von Annegret Handel-Kempf
Er schaut gar kein Fernsehen mehr, „schon seit Jahren“. Stattdessen wird der Anton aus YouTube, Künstlername „ViscaBarca“, gesehen, von fast einer Million Abo-Zuschauer. Zur IFA 2016 schauen die Jungen die Videos vom Alltag ihrer YouTube-Stars und manche Ältere bald gar nichts mehr: Ihnen wird das kostenfreie Antennen-Fernsehen weggenommen. Die smarte Rechtfertigung: „Technologiesprung.“
Am 29. März 2017 ist Stichtag für die kostenpflichtige Freischaltung. Dann hat das klassische Antennenfernsehen, das zum Empfang der Öffentlich-Rechtlichen und einiger privater Programme – außer den Haushaltsgebühren – nichts kostete, ausgedient. Mit ihm jede Menge Fernseher und Peripherie-Geräte alter Technologie. Neben Receivern sind auch CI+ Module im Handel erhältlich, mit denen bereits vorhandene DVB-T2 HD-fähige Endgeräte für den Empfang von freenet TV aufrüstbar sein sollen. Alte Antennen sind unter Umständen noch verwendbar.
Stolz sei man auf die „Innovationsführerschaft“ Deutschlands beim DVB-T2, wie Stefan Schinzel, Leiter Product-Management TV-Plattform bei Media Broadcast, bei der IFA-Preview in München sagte. Neben bis zu 20 öffentlich-rechtlichen Sendern in HD, werden etwa 20, in Worten des Anbieters, „alle beliebten Privatsender“ in High Definition (Full HD) empfangen werden. Sofern mit ausreichend Pixeln produzierte Inhalte bei den Sendern überhaupt vorhanden sind. Das Daten-sparende Secure Digital (SD)-Fernsehen ist dann Vergangenheit. Begründung durch Schinzel: „Die knappe Frequenzsituation, wir mussten überlegen, was tun.“ Der Service freenet TV kostet ab dem 1. Juli 2017 nach dreimonatiger Testphase eine fixe Jahresgebühr und soll mit einer Reichweite von über 80 Prozent der Haushalte bundesweit verfügbar sein (siehe auch "Empfangscheck" bei www.freenet.tv).
Die öffentlich-rechtlichen, über die einstige GEZ finanzierten Sender kosten theoretisch nichts zusätzlich zur Haushaltsabgabe, stecken aber im 69-Euro-„Paketabschluss“ – pro Endgerät! - der privaten Programme mit drin. Die Privaten sind künftig ausnahmslos zu bezahlen.Ein Alternativ-Paket gibt es nach aktuellem Stand nicht. „Ohne Kabelsalat, ganz einfach einstecken und schärfer fernsehen – so funktioniert das neue TV-Angebot“, wirbt der Anbieter, mit dem verwirrenden Namen „freenet TV“.
Die Kunden werden sich dennoch nach Alternativen umsehen: Mit wachsender Geschwindigkeit verläuft die Entwicklung des Fernsehens vom linearen Fernsehen nach Programmvorgabe hin zum selbstbestimmten Streamen, der direkten Wiedergabe von Video-Dateien aus dem Internet ohne bleibenden Download. Einer Studie des Branchenverbands Bitkom im Vorfeld der Internationalen Funkausstellung (IFA) in Berlin (2. – 7. September) zufolge, ist Video-Streaming vor allem bei der jüngeren Zielgruppe beliebt: 88 Prozent der 14- bis 29-Jährigen und 90 Prozent der 30- bis 49- jährigen Internetnutzer streamen Videos. Zwei Drittel der 50- bis 64-jährigen Internetnutzer geben an, Filme, Serien oder TV-Inhalte im Internet zu schauen (66 Prozent). Unter den über 65-Jährigen ist es gut ein Drittel (36 Prozent).
Doch was ist „Fernsehen“? – Vielen ist gar nicht bewusst, dass ihr Konsum von TV-Inhalten, die mit oder ohne Gebühren-Gelder produziert werden, auch irgendwie zum Fernsehen zählt. So wie dem Anton von YouTube, der „nur Fußball, Schlag‘ den Raab ab und zu, online oder als Wiederholungen“ sieht. Lange Zeit war die zeitliche und örtliche Flexibilität modernen Fernsehens nicht einmal den fürs Weiterleben oder Bestatten von TV-Shows, -Serien, -Dokumentations-Reihen oder Sportübertragungen jenseits von Fußball so wichtigen Quotenzählern klar. Das heißt, auch bei der Erhebung der Zuschaueranteile spielt erst allmählich die Nutzung der Inhalte nach persönlichem Tagesschema über Mediatheken oder andere Internet-Abrufportale via internetfähige Fernseher, Tablets, Smartphones und Co. eine Rolle. Höchste Zeit, denn nur 39 Prozent schauen TV-Programme live im Internet. Gut die Hälfte (56 Prozent) nutzt Video-Portale wie Youtube, Vimeo oder Vevo, auf denen Nutzer teilweise auch eigene Inhalte einstellen können.
