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Europas symptomatischer Donnerstag

Der alte Kontinent ist eingekeilt zwischen Streitkultur und Demokratie-Verachtung, aber handlungsfähig

von Angelika Petrich-Hornetz

Ein Donnerstag im März

Ob Donald Trump, der neue US-Präsident, mit seinem "einmaligen" Führungsstil ebenfalls einen Beitrag leistete, war zumindest an einem Donnerstag im März erstaunlich unerheblich. Europa hatte auch so schon genug zu tun. Drei Ereignisse prägten den Tag, der symptomatisch für den Zustand des alten Kontinents steht. Das demokratische Europa ist gegenwärtig offenbar eingekeilt zwischen seiner internen Streitkultur und dem wachsendem Druck von außen, durch immer mehr Demokratie-Verächter.
Hinzu kommen nichts weniger als internationale Dauerkonflikt-Regionen, inklusive einer wachsenden Weltbevölkerung, deren Anteil in prekären Lebenslagen wächst. Während Regierungen mit dikatorischen Tendenzen nichts anderes einfällt, als Mauern zu bauen, steigt auch diesbezüglich der Druck weiter an, dass die Europäer politische Lösungen für internationale Probleme außerhalb der EU-Außengrenzen finden. Europa sitzt damit sozusagen auf dem nackten Boden der Tatsachen zwischen allen Stühlen. Mit solchen Fakten-Konfrontationen sind die Erwartungen entsprechend hoch, von Neiddebatten ganz zu schweigen. Europas Position ist aber gar nicht einmal so düster, wie es zunächst scheint oder wie sie die Mauerbauer ausmalen.

Frankreich umfliegen

Vom ersten Thema des 9. März wurden Flugreisende kalt erwischt. Wer zum Beispiel in der Woche um den neunten März von Hamburg nach Barcelona reisen wollte, stand ausgerechnet im grenzenlosen Europa einmal mehr vor unüberbrückbaren Hindernissen. . Das erste denkwürdige Ereignis dieses Tages war der seit Montag fortgesetzte Fluglotsenstreik in Frankreich - besonders tückisch, weil damit im Luftraum eines EU-Mitglieds überhaupt nichts mehr ging, aber genau das in allen anderen durchaus noch sollte.
Und so blieb den Fluglinien nichts anderes übrig, als die organisatorisch und zeitlich kostenintensive Maßnahme zu ergreifen, Frankreich zu umfliegen. Was bei den Fluglinien und Reisenden für Ärger sorgte, wirkte auf Außenstehende eher belustigend, zumal es sich im Vergleich zu vielen anderen um ein Luxusproblem zu handeln schien. Allerdings, in weniger demokratischen Ländern sorgte es für empörtes Kopfschütteln, schließlich wagt sich dort kein Mitarbeiter an so etwas Exotisches, wie die Arbeit niederzulegen.
Überhaupt, Proteste - ein ganz heikles Thema. Sie werden in einer wachsenden Zahl von Ländern immer weniger gern gesehen. Statt sich inhaltlich mit den Vorträgen auseinanderzusetzen oder sich gar mit den Vortragenden an einen Verhandlungstisch zu setzen, vielleicht sogar einen Kompromiss zu finden, begnügt man sich in vielen Regierungen der Erde inzwischen damit, Protestler in Gefängnisse zu stecken und gleichzeitig verächtlich auf ein Europa zu starren, dass es wagt, sich die freie Meinungsäußerung überhaupt noch zu erlauben, die man im eigenen Land angeblich so erfolgreich unterbunden hat. Europa muss sich damit abfinden, bei Radikalen genauso beliebt zu sein wie bei Diktatoren, die sich nicht vorstellen können, dass Flugreisende aus und in Richtung Spanien aufgrund dieses Rechts auf freie Meinungsäußerung umständlich über Italien oder Großbritannien umgeleitet werden, stundenlange Verzögerungen und Scherereien gratis.

