von Angelika Petrich-Hornetz
Seit einigen Wochen geschieht wieder das, was regelmäßig einsetzt, wenn irgendwo auf der Welt Frauen Sexismus und alltägliche Gewalt anprangern und sich dementsprechend vollkommen zu Recht zur Wehr setzen. Das vollzieht sich in der Regel alle Jubel Jahre und dann gerät das Thema seltsam regelmäßig wieder in Vergessenheit. Hintergrund dafür ist das zu irgendeinem Zeitpunkt in allen sinnvollen Gerechtigkeitsdebatten immer wieder auftauchende, unsinnige Totschlagargument eines angeblich selbstverschuldeten Beitrags betroffener Frauen in der Form ihrer Bekleidungswahl. Dürfen Frauen im 21. Jahrhundert immer noch nicht anziehen, was sie anziehen wollen?
Erfahrungsgemäß endet so etwas dann in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Statt dass die Frauen endlich gemeinsam, möglichst global, ihr gutes Recht auf wenigstens körperliche Unversehrtheit einfordern, verhedderten sie sich immer wieder ausgerechnet in Äußerlichkeiten. Dabei ist es doch gerade das, worum es bei Frauen nicht gehen sollte.
Fast hätte ich geglaubt, es sei im Jahr 2018 - gerade nach den Skandalen in Reihe in Hollywood und den spektakulären Verurteilungen von missbrauchenden Jugendsport-Trainern, nach der metoo-Debatte sowie daraus resultierenden Ereignissen - endlich nicht mehr so einfach, Frauen auf ihr Aussehen, explizit die angeblich falsche Wahl ihrer Bekleidung zu reduzieren. Vor ein paar Monaten setzte dann mit den ersten, öffentlichen Überlegungen deutscher Schauspielerinnen gegenüber der Presse, wie gefallsüchtig manche Frauen an und für sich oder im Einzelnen angeblich wären, dann genau wieder das ein, was seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten jede Debatte um Geschlechtergerechtigkeit erfolgreich zu Fall bringt, nämlich die vollkommen unangebrachte Frage: War die Frau züchtig genug angezogen, um überhaupt ernst genommen werden zu können? Oder in den Worten tatsächlich von Frauen: War die Kollegin etwa "gefallsüchtig"?.
Und was war jetzt schon wieder geschehen? Die aktuell, gemessen an ihren Rollen, öffentlichen Auftritten und Einkommen, äußerst erfolgreiche US-Schauspielerin Jennifer Lawrence hatte es gewagt, sich vor kurzem in London zur Vorstellung ihres neuen Films in einer wunderschönen Versace-Robe zu zeigen. Wunderschön liegt dabei selbstverständlich immer im Auge des Betrachters, womit es sich bei dem Thema eindeutig um eine reine Geschmacksfrage handelt. Zeitgleich war auch das unter einer Kältewelle im Februar ächzende Europa immer eine Nachrichten-Schlagzeile wert. Offenbar in der Kombination des Fotos von Lawrence mit ihren männlichen Schauspieler-Kollegen in Mänteln und des kalten Wetters schlechthin, gingen bei einigen KommentatorInnen die Tiefst-Temperaturen durch und prompt wurde Lawrence ansehnlicher Auftritt als sexistisch, genauer: als "der Sache", das heißt dem Ziel der Gleichstellung von Frauen und Männern nicht dienlich genug eingestuft: Erstens, weil Lawrence bei solchen niedrigen Temperaturen einfach hätte frieren - und daher genauso wie ihre männlichen Kollegen (ja doch, allen Ernstes!) einen Mantel hätte tragen müssen . Zweitens war sie eben nicht "gleich" angezogen - wie die Männer auf dem Foto.