„Anders als früher werden Fernsehen, Filme oder Serien heute orts- und zeitunabhängig konsumiert“, sagt Timm Lutter, Bitkom-Experte für Consumer Electronics & Digital Media. „Video-Streaming-Dienste ermöglichen den Verbrauchern, selbst zu entscheiden, wann, wo und wie sie sich Filme, TV-Serien oder andere Videos anschauen.“
Die Fernsehsender stellen sich auf das veränderte Verhalten ihrer Konsumenten ein. Besonders der Jungen, aber nicht nur. Das heißt, sie vermarkten Künstler. So wie den Anton aus YouTube, der sich auch über Facebook, Twitter, Instagram und andere soziale Netzwerke eine schöne Zeit mit seinen Nutzern macht. Von denen twittert einer, der anscheinend noch nicht genügend Wasserbomben-Schlachten seines Stars konsumiert hat, um für den Tag Spaß zu haben: „Hey Barca alles klar bei dir wie gehts dir so? Mir ist langweilig mavh was lustiges... Bittr“
Ganz in der Nähe des Landkarteneintrags „Kindergeburtstag Märkisches Museum“, ist das Studio71 der Pro Sieben Sat 1 Media AG in Berlin gelegen. Nach eigenem Bekunden „Experte, wenn es um die Distribution und Vermarktung von Bewegtbild-Inhalten über verschiedene Medienkanäle geht. … Darüber hinaus unterstützen wir Marken gezielt beim Aufbau oder der Optimierung ihrer Brand Channels… Studio71 ist der ideale Partner für ambitionierte Künstler und Werbetreibende, die ihre Marken zielgruppengenau präsentieren“
Johannes Schmidbauer, Head of Corporate Channel Management, Studio71, ist ein 32-Jähriger Bartträger, der mit fixierendem Blick und einer Sprach-Modulation, die an Fantasy-Serien erinnert, die Menschen in den Bann der Social Media Kanäle und ihrer Vermarktung zieht: „Chaos ist ein gutes Sinnbild für YouTube und für die Online-Bewegtbild-Welt… Eine Zahl, die mich fast schon erschaudern lässt: Jede einzelne Minute, und da spreche ich nur für YouTube, werden 400 Stunden Videomaterial hochgeladen. Unvorstellbar.“
Die Welt amüsiert sich mehr oder weniger über das, was im Netz zu sehen ist. Digitale Technik macht es möglich, den Selbstverwirklichungsdrang, der einst zu Kassettenrekorder-Aufnahmen für Omas Geburtstag führte, heute öffentlich auszuleben. Aufmerksamkeit zu heischen, die beispielsweise Radiosender in ihren Auswahl-Listen auf die Kreativen lenken. Schmidbauert: „Unsere Aufgabe bei Studio71 ist, aus dieser Masse Form zu kreieren.“
Ganz im Sinne des Gestaltungsleitsatzes aus dem 19. Jahrhundert: „Form follows function.“ Doch was ist die Funktion der Fan-Attraktionen? Unterhaltung? Werbung? Wie läuft das? Schmidbauer: „Wir haben die Künstler exklusiv unter Vertrag genommen, wie ein Record Label. Wir haben angefangen, eigene Kanäle zu produzieren. Im vergangenen Jahr sind fünf unserer Influencer bei Stefan Raab in der Wok-WM mitgefahren und haben Aufmerksamkeit aufs lineare Fernsehen gelenkt.“
Seit Juli 2016 ist der Anton aus YouTube bei Studio71 unter Vertrag. Dabei war der bescheiden wirkende Jung-Erwachsene schon vorher nicht schlecht im Geschäft. Gegen seine Fan-Klamotten sehen die FC-Bayern-Leibchen mit ihren braven Knöpfen unter der Kehle ziemlich blass aus. ViscaBarcas Internet-Spruch dazu: „Hey Leute, gönnt Euch meinen Merchandise!
