von Birgid Hanke
Morgen für Morgen bringen Eltern Tausende von Kindern in Kitas und Kindergärten, kaum mehr zu Fuß, häufig mit dem Fahrrad, meist mit dem Auto. Weil Mama oder Papa nach der Ablieferung gleich ganz schnell weiter zur ihrem Job fahren müssen.
„Ich habe lange gebraucht, um mich damit abzufinden, dass zuerst meine Tochter und anschließend auch meine Enkelin ihre kleinen Kinder schon so früh in eine Kindergruppe abgegeben haben“, erzählt Wilma Schneider.
„Aber inzwischen finde ich es sogar richtig so, denn Kinder müssen lernen, sich sozial zu verhalten. Das können sie nur mit anderen Kindern, aber nicht, wenn sie den ganzen Tag mit ihrer Mutter alleine zuhause verbringen.“
Im Bremer Stadtteil Walle in einem Fuhrunternehmen aufgewachsen, selbst im Familienunternehmen tatkräftig mitgearbeitet, Gefahrengut mit dem LKW selbst oder ihre Enkelinnen zur Schule gefahren, verbringt die alte Dame ihren wohlverdienten Ruhestand nunmehr im Bremer Haus im Viertel.
Aus dem Straßenbild sind sie nicht weg zu denken: die zahlreichen Bollerwagen mit ihren plappernden und singenden Passagieren, die jeden Vormittag nach dem gemeinsamen Frühstück aus der Kita oder dem Kindergarten durch deutsche Städte gezogen werden. „Kinder müssen an die frische Luft!“
Etliches hat sich in den vergangenen Jahrzehnten an der Kindheit des hoffnungsvollen Nachwuchses geändert. Zumindest dieses Diktum hat jedoch seine Gültigkeit bewahrt.
In Bremen ist das Ziel des mit Kleinkindern besetzten Bollerwagens seltener ein Spielplatz oder der Bürgerpark, sondern häufig die Weser. Schön, wenn eine dieser, wie ein Lot auf den Osterdeich fallenden Seitenstraßen zwischen Weserwehr und Am Tiefer noch ein buckeliges Pflaster aufweist. Der darüber holpernde Bollerwagen schafft einen wunderbaren Rhythmus zu den dazu laut gesungenen, freien Tonfolgen, die die durchgerüttelten Bollerwageninsassen erfinden.
Am Weserufer wird nach dem Übersetzen mit der winzigen Sielwallfähre zum "Café Sand" gespielt, getobt, geschrien, gestritten, im Sand gematscht, sich dreckig gemacht, auch einmal geweint. Eine gute Stunde später sammeln die Erzieherinnen ihre Schützlinge wieder ein, um in umgekehrter Richtung zurück zu ihren, im ganzen Viertel verteilten Räumlichkeiten zu ziehen. Nach dem Mittagessen wird sich bei den „Stöpseln“, „Riesenzwergen“, „Wurzelkindern“ oder ähnlich klingenden Namen für die Kindergruppen zur gemeinsamen Mittagsruhe begeben - oder auch nicht. Die „Nichtmehrmittagsschläfer“ werden folglich getrennt betreut. Nach und nach werden die Kleinen im Laufe des Nachmittags von Mama oder Papa abgeholt.
Verstärkt von Papas in den letzten Jahren. Seit der Einführung der Elternzeit 2007 haben sie sich zu einem vertrauten Anblick entwickelt: Junge Väter, die voller Stolz ihr Baby im Känguruhrucksack vor sich hertragen. Es ist selbstverständlich, die Kinderbetreuung mit der Mutter seiner Kinder so gut es eben geht, zu teilen.
„Mein Mann hätte nicht im Traum daran gedacht, einen Kinderwagen anzufassen, geschweige denn durch die Gegend zu schieben. Das war doch unvereinbar mit seiner männlichen Ehre,“ sagt die Bewohnerin des „Hauses im Viertel“.
Seit Jahren beobachtet die alte Damen mit einer Mischung aus Entzückung und Staunen die neue Vätergeneration, die ihre kleinen Töchter und Söhne vom Montessori-Kindergarten, der sich gleichfalls in dieser Einrichtung der Bremer Heimstiftung befindet, morgens dort abliefern oder nachmittags abholen.