Unter anderen kommentierte die für den britischen New Statesman schreibende, renommierte Helen Lewis auf Twitter. Mit dem geposteten "Beweis-Foto" vom Auftritt Lawrence' vermeldete Lewis, das Foto sei "niederschmetternd", nicht nur, weil sich die Journalistin selbst zuvor über die draußen herrschenden Frosttemperaturen hatte höchstpersönlich überzeugen können. Eine Eigenrecherche, die fast schon impliziert, die Schauspierlin hätte quasi (wie schrecklich!) wider der Natur gehandelt. Und bei "wider der Natur" wird es immer gefährlich in Diskussionen, denn auch die ganz persönlich empfundene Natur ist, ähnlich wie ein Kleid, in der Regel eine sehr persönliche Angelegenheit. Nicht zuletzt war wegen diesem Kleid auch von Lawrence Körper viel mehr zu sehen, als von denen der männlichen Schauspielerkollegen, was Lewis ebenfalls bemängelte: Wenn Lawrence um der Geschlechtergerechtigkeit willen schon keinen Mantel überziehen wollte, hätte sich Jeremy Irons wenigstens mit nacktem Hintern ablichten lassen sollen, Zitat (20.02.): "True equality means either Jennifer Lawrence getting a coat, or Jeremy Irons having to pose for a photocall in assless chaps." Zitatende. Es hat vielleicht witzig klingen sollen, aber ein Geschmäckle kollektiven Kleiderzwangs bleibt hängen, zumal der anschließende Shitstorm über Lawrence in keinem Verhältnis mehr zu diesem misslungenem Beispiel britischen Humors stand.
Lawrence fing an sich zu rechtfertigen. Die durchaus harsch, immerhin als "der Sache nicht dienlich" abgekanzelte Schauspielerin äußerte sich entsetzt und versuchte zu beschwichtigen. U.a. versicherte sie der Öffentlichkeit, sie habe nicht gefroren, sie sei "nur fünf Minuten" draußen gewesen. In ihrer dennoch unmissverständlichen Gegenrede fügte sie ihrem Statement, "Es ist meine Wahl!" hinzu, dass sie sich durch die Kritik extrem beleidigt fühlte, weil genau diese ihre eigene Wahl in Frage stellte, genau so, als sei sie etwa keiner eigenen Entscheidung mächtig. Und damit traf die Schaupspielerin offenbar des Pudels Kern, denn es wurde dementsprechend prompt nachgesetzt, u.a. wieder Helen Lewis auf Twitter, die dem Pochen von Lawrence auf das Recht und die Fähigkeit zur einer eigenen Wahl und Meinungsbildung, lediglich einen äußerst zweifelhaften Vergleich mit Flüchtlingen entgegenzusetzen hatte, Zitat: "Refugees 'choose' to get on rickety boats across the Mediterean". Zitatende. Oh, haua, Lawrence in einer existenziellen Notlage wie sie Flüchtende alltäglich erleben müssen zu verorten ist sehr weit hergeholt.
Der Vergleich zwischen Flüchtlingen und dem Kleid von Lawrence hinkt in vielerlei Hinsicht, doch um beim Thema zu bleiben, hatte Lewis der Schauspielerin immerhin nicht mehr und nicht weniger als die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen abgesprochen. Und da haben wir es dann wieder, das jede vernünftige Diskussion abwürgende Totschlagargument, wie züchtig und eingepackt die jeweilige Geschlechtsgenossin - wahlweise aus männlichem Blickwinkel, wie das weibliche Gegenüber - denn angeblich aufzutreten hätte, damit sie überhaupt als solche ernstgenommen wird. Dabei sind solche von Männern geäußerte Bevormundungen doch schon Dauer-Ärgernis genug.
Was war denn nun mit dem Kleid von Jennifer Lawrence? Es war von Versace und wer hier Schleichwerbung vermutet: Shut up, es ist schließlich Beweismittel und gehört zum Kern des Disputs. Vielleser und Modekenner errinnern gut, was das italienische Modehaus in den letzten Jahren entworfen hat - darunter einige atemberaubende Roben, die jeder Trägerin einen glanzvollen Auftritt garantieren. So etwas ist - allein von der Anwendung her betrachtet - selten etwas für den normalen Arbeitsalltag in Büros und Werkstätten, doch als Arbeitsbekleidung für die Präsentation eines Hollywood-Streifens durchaus angebracht. Es geht u.a. darum, beim Publikum Neugier auf den Kinobesuch zu wecken und sich - als Schauspielerin - als solche zu präsentieren, möglicherweise damit auch andere Filmprojekte und Regisseure auf sich aufmerksam zu machen. Wie dem auch sei. Selbst, wenn dem nicht so gewesen sein sollte, bleibt immer noch die hauptsächliche, nämlich die Geschmacksfrage.
