleiten und jeden Menschen – ob mit oder ohne Gerichtsverhandlung – dazu verdonnern zu wollen, einem anderen Menschen die Hand geben zu müssen. Zunächst scheint es nur eine kleine, harmlose Geste zu sein, aber (s.o. die Italienerinnen, die selbst entscheiden), wenn man sich die Geschichte der Begrüßungsformalien ansieht, war auch diese durch die Jahrhunderte alles andere als durchgehend von gegenseitiger Freundlichkeit geprägt. Vielmehr spiegelte sich in den vielen Gesten des Miteinanders und darunter auch in denen der Begrüßung die vorhandenen Machtverhältnisse wieder, in denen einem im jeweils sozialen Gefüge Höherstehenden in allen Bereichen mehr Rechte als einem Rangniedrigerem eingeräumt wurden. Geradezu revoultionär hatte der Papst dieses Jahr mit so einer Geste aufgeräumt, indem er zum ersten Mal in der Geschichte der katholischen Kirche Frauen die Füße wusch. Das zeigt, einmal mehr, dass Geschichte immer forgeschrieben wird, und auch die Geschichte der Begrüßungsgesten verändert sich fortlaufend.
Jahrhundertlang mussten sich nicht nur rangniedrigere Erwachsene, sondern vor allem die Kinder Europas ständig gegenüber sozial Mächtigeren verbiegen und verbeugen. Sie waren ständig den Züchtigungen und Zuneigungen ihrer Könige, Lehnsherren, Eltern, Arbeitgeber (Kindarbeit war einst in Europa üblich, und es ist noch nicht lange her) und Lehrer vollkommen hilflos ausgsetzt, Kinder hatten gewöhnlich keine Rechte. Irgendwann erkannt man, wie nachhaltig, generationsübergreifend schädlich und damit falsch Gewalt gegenüber Kindern ist. Das Gesetz, das Kindern eine gewaltfreie Erziehung garantiert, aber ist in Deutschland gerade einmal 16 Jahre alt – und auch heute noch keine Garantie dafür, dass Kinder dieses Recht auch bekommen. Dass sie es bekommen gilt als die wichtigste Voraussetzung für ein wortwörtlich selbstbestimmtes Leben im Erwachsenenalter.
Um das zu erreichen mühen sich seit immerhin einigen Jahrzehnten Eltern, Erzieher, Ärzte und Lehrer damit ab, Kindern und Jugendlichen beizubringen, dass sie auch ausschließlich selbst über ihren Körper entsscheiden, inbesondere, wann sie sich von wem anfassen lassen möchten, gilt als eine unverzichtbare Prävention gegen Gewalt und sexuellem Missbrauch.
Damit wissen inwzischen zumindest die meisten Menschen oder sollten es wissen, dass einer Erziehung zu selbstbewussten Menschen auch der aufgezwungene, schmerzhafte Händedruck von Onkel Paul, der das als einziger lustig findet, oder die übermächtige Umarmung von Tante Erna, vor der allen Kinder bei ihrem Eintreffen regelmäßig flüchten, zuwiderläuft. Eine sichere Methode als eine - womöglich noch wiederholte - erzwungene Berührung gibt es wohl kaum, um gründlich zu verlernen, wie man zu etwas Nein sagt, das körperlich als unangenehm empfunden wird. Es kann daher insbesondere für Kinder und Jugendliche keinen Zwang zum Händedrücken und -Schütteln o.ä. geben, sie müssen das Recht haben, selbst darüber zu entscheiden.
Selbst für erwachsene Menschen ist eine erzwungene Berührungeine Erniedrigung, auch sie kann man nicht zum Händeschütteln zwingen. Es handelt sich bei jeder körperlichen Berührung um so etwas wie eine sehr persönliche, au0erdem übereinstimmende Willenserklärung, die bisher freiwllig abgegeben wird - und damit fast schon so etwas ist, wie ein Vertrag. Der eine bietet seine Hand an, der andere nimmt sie an.