„Meine Tochter damals aus dem Kindergarten abholen. Da wäre meinem Mann niemals eingefallen.“
So waren sie eben, die Väter der fünfziger Jahre. Vati ging morgens aus dem Haus, die Kinder zur Schule und Mutti war eben „Hausfrau“. Es sei denn, sie musste im Familienbetrieb mitarbeiten.
„Kindergarten? Das gab es für uns doch nicht. Unser Kindergarten war die Straße“, erzählt Peer Rüdiger. Er war schon in den sechziger Jahren ein „Viertelkind“, als es diese Bezeichnung für diesen bunten Bremer Stadtteil noch gar nicht gab. „Wir kamen nur zu den Mahlzeiten nach Hause. Wir sollten ständig draußen bleiben. Wir waren so richtige Straßenkinder und haben jede Menge Mist gebaut.“
Weil die elterliche Wohnung nach der Geburt zweier Schwestern zu klein geworden war, hatten die nur wenige Straßen entfernt wohnenden Großeltern den Enkel in ihre Obhut genommen. Sie betrieben eine Schlachterei an der Ecke Stedinger/Friesenstraße. „Und da bin ich groß geworden. In der Schlachterei habe ich schon als Kind beim Wurst machen geholfen und mit meinem Großvater die noch warmen Koteletts ausgefahren, manchmal sogar bis 'raus zum Hafen.
Der wiederum stellte das Revier von Rona Schneider dar.
„Kindergarten? Kindergarten kannten wir doch nicht. Wir hatten unsere Freunde und spielten im großen Hof unserer Spedition oder noch besser im Hafen.“
Der war doch Zollgebiet und hoch eingezäunt.
„Darum haben wir uns doch nicht geschert“, lacht die Bremerin, in Walle aufgewachsen, Tochter vom Wilma, Mutter einer erwachsenen Tochter, stolze Großmutter zweier Enkelkinder.
„Der Hafen war unser Spielplatz, ein unbegrenztes Areal, wo wir uns austoben konnten. „Wüsten“ nannten wir die riesigen leeren Flächen, auf denen wir uns herumtrieben, in einer Tischlerei Holz geschenkt bekamen, am Bahndamm Hütten bauten. Was es da alles noch für Betriebe gab, zu denen wir immer freien Zugang hatten. Unserer Phantasie war beim Spielen keine Grenzen gesetzt.“
Alles unbeaufsichtigt? Aber selbstverständlich. Die Erwachsenen hatten doch gar keine Zeit, sahen auch keinerlei Notwendigkeit, ihre Kinder zu beaufsichtigten. Die Kinder erzogen sich gegenseitig. Ältere Geschwister waren verpflichtet, sich um die jüngeren zu kümmern.
Hinter wie vielen Fußballtoren stand in jenen Jahren ein plärrendes Kleinkind in seiner Kinderkarre, während der große Bruder seiner Leidenschaft frönte. Schließlich waren wir ja 1954 Weltmeister geworden und endlich „wieder wer“.
Heutigen Helikopter-Eltern sträuben sich die Haare bei den Erzählungen jener Generationen, die zwischen den 50iger und 70iger Jahren groß wurden. Ja, sogar noch die Kinder aus den 80iger Jahren, die heutige junge Elterngeneration, die ihren Kleinen das Smartphone so selbstverständlich überlässt, gerät bei der Erinnerung an ihre ersten Lebensjahre ins Schwärmen.
"Damals" gab es noch richtige Winter in Deutschland, also auch in Bremen. Damals war der Werdersee noch viel häufiger zugefroren. Damals konnte man zu Fuß aus der Neustadt über die Weser bis an den Osterdeich laufen. Und in den Weserterrassen eine heiße Schokolade trinken. Damals legte man alle in seiner Clique erbettelten Pfennige und Groschen zusammen, lief zum „Tante Emmaladen“an der Ecke, um sich eine große Tüte „Bommbomms“ und andere Süßigkeiten zu kaufen, die man hastig vor der Heimkehr verschlang. Dergleichen Leckereien begannen erst ganz allmählich tabu zu werden.