Elizabeth Hurley steckte bereits 1994 und damit vor 24 Jahren anlässlich der Filmpremiere zur britschen Komödie "Vier Hochzeiten und ein Todesfall" in so einem Versace-Traumkleid, dem berühmten "Sicherheitsnadelkleid", das inzwischen in einem Museum hängt - und niemand hatte sich daran gestört. Aber es erregte ebenfalls Aufsehen, denn bis dato hielten sich die meisten Schauspielerinnen tatsächlich noch etwas bedeckter, was weder dem Kleid noch dessen Trägerin anzulasten ist.
Die halbnackte Hurley scherte sich glücklicherweise nicht darum, was die Leute redeten, schließlich existierten auch noch keine "sozialen Netzwerke", die selbst die dämlichsten Kommentare zweitausend Jahre lang im Netz speichern. Und soweit ich mich erinnere, waren Kleidervorschriften im endenden 20. Jahrhundert noch so etwas wie mega-out. Im Gegenteil, man pochte ganz selbstverständlich auf die persönliche (Meinungs)-Freiheit, zu der die Bekleidungsfrage unbedingt dazugehörte. Ein Beispiel dafür waren die ellenlangen Diskussionen um bauchfreie Oberteile und die kläglichen Versuche der Einführung von Schuluniformen. Sie endeten in schönster Regelmäßigkeit mit immer demselben Ergebnis: Nicht nur die Jugend, sondern auch die damals bereits älter werdende Allgemeinheit ließ sich einfach nicht vorschreiben, was sie anzuziehen hätte.
Schließlich, so der gesellschaftliche Konsens: Welches Kleid dem einen seine Uhl, ist dem anderen seine Nachtigall.
Man begnügte sich in den 90ern allerdings nicht nur mit der Tatsache, Leben und Leben lassen, also der Toleranz als Alleinstellungsmerkmal für eine lebenswerten Gesellschaft. Nein, man feierte auch ganz ungeniert die Schönheit als solche und schämte sich nicht seiner Illusionen. Die 90er Jahre waren u.a. die Zeit der Supermodels, der High-Heels und ähnlich wie in den 60ern und 70ern der Designer-Highlights u.a. in Form von Mini-Röcken sowie immer raffinierteren Kleidern, die Frauen wahlweise fast schon zu Göttinen, Fabelwesen und Heldinnen stilisierten, was in der Folge zu noch mehr Ideen, Innovationen und gewagteren Kreationen anregte .
Interessanterweise wirkten Frauen in solchen Außenhüllen seltsam stark und damit alles andere als schwach, wie so mancher in Unkenntnis dieser Zeit nun zu gern unterstellen würde. Wie wenig widersprüchlich diese Kombination schön + stark war und dass sie offenbar noch heute vermisst wird, zeigte sich u.a. beim Auftritt der in Grazie alternden Supermodels in der Show von Versace im Jahr 2017, bei dem Teile des Publikums kaum noch an sich halten konnten, was sich u.a. in lautstarken Seufzern und etwas peinlichen Aufrufen äußerte.
Dass die Freiheit der Kleiderwahl allerdings nicht jeder Frau zuteil wird, wissen wir nur zu genau. Die zahlreichen per Gesetz sowie ungeschriebenen Bekleidungs-Vorschriften allein für Frauen fallen dabei regional höchst unterschiedlich aus, aber sie haben eines gemeinsam: Sie unterdrücken Frauen und Mädchen in ihrer Freiheit, sich zu kleiden, wie sie wollen. Man darf natürlich die Kleiderregeln in Hollywood kritisieren, in dem Frauen offenbar vor allem jung, knackig und sexy auszusehen haben. Auch das ist nichts anderes ein Diktat, von dem sich viele erst noch befreien - und den Mut zum eigenen Stil entwickeln müssen. Doch niemand würde aus dem einen Grund, nicht leicht genug bekleidet zu sein, belästigt oder etwa vergewaltigt werden. Umgekehrt wird genau das durchaus als fadenscheinige Begründung für eigenes Fehlverhalten vorgeschoben - und dann treten die steinzeitlichsten Vorstellungen von der angeblich "ordentlich" oder "schicklich" gekleideten Frau zu Tage, wobei man angeblich nur die Sorte "ordentlich gekleidet" als Mensch zu respektieren hätte. Alle andere wären schließlich "Schlampen", womit sich die gegenwärtige, technologisch hochgerüstete Gesellschaft als erstaunlich kleingeistig erweist.
