von Angelika Petrich-Hornetz
Früher war vermeintlich alles besser. Zumindest vor Corona. Man will sein altes Leben zurück. Die Kontaktbeschränkungen entsprechen nicht den Lebensrealitäten. Die Masken sind eine Zumutung. Das empfinden übrigens alle so. Aber die Krise um ein winziges Virus, das weltweit mittlerweise zwei Millionen Tote einforderte, hat im Jahr 2020 eine neue, priviligierte Spezies hervorgebracht, oder vielmehr eine schon lange existente ans Licht der Öffentlichkeit befördert, die vorher unbehelligt im Verborgenen operieren konnten: die Unbeweglichen.
Sichtlich entsetzt reagierte ein Reporter im Winter vergangenen Jahres auf die zu dem Zeitpunkt frisch eingeführte Kontaktbeschränkung, private Kontakte auf einen Haushalt mit nur noch einer Person aus einem anderen Haushalt zu beschränken. Großer Gott, so sinngemäß sein Bericht, ein befreundetes Ehepaar könne nun nur noch ein einziges anderes, befreundetes Ehepaar, gar nicht mehr treffen. Das Abendland geht wieder einmal unter.
Andere trieb vielleicht zu dem Zeitpunkt vielmehr die Sorge um, dass sie sich aus dem Pool ihrer in alle Welt verstreuten Kinder zu Weihnachten nur noch eins zur Bescherung aussuchen konnten. Alleinerziehende, Selbsttändige, Künstler u.a. kämpften zu dem Zeitpunkt bereits seit Monaten von Priviligierten fast unbemerkt um ihre nackte Existenz. Und die chronisch Überarbeiteten, wie ein Arzt im coronatäglichen Klinikeinerlei, Zitat: "Ich esse einmal täglich, wie ein Hund", hatte sich wie seine Kolliginnen und Kollegen längst daran gewöhnt, auch genau wie ein solcher zu leben: Schlafen. Aufstehen. Arbeiten bis zum Umfallen. Essen. Schlafen. Aufstehen. Arbeiten bis zum Umfallen. usw. Tageslicht? Pah, "temporär" verzichtbar.
Kurz nach dem ersten Lockdown, im beginnenden Frühling des Jahres 2020, sah man dann vermehrt Ehepaare und andere Paare etwas unsicher das Licht der Öffentlichkeit erblicken, die Straßen, Plätze und Bürgersteige der eigenen Stadt erkundend. Sie hielten sich aneinander fest und blickten um sich, als sähen sie ihren eigenen Wohnort zum allerersten Mal bei Tageslicht. Das Home Office war kurz zuvor bundesweit neu entdeckt worden. Und so stand sich manches Paar, das sich, abgesehen vom Urlaub, seit vielen Jahren lediglich morgens und abends zu Gesicht bekommt, auf einmal erstmal durchgängig gegenüber.
Eine gute Gelegenheit, dachten darunter wohl einige, sich nun endlich einmal zu zweit nach draußen zu wagen. Das Problem dabei war - und ist es bis heute geblieben - die typische Formation dieser Lebensform. Insbesondere die gegebene Infrastruktur in Städten mit schmalen Gehwegen, überfüllten Fußgängerzonen, Brücken und Eingängen, die von ihren Ebauern einst dafür konzipiert worden waren, dass Menschen als solche tatsächlich physisch in der Lage sind, zur Not auch hintereinander gehen zu können, trübt das gegönnte, neue Paargefühl - für alle anderen. Die Not scheint noch nicht groß genug.
Erstaunlicherweise scheint das Hintereinandergehen ausgerechnet in der Corona-Krise vollständig aus der Mode gekommen zu sein. Paare und Ehepaare gehen fortgesetzt so konsequent und stoisch nebeneinander und rempeln alles, was irgendwie einzeln, kleiner oder nicht so kompakt im Duett unterwegs ist, genauso konsequent beseite, dass man sich langsam fragt, wo denn diese typische Mutter von damals wegen Corona wohl geblieben ist, die ihren Kindern ständig "Hintereinander!" zurief, kaum dass ihnen auch nur ein einziger Passant entgegenkam.
Der Platzmangel zur persönlichen Entfaltung ist aber auch kein Wunder, befand sich bis zur Corona-Pandemie gefühlt doch mindestens die Hälfte der reiselustigen Deutschen entweder ganzjährig auf Mallorca, wahlweise auf Kreuzfahrt oder flog sonstwo in der Weltgeschichte herum. Das erste Mal seit vielen Jahrzehnten sind rund 20 bis 40 Millionen zusätzliche Mitbürger mehr als sonst wieder genau da, wo sie herkommen und wohnen - und sie kommen bis heute damit nicht richtig klar. Sie überfüllen die Strände, die Pisten, trampeln in den Wäldern die Flora platt und vermüllen die Landschaft seit Monaten - erstmals ausschließlich inländisch - und natürlich weiterhin konsequent nebeneinander.