Der Prophet im eigenen Land

Am 9. März wählten die Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten, außerdem ihren neuen EU-Ratspräsidenten. Die Wahl sollte das zweite denkwürdige Ereignis des Tages werden. Schon vorher war klar, dass sich der vorherige, der sich in den Augen vieler bewährte, Ratspräsident Donald Tusk aus Polen zur Wiederwahl für eine zweite Amtszeit zur Verfügung stellen wird. Die Mehrheit der EU-Länder signalisierte im Vorfeld bereits ihre Zustimmung - mit der Amtsführung Tusks war man offenbar zufrieden.
Nicht so im eigenen Land. Der aktuellen rechtskonservativen Regierung Polens missfiel der Kandidat aus dem eigenen Land so sehr, dass Regierungsvertreter bereits im Vorfeld martialisch verkündeten, "alles" gegen die Wiederwahl Tusks zu unternehmen, ja sogar den ganzen EU-Gipfel platzen zu lassen. Offenbar zeigte die Drohung keine Wirkung. Polens Regierungschefin Beata Szydlo hatte damit das zweifelhafte Vergnügen, ihren Name mit einem historisch einmaligen Alleingangs Polens zu verbinden. Polen bleibt bei der Wahl nun das einzige EU-Land, das gegen Tusk und damit gegen den eigenen Landsmann stimmte. Damit dürfte sich der Satz, der Prophet gelte im eigenen Land nichts, einmal mehr bewahrheitet haben und für das europäische Klein-Klein stehen, mit dem man sich wohl oder übel immer wieder auseinandersetzen muss. Selbst auf EU-Gipfeln fällt dem ein oder anderen EU-Land immer mal wieder eine persönliche Fehde ein oder der Sinn für das große Ganze setzt ganz urplötzlich aus. Das dazu passende große Ganze heißt aktuell: Europa steht gegenwärtig international unter sehr starkem Druck. Allein seine innere Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft ist genau die Stärke, die nach außen wirkt. Dass die internen Streitereien, trotz der wachsenden Anforderungen von außen, weitergehen werden, dürfte sicher sein, aber auch, dass die EU handlungsfähig ist, wenn sie sich Strukturen gibt, die ihre Handlungsfähigkeit trotz ihrer Meinungsvielfalt zulässt - und das heißt als Konsequenz, die innere Demokratie stärken.

Ein guter Gastgeber empfiehlt sich

Getoppt wurde der symptomatische Donnerstag vom türkischen Außenminister, der auf der Internationalen Reisemesse in Berlin für eine solche Gelegenheit seltsame Töne anschlug. Geht man davon aus, dass auf einer Reisemesse für das eigene Land als Reiseziel und damit um Touristen geworben werden soll, klangen die Worte eines Außenministers im höchsten Maße befremdlich. Die Stimmung der Tourismusmanager soll dementsprechend nicht die beste gewesen sein. Doch auch in diesen Kreisen setzt sich die türkische Mundtot-Regierungspolitik inzwischen durch: Offen äußert sich kaum noch jemand. So dozierte der türkische Außenminister im Ambiente einladend wirkender Messestände, allerdings vor dem Hintergund diverser gescheiterter Wahlkampf-Auftritte, für das zweifelhafte, türkische Referendum, das auch in mehreren EU-Ländern abgehalten wird, über den Zustand Europas. Darüber, dass er diesen allen Ernstes mit dem Europa im zweiten Weltekrieg gleichsetzte, kann man nur noch peinlich berührt den Kopf schütteln. Wie viel Geschichtsvergessenheit darf es denn diesmal sein? Und ob solch eine Äußerung die Europäer als Gäste an die türkische Küsten, als einem Hort des Friedens locken wird?
Dabei galt die Türkei viele Jahre als eines der gastfreundlichesten Reise-Länder der Welt, nicht nur für Kurz-Urlaubsreisende. Wer in der Vergangenheit, nämlich vor dem aktuellem, harten Kurs der türkischen Regierung, schon einmal das Vergnügen türkischer Gastfreundschaft erleben durfte, weiß um die außergewöhnliche Freundlichkeit seiner Bewohner und dürfte gerade deshalb auch alles andere als amused gewesen sein, als der Außenminister offenbar vergaß, sich auf einer Reisemesse zu befinden. Dass er dort vor der versammelten Presse seinem Ummut Luft verschaffte, auch wenn er nicht so weit ging, wie sein Präsident, der Europa und Deutschland kurz zuvor mit diversen Nazi-Vergleichen eindeckt hatte, dürfte der Reiselust und der türkischen Tourismusbranche damit eher geschadet haben. Das kann man auch nicht mehr mit Anschlägen erklären, die inzwischen überall stattfinden. Mit unangebrachten Vergleichen verabschiedet sich die türkische Regierung selbständig von ihrer tief verwurzelten eignen Gastfreundschaft - zumindest Europäern gegenüber - und dies aus der Sicht Letzterer ganz ohne Not. Offenbar ist der türkischen Regierung momentan ihr Referendum wichtiger als alles andere.