Dagegen werden in manchen Regionen Mädchen und Frauen tatsächlich per Gesetz dazu gezwungen, sich so oder so zu kleiden, um bei Zuwiderhandlung nicht mehr und nicht weniger als ihre Menschenrechte, ihre Persönlichkeitsrechte oder gleich ihre Existenzberechtigung zu verlieren - und das hat gefährliche Konsequenzen, bis hin zu akuter Lebensgefahr. Neben solchen überholten Gesetzen, die immerhin nichts Geringeres als die Unterdrückung von Frauen und Mädchen befördern, existieren selbst im aufgeklärten Europa seit jeher zusätzlich vielfältige ungeschriebene Bekleidungsregeln, die nicht weniger lebensgefährlich sind. Dabei werden die Grenzen des Kleidergeschmacks regional höchst unterschiedlich ausgelegt. Passen sich Frauen diesen lokalen Anforderungen nicht an, laufen sie je nach Region wegen unterschiedlichster "Übertretungen" Gefahr, als sexualisierbares Objekt wahrgenommen und auch genau so behandelt zu werden. Dass es nicht der Fehler der Frauen ist, als Objekt wahrgenommen zu werden, übersehen die beflissentlich immer neue und andere, willkürliche Kleiderregeln aufstellenden, mit Macht gefütterten Betrachter dabei nur zu gern.
Während es in einigen Teilen der Welt bereits ausreicht, nicht verschleiert im Supermarkt einkaufen zu gehen, braucht es in anderen Regionen mehr als das, aber die hässlichen Konsequenzen - nicht mehr ernst genommen zu werden, gar von Männern als Freiwild und damit als verfügbares Objekt wahrgenommen zu werden - sind überall auf der Welt immer dieselben.
Dahinter stecken die unterschiedlichen Auffassungen, wie viel nackte Haut "die Frau" überhaupt zeigen darf, und das entscheidet nach wie vor meistens nicht sie selbst. In der einen Region ist es noch nicht einmal das Gesicht. In anderen Regionen sind es die Beine, oder schon die Arme, in wieder anderen sind Busen oder Hintern die Grenze, aufgrund derer Frauen zu Objekten degradiert werden, obwohl sie rein gar nichts verbrochen, sondern alle gänzlich unverschuldet genau das haben: ein Gesicht, Arme, Beine, Busen und einen Hintern, weil sie einfach Frauen sind.
Und weil schon das offenbar ein großes Problem darstellt, sind wir auf diesem Planeten wohl noch sehr weit davon entfernt, um sagen zu können, Frauen könnten sich überall frei bewegen.
Für die Situation in Europa hat es bereits vor drei Jahren die Journalistin Birte Vogel auf den Punkt gebracht, Zitat: "„Ich bin mir absolut sicher, dass keine einzige Frau, egal wie gleichberechtigt und sicher sie sich fühlt, wie ein Mann in kurzer Hose und oben ohne um drei Uhr morgens stockbetrunken von der Disco/Party/Kneipe drei Kilometer nach Hause wanken und dort unversehrt ankommen kann, ohne sexuell belästigt, begrapscht oder vergewaltigt zu werden. Aber um genau dieses Recht, jederzeit selbstverständlich unversehrt zu Hause anzukommen, sollten wir endlich gemeinsam kämpfen.“
"Die Frau", dieses viel bemühte Wesen - gibt es allerdings gar nicht. Sie ist eine Erfindung veralteter, männlich geprägter Machstrukturen, die davon ausgehen, "die Frau" sei eine ähnliche Manövriermasse, wie "das Auto", "die Wirtschaft" u.ä., das man sich zu eigenen Gunsten aneignen und nutzbar machten könnte. Und obwohl die internationale Gesellschaft inzwischen längst zu der erhellenden Erkenntnis gelangt ist, dass Frauen Menschen sind, und zwar höchst unterschiedliche, ist diese Schublade trotzdem noch erstaunlich lebendig. erhält man sich durch solche Zurechtweisungen doch den Zugriff auf sehr günstige bis kostenlose Ressourcen, z.B. diejenige, dass Frauen, die sich nach wie vor nicht wie sie selbst es wünschen, kleiden, benehmen, denken, reden und handeln können, wie es zumindest ein Teil der männlichen Erdbevölkerung kann, erst gar nicht auf die Idee, zu einer ernsthaften Konkurrenz aufzusteigen. Somit bleibt die eigene vorherrschende Stellung mit allen ihren Vorteilen bis auf Weiteres erhalten - solange man "die Frau" nur klein hält und für sich (kostenlos) schuften lassen kann.
