von Angelika Petrich-Hornetz
Neben den Ursachen, wie EU-Müdigkeit und Politikverdrossenheit, kann der Brexit auch als eine der bisher einschneidensten Folgen der demografischen Entwicklung in den alternden Industrienationen Europas betrachtet werden.
Während man in Deutschland das sich langsam schließendeZeitfenster für Rentenreformen verpasst – mit zunehmnder Alterung werden Renten-Reformen durch eine Mehrheit der Ruheständler abgelehnt werden, heißt es in diversen Einschätzungen dazu - hat man in England offenbar das Zeitfenster für eine vernünftige EU-Politik verpasst, sondern sich darauf verlassen, seinen Sonderstatus so lange auszubauen und die eigene EU-Abneigung so lange öffentlich wirksam zu zelebrieren , bis immer weniger Briten irgendwelche Vorteile eines geeinten Europas erkennen konnten – mit Ausnahme der Jugend. Um die 75 Prozent der 18- bis 24-jährigen Briten sollen pro EU gestimmt haben. Und die fühlen sich nun um ihre Zukunft betrogen.
So zeichnete sich neben den erstaunlich deutlichen, regionalen Unterschieden (Schottland und Nordirland für die EU, England und Wales dagegen) auch bei den unterschiedlichen Einstellungen der Briten zur EU nicht zum ersten Mal ein Generationen-Konflikt zwischen Jung und Alt ab, und der wird ähnlich auch in den 27 EU-Mitgliedsstaaten anzutreffen sein,. Insbesondere dürfte der Graben umso größer in denjenigen EU-Ländern ausfallen, in denen sich mittlere und ältere Generationen wieder verstärkt nationalen Interessen zuwenden, während die jetzt flügge werdende Jugend, sich längst an internationalen Austausch und Zusammenarbeit gewöhnt – und deshalb ganz anderes im Sinn hat.
Seit dem denkwürdigen 23. Juni proben die Jungen nun den Aufstand, schimpfen über den Egoismus der Älteren, die mangels Lebenszeit die Folgen ihrer historischen Fehlentscheidung ungeniert der Jugend aufbürden - und sammeln Unterschriften für ein neues Referendum. Die europafreundlicheren Schotten – von den durch den Brexit verursachten neuen Geschäftsbedingungen des Vereinigten Königreiches brüskiert – nehmen derweil einen zweiten Anlauf zum Austritt aus dem Inselverbund ins Visier. Ob etwa Boris Johnson oder Nigel Farage sie davon werden abhalten können?
Die Abstimmungsergebnisse von Großbritannien sind hinreichend durchgekaut, die überall zunehmende Unzufriedenheit über die EU bekannt. Interessanter ist in diesen Tagen die unterschiedliche Einstellung der Generationen zur europäischen Identität. So würden sich auch in vielen EU-Ländern, darunter in Deutschland, ältere Mitbürger i.d.R. in geringerer Zahl als bekennende Europäer bezeichnen, während sich immer mehr jüngere Menschen problemlos damit identifizieren können, Europäerin und Europäer zu sein und sich auch offen als solche bezeichnen.
Das wirkt überraschend, angesichts der jüngsten Entwicklungen, wie der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Europa, aber auch den lautstarken EU-Ressentiments der Älteren, die ihnen ständig in den Ohren klingen. Das jugendliche Bekenntnis zu Europa zeigt einerseits einen nach wie vor jugendlichen unerschüttlichen Optimismus, aber auch eine erstaunlich emotiotionale Verbundenheit mit einem Europa, das mit seiner Jugend nicht immer zimperlich umgeht. Dieses breite Vertrauen ist vielleicht überhaupt die größte Chance des Kontinents, das nicht zuletzt auch der demografischen Entwicklung viel mehr entgegensetzt, als einige Ältere momentan auch nur ahnen können.
Während in den Augen einiger Menschen, auch in Deutschland, die Jugend Europas lediglich noch dazu taugt, als frische Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt möglichst ohne Zeitverzögerung zur Verfügung zu stehen, um die soziale Absicherung der vielen Altern auch weiterhin zu gewähleisten,, nimmt sich diese Jugend offenbar selbstbewusst heraus, etwas mehr als nur das vom Leben zu erwarten und dafür längst über nationale Denkweisen erhaben zu sein, nicht nur gedanklich, sondern auch im Handeln.