Alles Gute kommt von oben?

Das Tagesgeschehen an diesem denkwürdigen März-Donnerstag hatte damit durchaus Züge einer Realsatire. Während gequälte Fluggäste auf der Reise nach Madrid oder Malaga erst einmal halb Europa umrunden mussten - Frankreichs Luftraum ist groß - verortete sich der türkische Außenminister ausgerechnet auf einer Reisemesse vor potenziellen Türkei-Urlaubern auf einmal im zweiten Weltkrieg und die polnische Regierung verweigerte als einziges aller EU-Miglieder ihrem eigenen Landmann die Unterstützung bei der Wahl zum EU-Ratspräsidenten.

Wir leben in "interessanten Zeiten", haben zum Jahr 2017 schon viele gesagt. Wie recht sie haben. Hinter der unfreiwilligen Komik, die allen drei Szenen beiwohnt, verdichteten sie die gegenwärtige Situation in und außerhalb der EU. Die Streik- und Streitkultur in der EU ist wahrlich anstrengend und man wünschte sich oft viel mehr zielführende Kompromissbereitschaft und weniger eigennützige Interessenverfolgung. Aber geht es überall außerhalb Europas, gerade dort, wo weniger Demokratie, und damit auch weniger Streik- und Streit-Kultur möglich ist, etwa friedlicher - oder gar erfolgreicher zu?

Ist es in undemokratischeren Ländern und Regionen etwa ruhiger und sicherer? Geht es den Menschen dort etwa besser, wo politisch Andersdenkende, Journalisten, Richter und Wissenschaftler weggesperrt werden? Wohl kaum. Und so mühen wir uns weiter, arbeiten den ganzen Tag un-, unter- oder tatsächlich einigermaßen ordentlich bezahlt - und lassen uns dafür auch noch vorhalten, uns gehe es angeblich viel zu gut. Und auf Geschäftsreisen, im Urlaub umfliegen wir lieber umständlich mal diesen, mal jenen EU-Nachbarn, damit dort das Streikrecht erhalten bleibt. Andersdenkende, Streitende und Streikende in Europa genießen damit ein Maß an Rücksichtsnahme ihrer Mitmenschen, das Terroristen und Despoten in Europa offenbar nicht zuteil wird, so sehr sie sich auch anstrengen. Mag so eine europäische Arbeits-, Streit- oder Streikwoche auch noch so nervenzermürbend sein, am Ende ist sie immer noch besser, als alles Nicht-Regierungskonforme in Gefängnis zu werfen, und zwar, ohne dass mit solchen regiden Maßnahmen auch nur irgendetwas sicherer und ruhiger werden würde.

Auch für die nächste Realsatire braucht Europa keinerlei Unterstützung mehr von außen. Für die ist schließlich längst vorgesorgt: neue EU-Außengrenzen mitten durch den Ärmelkanal und durch Irland. Sitzen wir Europäer, jeder für sich, nicht auch alle ein bisschen zwischen internen Streitereien und wachsendem Druck von außen eingekeilt - auf dem nackten Boden der Tatsachen?


2017-04-01, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
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