Was passiert, wenn man diese Frauen loslässt, kann gerade überall beobachtet werden. So wird die Angst mancher alter, sehr mächtiger Männer, die nichts anderes wollen, als an ihrem Status quo als gönnerhafter Konsument von Frauen, Mädchen und dergleichen festzuhalten, allein schon vor den sich jetzt lediglich frei äußerenden Frauen durchaus nachvollziehbar. Über hundert Jahre Gefängnisstrafe für einen US-Sporttrainer, der junge Athletinnen belästigte, dazu ein landesweit zurückgetretener Vorstand. Ein einstmals äußerst erfolgreicher Filmmogul angeklagt, der lukrative Verkauf seiner Firma vorerst gescheitert. Ein hochangesehener Schauspieler aus einem neuen Film vom konsequent handelnden Regisseur einfach so herausgeschnitten, die Aussichten auf weitere Angebote gleich null. In Europa geht es weiter, im Vereinigten Königreich steht u.a. nicht nur ein Fußballtrainer mit einer hundertfachen Missbrauchs-Vergangenheit am Pranger. Dazu unzählige menschliche Dramen - Ehescheidungen, Selbstmorde, fiinanzieller Ruin.
In diesem Zusammenhang darf aber nicht vergessen werden: Es waren bisher zahlenmäßig überwiegend Frauen, die sich äußerten, aber an vielen entscheidenden Stellen, handelten dieser Tage ganz bewusst junge Männer, die entweder unmittelbar selbst betroffen waren, oder den Mut fanden, den Stein erst ins Rollen zu bringen, um endlich die Wahrheit zu finden - und es werden immer mehr. Es geht also längst nicht mehr "nur" um die so massive wie massenhafte Unterdrückung durch sexuelle Gewalt an Frauen, sondern auch um die an Männern und Kindern - und damit um nichts Geringeres als um die Unterdrückung von Menschen als solchen - durch "Methoden", die man offenbar seit ungefähr 2017 endlich als so überholt definiert, wie sie es tatsächlich auch immer schon waren, sind und bis in alle Ewigkeiten bleiben werden.
In der Vergangenheit wurden von sexualisierter und anderer Gewalt Betroffene immer wieder mit der berühmten Umkehrung der Schuld konfrontiert. I.d.R. findet man dann auch nicht viel an Argumenten, als dass die Opfer angeblich das Falsche gesagt, sich falsch benommen hätten, und bei Frauen immer wieder gern: die falsche Kleiderwahl, mit der sie angeblich selbst, zumindest einen Teil der Schuld trügen, vergewaltigt, geschlagen und missbraucht zu werden. Das Argument hinkt, denn es setzte voraus, dass sich aus irgendeiner Art der Bekleidung heraus, irgendein (männliches) Recht auf Begrapschen, Missbrauch oder Vergewaltigen direkt herleiten ließe.
Nur: Das ist komplett irre, weil so ein Gesetz nicht existiert, nirgendwo - noch nicht einmal irgendeine weit entfernt herleitbare Gesetzmäßigkeit. So etwas wäre wohl auch kontraproduktiv für jede Gesellschaft, und sei sie auch noch so stockkonservativ oder pervers, denn solch ein Gedankenkonstrukt würde nicht nur sämtliche Frauen, die nicht den aktuellen Kleiderregeln ensprechen, auf Objekte, sondern gleichfalls auch jeden Mann auf ein willenloses, triebesteuertes Tier reduzieren, das seiner Sinne längst nicht mehr mächtig - und damit grundsätzlich nicht zurechnungsfähig - ist. Wer so etwas allen Ernstes als gesellschaftliche Regel durchsetzen will, sollte es sich daher im eigenen Interesse wirklich gut überlegen.