Könnte ein Händedruck gerichtlich eingeklagt werden, wäre dies über eine erniedrigende, weil erzwungene körperliche Berührung hinaus, auch noch eine deutliche Einschränkung im Sinne der Vertragsfreiheit sowie eine Einschränkung eines freiwilligen Miteinanders auf Augehöhe und bewirkte damit lediglich den direkten Schritt vorwärts in die Vergangenheit:
Man könnte dann genauso gut dazu verklagt werden, den Nachbarn näseln zu müssen, weil nebenan Maori eingezogen sind, dem Arbeitgeber oder Vermieter stets einen roten Teppich auszurollen, weil er von altem Adel ist, den Lehrer mit Knicks oder Verbeugung zu begrüßen, weil er gefühlt aus dem 18. Jahrhundert stammt und es angesichts der modernen, verwahrlosten Jugend für sinnvoll hält. Das ist lächerlich. Bei allem Verständnis für vielleicht wirklich schwwer verletzte Gefühle, aber es kann keinen Zwang zum Anfassen – und damit auch keinen Zwang zur dieser oder jener Begrüßungsgeste geben.
Wem das alles noch nicht genug ist, um sich nicht weiter zu echauffieren, weil angeblich die Rechte der Frauen mit Füßen getreten werden, der Untergang des Abendeslandes bevorsteht und wer weiß, was es noch im veweigerten Händedruck zu entdecken gibt, sollte sich einmal die Ansteckungsgefahr durchs ständige Händeschütteln vergegenwärtigen: Willkommen im Neuland der dramatisch zunehmenden Resistenzen.
Im Winter ist man in Deutschland schon merklich zurückhaltender im Verteilen von Händen, Umarmungen und Küsschen geworden, um keine Grippe zu bekommen, die bekanntlich tödlich sein kann. Mittlerweile sind Frühling und Sommer aber auch keine Gerantie mehr dafür, sich nicht irgendetwas zumindest Lästiges übers gar nicht harmlose Händereichen einzufangen, und damit ist auch unser Artikel „Hände weg“ mit dem alleinigen Hinweis auf die Grippegefahr in den Wintermonaten längst überholt.
So kann man den Jugendlichen zu ihrer Begrüßungsart des „Fäustelns“ nur noch gratulieren. So hygiensich richtig verhielt sich bisher noch keine einzige Generation bei der Begrüßung. Man wäre mit einem Zwang zum Händeschütteln womöglich ständig damit beschäftigt, sich gegenseitig zu verklagen, wegen nachgewiesener Ansteckung oder weil in einem Haushalt, Geschäft, einem Büro, einer Schule, Uni oder Kindertagesstätte mit dem Zwang zum Handschlag etwa die notwendigen Informationen über eine aktuell grassierende Infektion nicht erteilt oder schlicht nicht weitergegeben wurden. In Berlin befinden sich übrigens momentan wieder einmal die Masern auf dem Vormarsch. Das Abendland wird mit einem Zwang zum Händeschütteln demnach wesentlich schneller untergehen - als ohne.
Insofern wird sich, auch wenn diese Entwicklung sicher mit etwas Wehmut verbunden ist, der gegenwärtig noch beliebte Händedruck vielleicht schon bald von selbst verabschieden, weil er längst von veränderten Lebensumständen eingeholt wurde und damit schlicht veraltet ist. Wenn aber solch ein restriktives Gebot zur Beibehaltung von veralteten Ritualen tatsächlich Schule machen sollte, schaffen wir mit derart minutiösen, für alle Ewigkeiten in Stein gemeißelten Beziehungs-Regeln darüber hinaus lediglich unsere eigene Scharia - made in Europe.
2016-06-02, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: © Angelika Petrich-Hornetz
Fotos Hände: ©Cornelia Schaible + Birgid Hanke
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