Das einschneidenste Erlebnis jener Jahre war der 26. April 1986, die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl, der Super-Gau
„Schrecklich, schrecklich“, erinnert sich Rona Schneider mit Grausen. Ihre Tochter Jelena war damals vier Jahre alt. „Nirgends konnten wir in diesen Tagen mehr mit den Kinder draußen hin. Die haben doch gar nicht kapiert, warum sie nicht mehr in der Sandkiste spielen durften. Und immer schön die Schuhe vor der Haustür ausziehen und draußen stehen lassen.“
In den fünfziger, sechziger Jahren hingegen herrschte zum einen die Angst vor Kommunismus und den bösen Russen oder die vor dem Ausbruch eines Atomkriegs. So waren die Deutschen gehalten, sich Zuhause stets einen angemessenen Vorrat an Essen, Kerzen, Konservendosen und Streichhölzern zuzulegen. Für den Ernstfall gab es die entsprechend ernstgemeinte Empfehlung, sich zu Boden zu werfen und mit der Aktentasche über dem Kopf vor der abgeworfenen Atombombe zu schützen. Vor allen anderen verließen Mütter jener Zeit das Haus niemals ohne Aktentasche.
Kinder kümmerten sich um dergleichen kaum, auch wenn die tatsächliche Gefahr von tödlicher Nähe war.
„Ich kann es heute kaum mehr begreifen, dass wir nach langen Stunden im Bunker, nach dem Bombenalarm unmittelbar darauf wieder draußen auf der Straße spielten, oft noch zwischen rauchenden Trümmern“, erzählt Wilma Schneider kopfschüttelnd.
„Dann bin ich rüber ins Geschäft gelaufen, um zu gucken, ob meine Eltern noch lebten. Sie lebten noch. Also habe ich weiter gespielt.“ Als die Royal Air Force am 18. Mai 1940 einen ihrer ersten Angriffe auf Bremen flog, war Wilma 10 Jahre alt.
Genau so alt wie Peer Rüdiger zwanzig Jahre später, als er durch sein Quartier stromerte. Wohl kaum jemand kann wie er so lebendig und detailliert aus der Zeit des Viertels, als es noch längst nicht Viertel hieß, erzählen.
„In der Feldstraße gab es sogar noch einen richtigen Bauern. Heini hieß der. Aber das war für uns schon zu weit weg, sozusagen feindliches Ausland. Unser Revier erstreckte sich von der Hornerstraße bis zur Lüneburgerstraße, eigentlich ein ganz schmaler Schlauch. Unten an der Weser waren die Gullis noch offen. Da krochen wir dann immer 'rein und irrten dann durch die ganzen Kanäle, die unter den Straßen entlang führten. Das war schon Abenteuer.“
Im Nachhinein scheint dies Peer Rüdiger selbst ein wenig unheimlich zu sein.
Von alledem wussten die Eltern natürlich nichts. Genauso wenig wie von den zahlreichen Ausflügen der Bande zu den damaligen „Baggereien“. Die lagen am Weserufer, sozusagen direkt vor dem damals noch schlichten Weserstadion.
„Da gab es Sandhaufen. Nein, der Sand war dort zu richtigen Bergen aufgeschüttet und riesige Bagger, so richtige Schiffsbagger, waren da im Einsatz. Deren Schaufeln wurden am Wochenende im Sand versenkt. Und wir Gören stahlen uns an diesen Tagen auf das Gelände und buddelten diese frei. Das war eine ganz schöne Arbeit. Wir mussten höllisch aufpassen, dass wir nicht vom Sand verschüttet wurden oder ins Wasser fielen, denn die Weser floss ja direkt an diesen Sandbergen vorbei.“
Sechs Kinder passten in so eine riesige Baggerschaufel, in der diese dann nach dem Freibuddeln fröhlich schaukelten.
Helikoptereltern, ich höre euch stöhnen.
Kinder lebten in ihrer ganz eigenen Welt, zu der die Erwachsenen keinen Zutritt hatten. Sie hatten auch gar kein Verlangen danach. „Kinder soll man sehen, aber nicht hören“, lautete eine beliebte Redensart.