Da Kleidervorschriften auf der ganzen Welt regional höchst unterschiedlich ausfallen, laufen Frauen also Gefahr, ständig alles falsch zu machen. Und am Ende steht die Erkenntnis: Sie können dies verdecken, das verdecken oder jenes, aber sie bleiben nun einmal weiblich und genau das reicht nicht aus, um daraus irgendein Recht abzuleiten, sich an ihnen vergreifen zu "dürfen", weil es auf der ganzen Welt kein Recht dafür gibt, sich an jemandem zu vergreifen, weder an Frauen, noch an Männern und Kindern. Eigentlich eine reine Selbstverständlichkeit, bis heute aber trauriger Alltag und tagtäglich schwerst umkämpft - nicht nur in sämtlichen Gerichtssälen.
Die "richtige" Bekleidung ist somit immer relativ, austauschbar und zweitrangig. Sie bleibt nichts anderes als eine regional ganz unterschiedlich gehandhabte reine Äußerlichkeit und Geschmacksfrage und eignet sich deshalb auch nicht als ernstzunehmender Faktor in der Frage um Geschlechtergerechtigkeit oder als irgendein frauenpolitisches Merkmal. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass auch Frauen in Sack und Asche, gänzlich unauffälllig oder hochgeschlossen gekleidete, sogar verschleierte Frauen und darüber hinaus auch Männer und, was besonders perfide ist, Kinder tagtäglich auf der ganzen Welt von sexualisierter oder anderen Arten der Gewalt betroffen sind, ganz egal, wie sie bekleidet waren.
Man sollte sich endlich mehr mit der Frage der Machbarkeit von Machtmissbrauch sowie der damit einhergehenden Hilfslosigkeit der Opfer auseinandersetzen und Missbrauch fördernde Strukturen ändern, als die Diskussion mit Geschmacksfragen bei der Kleiderwahl auf den bewährten Holzweg zu schicken, der Täter reinwäscht und Opfern keine Chance lässt, weil sie als willenlose Dummchen diskreditiert werden. Es lassen sich bei Übergriffen keinerlei Gesetzmäßigkeiten bei der Form der Bekleidung des Opfers ableiten, aber eine stringente Gesetzmäßigkeit der Wehrlosigkeit der Opfer. Je wehrloser jemand ist, desto mehr läuft dieser Mensch Gefahr, eines Tages Übergriffen mächtigerer Menschen ausgesetzt zu sein, seien es junge Schauspieler gegenüber übergriffigen Filmbossen, Kinder gegenüber übergriffigen Sporttrainern oder Patienten und Menschen mit Handicap gegenüber übergriffigen Ärzten, Pflegern oder Familienangehörigen u.ä.
Je mehr Macht ein Täter besitzt, weil er wirtschaftlich stark ist und/oder gute Kontakte zu Entscheidern hat, desto weniger musste er in der Vergangenheit eine Strafverfolgung befürchten, lautet eine inzwischen allzu traurige, bekannte Devise. Durch die Kleiderwahl der Opfer wurden die Täter indes wenig beeinflusst, und genau das sollte endlich auch als Tatsache zur Kenntnis genommen werden. Damit ist der Prozess, der in den USA angestoßen wurde, äußerst wichtig, denn es handelt sich um nichts weniger als um einen Demokratisierungsprozess, an dessen Ende mehr Macht auf mehr Schultern verteilt werden könnte, als dies bislang geschehen ist.