Zu jedem bestellten Teil gibt es eine eigenhändig unterschriebene Autogrammkarte dazu!“ Mit 17 Jahren ist der Anton vom Gymnasium abgegangen, obwohl er ein sehr guter Schüler war. Der Beweis für Letzteres? „Ich habe es im Video erzählt.“
Der selbstgeschaffene YouTube-Star redet aber auch live über sich. Beispielsweise bei der Preview in München, im Ton seiner Internet-Videos, in denen er seine Fans so anspricht, als wäre er ihr Freund von gegenüber: „Mein Name ist Anton, Künstlername ViscaBarca. Ich war schon bei 900.000 Abonnenten. Ich habe damals angefangen als 16-Jähriger. Es war erst nur ein Hobby. Und mit der Zeit ist es explodiert und zum Beruf geworden. So ist es zum Schicksal geworden und ich habe nie gedacht, dass es klappt, bei YouTube, in so jungem Alter. Ich habe angefangen mit Gaming, wollte einfach nur zeigen, ich bin gut im Ego-Shooter. Je mehr Abonnenten man hat, desto mehr interessieren sich die Leute für die Persönlichkeit, die man hat. Ich kann heute alles hochladen, was ich mache. Ich werde natürlich überall erkannt, beim Bäcker... Auf meinem ViscaBarca-Kanal lade ich alle zwei Tage etwas hoch, auf dem anderen täglich.“
Schmidbauer über das Phänomen „Anton“ und anderer YouTube-Millionäre: „Da gibt es eine unfassbare Relevanz, unfassbare Aufmerksamkeit in der Jugend“.
Wie erklärt sich der Jung-Star seine Attraktivität? ViscaBarca: „Für meine Fans bin ich ein Vorbild, der richtig gute Zocker. Der junge Typ auf YouTube, der sein Leben lebt, der immer gut drauf ist, obwohl er erst 19 ist.“
Sich etwas gönnen, lautet wohl die Zauberformel. Beim Hochladen und beim Anschauen. Selbstgewolltes Erlauben von Stalker- oder Paparazzatum.
ViscaBarca im Web über sein Handeln: „Prinzipiell lade ich alles hoch, worauf ich Bock habe (CoD-Videos, Vlogs, Challenges, LIVE-Gameplays usw.). Ich kämpfe leidenschaftlich für meine Träume und dank YouTube, habe ich schon viel von der Welt gesehen und konnte z. B. in Barcelona für drei Monate wohnen, was schon immer einer meiner großen Wünsche war.“
Wie das genau funktioniert mit den künstlerischen „Influencern“ und warum plattes Produkte-Erwähnen nicht klappt, erläutert Pro7-Mann Schmidbauer: „Das ist ein anderer Weg, Werbung zu machen. Online ist es viel wichtiger, Werbung als eine Art Mehrwert zu machen. Wenn einem Influencer eine Reise zur EM finanziert wird und er am Ende seines Videos von dort Danke sagt, ist auch die Community dankbar.“
Verdienen mit Videos. Ohne den Umweg über Hollywood. Einfach über Social-Media-Propaganda. Für Johannes, den Former, eine klare Formel: „Je größer Du bist, desto relevanter bist Du auch in der Vermarktung.“ Die Likes und Dislikes sind aber launisch. Studio71 baut vor: „Wir haben auch eine Nachwuchskampagne“. Was würde aber aus Anton, wenn ihn keiner mehr clickt? ViscaBarca: „Ich denke immer positiv. Wenn nicht vor, dann arbeite ich hinter der Kamera. Muss ich studieren gehen?“
Immer mehr Zuschauer zahlen auch direkt für Video-Portale, die Filme und Serien auf Abruf – On-Demand - anbieten: Ein Viertel (25 Prozent) nutzt solche sogenannten On-Demand-Portale, die in der Regel kostenpflichtig sind. 2015 waren es 22 Prozent, 2014 erst 19 Prozent. Mit dabei sind Amazon Video, Apple iTunes, Google Play, Maxdome, Netflix, Sky Go oder Watchever. „Einige Portale produzieren eigene Filme, Serien oder Dokumentationen. Das kommt bei den Nutzern an“, sagt Lutter.
Sind die kostenfreien YouTube-Abos hingegen ein Jugendphänomen?
Schmidbauer: „Ein relativ großer Part unserer Zuschauer ist im Alter von 25 bis 44 Jahre. Wenn wir die Künstler anschauen, die wir bei Studio71 betreuen, wird man eines besseren belehrt. EliZZZa, eine Wienerin, ist 70 und hat einen Häkel- und Strick-Kanal. Ihre Zuschauer sind über 45 und weiblich.“
2016-08-25, Annegret Handel-Kempf, Wirtschaftswetter
Text: ©Annegret Handel-Kempf
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