Dennoch: „Das war ja die große Freiheit, die Ungestörtheit und Ungebundenheit, die wir so genossen“, erinnert sich Rona Schneider. „Dabei war unser Tagesablauf strikt durchgetaktet. Um halb sieben gab es morgens Frühstück, um ein Uhr Mittagessen, um vier Uhr Kaffee und um sieben Uhr Abendessen. Aber dazwischen konnten wir tun und lassen, was wir wollten.“
„Das war ja das Schöne daran, dass die Familie zu den Mahlzeiten immer zusammenkam“, meint ihre Mutter Wilma. Das Frühstück war wirklich ein Frühstück, das mit allen Mitarbeitern des Fuhrbetriebs eingenommen wurde. „Das ist heute doch so völlig anders. Wo steht heute in einer Familie noch pünktlich um halb eins das Mittagessen auf dem Tisch?“
Nur noch selten. Die Kinder essen in der Schule, im Hort, im Kindergarten, Papa in der Kantine, Mama löffelt hastig in der Mittagspause am Büroschreibtisch einen Yoghurt. Am Abendbrottisch trifft sich die junge Familie erst nach einem langen Tag endlich wieder.
Kinder waren damals nicht so verwaltet und verplant wie heute, wo sie sich schon Kindergartenkinder offiziell und fest verabreden müssen.
Passt das Treffen am Nachmittag denn überhaupt noch zwischen die zahlreichen anderen Termine von Ballettunterricht über Sprachtherapie?
Früher wurde gelißßpelt. Damit hatte es sich, ging meist von alleine weg. Es gab weder Geigenunterricht noch Tennistraining oder frühkindliches Englisch. Ach nein, auch das wird ja schon im Kindergarten vermittelt, also Chinesisch? Am besten über Whatsapp auf dem Smartphone zu klären, ob sich bei dem Programm überhaupt noch getroffen werden kann. Haben die Kinder des digitalen Zeitalters überhaupt noch Zeit und Lust Streiche zu spielen? So verplant wie sie sind? Kennen sie überhaupt noch Langeweile, so berieselt wie sie ständig werden?
„Ich finde es nicht richtig, wie die Mütter ihre Kinder mit dem Smartphone ruhig stellen“, sagt die 20-jährige Louisa, die nach dem Abitur gerade ihr Freiwilliges Soziales Jahr in einer Kita absolviert. So selbstverständlich ihr die Nutzung der digitalen Medien ist, betrachtet sie sich selbst noch nicht als „Digital Native“.
„Nein, das kam doch alles erst viel später auf. Wir haben doch auch noch immer auf der Straße gespielt oder auf dem Spielplatz um die Ecke. Aber die Kiddies heutzutage?“ Sie hört sich an wie ihre eigene Großmutter.
„Nein, ich bin doch nicht in den Kindergarten gegangen. Ich war immer auf der Straße. Kindergärten gab es zu meiner Zeit nur sehr wenige“, erzählt wiederum die wirkliche Großmutter Wilma, zur Erinnerung: Ronas Mutter, vier Kinder, fünf Enkelkinder und vier Urenkel.
„Ich selbst war doch Einzelkind. Das war damals noch sehr selten. So musste ich mir Gesellschaft draußen auf der Straße suchen und habe dort mit all meinen Freundinnen und Freunden gespielt.“
Die Straße war ihr Kindergarten?
„Genauso könnte man es sagen“, bestätigt die 88-jährige Dame, die den späten Wechsel von Walle ins Viertel niemals bereut hat.
„Kindergärten gab es zu meiner Zeit nicht, weil dies nicht mit dem damaligen Frauenbild zu vereinbaren war. Aber was haben wir für schöne Spiele auf der Straße gespielt. Es gab ja noch keine störenden Autos. Aber unsere Straße war asphaltiert. Ideal, als das Rollschuhlaufen aufkam, was für eine Seligkeit! Wir haben richtig getanzt!“
Sie breitet beide Arme aus und macht einige beschwingt ausholende Bewegungen. „….und der Schlachter an der Straßenecke schaute mit seiner Frau begeistert zu.“
Wie unterscheidet sich ihre Kindheit von der ihrer Tochter und der ihrer Enkelin und schließlich ihrer Urenkel?
Waren die Kinder früher oder heute glücklicher?
Lange und nachdenklich schweigt die Mutter, Großmutter und Urgroßmutter…... und findet keine Antwort.
2019-10-15, Birgid Hanke, Wirtschaftswetter
Text: ©Birgid Hanke
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