Bekleidungsregeln stellen für Frauen in diesen Macht-Mechanismen immer noch ein Instrument der Unterdrückung dar - das ganz perfide funktioniert: Man will ihnen weiß machen, wenn sie das Richtige anziehen, passiert ihnen nichts - das ist eine Lüge. Man suggeriert den Nutznießern solcher ungeschriebenen Regeln, und damit potenziellen Tätern, dass sie mit Frauen und Mädchen, die sich nicht an die jeweils regional unterschiedlichen Kleidervorschriften halten, angeblich machen könnten, was sie wollten. Auch das ist eine Lüge. Aber damit hält man aufmüpfige Frauen bestens in Schach, die, wenn man sie nur endlich ließe, selbst entscheiden möchten, was sie tun oder lassen - und anziehen. Als Konsequenz ist die freie Wahl der Bekleidung weltweit bis heute noch ein Privileg weniger Menschen, insbesondere derjenigen, die sich Sicherheitspersonal und Chauffeure leisten können, die sie rechtzeitig aus der Gefahrenzone bringen.
Gönnen wir es ihnen, weil in Wahrheit Frauen in Miniröcken und Kleidern mit Schlitz Vorreiterinnen sind, die für das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit kämpfen. Auch wenn sich die normale Frau auf der Straße noch kein Sicherheitsnadelkleid wie einst Liz Hurley anziehen könnte, ohne extrem belästigt zu werden, inklusive neiderfüllter Kommentare, ist und bleibt es ihr gutes Recht, exakt das anzuziehen, was sie will - ohne überhaupt belästigt zu werden. Es ist ihre Entscheidung! Wer sich in einem Kleid mit Schlitz wohlfühlt, darf das genauso, wie mit einem Kopftuch, einem Turban oder in einem Bikini, einer Decke oder sonst etwas wohlzufühlen. Es ist und bleibt ihre eigene Entscheidung.
Es gibt kein einziges selbstgewähltes (!) Kleidungstück auf der Welt, das für die Geschlechterdebatte irgendeinen Rückschlag bedeutete, sondern ganz im Gegenteil, je mehr Frauen sich genauso bekleiden oder nicht bekleiden, wie sie es selbstständig und für sich selbst entscheiden, desto freier wäre diese Welt. Und wer an der Freiheit der Welt überhaupt noch irgendein Interesse hegt, der sollte als erstes damit aufhören, anderen Frauen vorzuschreiben, was sie anzuziehen haben.
Eine in den Augen unterschiedlicher Betrachter, wie ansehnlich auch immer ausfallende, frei gewählte Garderobe ist definitiv ein Statement für persönliche Freiheit - und damit so etwas wie eine optisch wahrnehmbare Meinungsäußerung. Natürlich darf, kann und muss Garderobe anderer Menschen dennoch genüsslich kommentiert und kritisiert werden, sonst gäbe es keinen Mode-Journalismus und solche Debatten sind genauso Kulturgut wie die Mode selbst.
Aber man sollte nie auf die Idee kommen, Mode mit restriktiven Kleidervorschriften zu verwechseln. Wegen der bei den diesjährigen Fashion-Shows für Herbst/Winter 2018 häufiger gezeigten neuen Zugeknöpftheit mit Rüschen und Puffärmeln käme wohl auch niemand auf die Idee zu behaupten, die Frauen im 18. oder 19. Jahrhundert wären etwa freier gewesen als die halbnackten von heute. Das genaue Gegenteil ist der Fall.
Und wo sollten solche, der Sache dienlichen, neuen Kleidervorschriften hinführen? Wo hörten sie wieder auf? Stilettos wären dann der Gleichberechtigung nicht dienlich? Büstenhalter mit Spitze seien weniger dienlich als die ohne Spitze? Flache Schuhe wegen der Geschlechtergerechtigkeit vorzuziehen, aber nur, wenn sie vorne . wie bei Männern - geschlossen und keine lackierten Zehennägel zu sehen sind? Ist der Arbeitsschuh mit Stahlkappe etwa die beste Fußbekleidung für gleichberechtigte Frauen, Männer und Kinder des 21. Jahrhunderts, weil er auch sämtliche Sicherheitsanforderungen erfüllt, wenn einem einmal wieder jemand auf die Füße treten will?
Selbstverständlich darf auch Helen Lewis genau das sagen und anziehen, was sie will. "Der Sache" dienlicher als die Kleiderwahl von Lawrence, war Lewis' Meinungsbeitrag zu deren Garderobe allerdings nicht.
2018-02-28, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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