Das rückt die Aufassungen und dementsprechenden Äußerungen der in engen, nationalstaatlichen Grenzen denkenden Bürger zurecht, die sich selbst nur persönlich nicht vorstellen können, nicht mehr Brite, Franzose, Deutscher, Pole oder Italienier, sondern zuerst Europäer zu sein.
Wenn es für nur für sie selbst unvorstellbar ist, sich als Europäer zu definieren, und sie deshalb meinen, ihre Kinder und Enkel würden ganz genauso denken, schließen sie damit jedoch nur von sich selbst auf ihre ganz anders eingestellte Jugend. Es wäre gerade jetzt interessant, wenn die Forschungsinstitute und Statistiker zum Phänomen der europäsichen Identität etwas mehr Information beitragen könnten.
Wichtiger als Stimmungen und Umfrageergebnisse – und auch das bestätigte der Brexit einmal mehr –, ist aber die Realität und da darf auch etwas Kritik an der Jugend Europas – inklusive an ihrem Umfeld – nicht fehlen:
In den meisten europäischen Ländern gehen immer noch vorwiegend ältere Männer ab 60 Jahre regelmäßig an die Wahlurnen. Dagegen fehlt genauso regelmäßig ein viel zu hoher Prozentsatz der Jugend bei jeder einzelnen Wahl komplett – ähnlich war das wohl auch der bei der Volksabstimmung Großbrtianniens.
Und das „jugendliche Umfeld“? Hat uns die Technik dazu etwas Neues zu sagen? Wo sind die Apps, die jugendliche Wähler rechtzeitig daran erinnern, dass bei ihnen vor Haustür gerade eine neue Schülervertretung, eine Studentenvertretung, ein neuer Betriebs- oder Personalrat, ein neuer Bürgermeister, eine Ministerpräsidentin oder gar eine ganze Bundesregierung neu gewählt wird?
Warum säuseln, klingeln, schreien oder scheppern der Sprachassi und die Fitness-App nur bei kommerziellen Sonderangeboten und nicht genauso unüberhöbar – bei gleichzeitiger Verweigerung der nächsten Fastfood-Ration -, um den gegebenenfalls noch schlaftrunkenen Jugendlichen bis 18:00 Uhr in das Wahllokal zu bugsieren? Wo bleiben am Wahltag die motivierenden Einblendungen in sozialen Netzwerken, um der Jugend Europas durch deren höchstpersönliche Beteiligung endlich die gewichtige Stimme zu geben, die ihr schließlich zusteht?
Was soll die ganze Unterhaltungselektronik, wenn sie nicht einmal dazu in der Lage ist, ihre Hauptkundschaft mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln auch nur minimalistisch darauf hinzuweisen, dass heute Wahltag ist – und nicht morgen – und dass damit eine äußerst wichtige demokratische Entscheidung mit direkten Auswirkungen auf das eigene, noch lange Leben fällig ist?.
Und wo bleiben die demokratischen Parteien mit irgendwelchen innovativen Ideen, die medientechnisch hochgerüstete Jugend zu analogen Wahlurnen zu bringen? Was betreiben die sozialen Netzwerke an Wahltagen eigentlich so Soziales, dass ihnen die Wahlbeteiligung ihrer Klientel so dermaßen schnurzegal sein kann?
Vor diesem Hintergrund wünscht man sich in Europa nicht zum ersten Mal ein wenig mehr vom amerikanischen Geist der Graswurzelbewegungen, deren Jugend auch nicht medienunabhängiger als die europäische ist, die aber im Vorfeld von Wahlen regelmäßig zu ausgelassenen Wahlparties einlädt und mit Leidentschaft über sämtliche Medien-Kanäle wahlkämpft - sich aber trotzdem nicht dafür zu schade ist, potenzielle Wähler auch ganz schlicht an der Haustür analog aus den Betten zu klingeln.
Wenn eine Lehre aus dem britischen Desaster gezogen werden kann – und wenn man nicht akzeptieren will, , dass bis auf Weiteres vorwiegend ältere Herren die Politik Europas bestimmen, die schließlich auch nichts dafür können, dass die anderen nicht kommen, kann man jungen Europäern und Europäerinnnen jetzt nur noch eines zurufen: Last euch nicht von den Generationen XY über den Tisch ziehen, geht nicht nur zur Wahl, sondern rennt, und zwar zu jeder einzelnen, die sich auch nur bietet. Steht Schlange vor den Wahllokalen, füllt die Wahlurnen, bis sie überlaufen – und werft damit endlich eure Stimme in die europäische Waagschale.
2016-07-01, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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