Nicht selten Hand in Hand oder am Arm hängend, was bei einigen durchaus den Eindruck hinterlässt, er, der Mann, wolle etwa "sein Weib" beschützen. Der Gedanke zählt, aber: vor was? Wenn der Mann eines solchen Paar-Gespanns mich umrempelt, und sich womöglich mit Corona infiziert, steckt er später zu Hause in aller Ruhe seine Gattin auch damit an. Genützt haben solche Hinweise, falls es sie gegeben haben sollte, bisher nichts. Auf die Idee, hintereinander zu gehen, kommt auch Anfang des inzwischen nächsten Corona-Jahres immer noch niemand dieser Gattung. Die Überfüllung des öffentlichen Raumes ist damit nahezu perfekt, die Anpassungsleistung an die neuen Gegebenheiten immer noch mangelhaft.
Noch nie habe ich in den vergangenen Monaten seit Ausbruch der Pandemie so viele Menschen ohne Maske in der Stadt herumspazieren gesehen, wie am vergangenen Samstag. Man hat es offenbar nicht nötig und keinerlei Scheu davor, sich selbst oder andere in Gefahr zu bringen. Und darunter wieder auffällig viele, stets wie eine geschlossen Wand durchmarschierende - Paare. Darunter ein gut situiertes Paar, mittleren Alters. Es stapfte selbstzufrieden ausladenden Schrittes, "selbstverständlich" maskenlos, nach Gutsherrenart auf einem außergewöhnlich breiten Bürgersteig als befände es sich auf seiner eigenen Hazienda, während alle anderen beiseite sprangen. An der auf dem Lande üblichen Drei-Meter-Leine, über die sogleich mehrere Passanten flogen, ein Riesenhund. Was kostet die Welt?. Schließlich ist man unter sich und nur für sich, wenn man "die anderen", dieses lästige Fußvolk gar nicht erst bemerkt, wie es verzweifelt in großen Kurven um diese Herrschaften auszuweichen versucht. Das eindrucksvolle Bild vermittelte: Bei solchen, auf sich allein beschränkten Leuten helfen auch keine Schilder und Warnhinweise vor möglichen Coronainfektionen mehr.
Genau dieses Verhalten nervt und stresst die Umwelt dieser wandelnden Wände inzwischen gewaltig. Es gibt natürlich auch noch andere "Wand-Formationen" - Freundinnen zu dritt, Kollegen zu zweit, Eltern mit Kindern wie die Orgelpfeifen nebeneinander in einer Reihe ebenfalls auf Teufel komm heraus stur geradeaus stampfend, während links und rechts von diesen starren Formationen, alte Leutchen, die wenigen Familien, die hintereinandergehen, Singles, Gehandicapte - und andere, die sich nicht mehr und nicht weniger als schlicht deutlich rücksichtvoller bewegen, vom Gehsteig fallen - oder gleich auf der Straße landen. Und so kommt es, klagte jüngst ein junger Vater von Zweien, dass er zunächst wegen solch einer mobilen Wandel-Wand vom Gehweg auf den Radweg auswich, anschließend wegen einer dort ebenfalls auftauchenden Fußgängerwand auf dem Radweg wieder auf den Fußweg wechselte - und exakt dort von einem Radfahrer umgefahren wurde, die Pointe sozusagen. Man mag sich gar nicht vorstellen, was Orthopäden von der aktuellen Verkehrstüchtigkeit ihrer erwachsenen Mitbürger halten.
Gepaart mit Maskenlosigkeit und Rücksichtlosigkeit ist diese Bewegungslosigkeit inzwischen ein großes Ärgernis im Alltag geworden, u.a. für alle diejenigen, die nicht im Home-Office geschützt vor solchen Attacken arbeiten und viele andere mehr. Sie fragen sich, warum sie sich selbst eigentlich ständig an alle Regeln halten sollen, während es anderen schnurzegal ist, ob sich andere Menschen anstecken, erkranken und sterben. Die Rücksichtlosen sind sicher in der Minderheit, aber sie verbrauchen massenhaft Ressourcen, die in dieser Krise sowieso schon knapp genug sind: Zeit, Geld, Nerven. Und so nimmt das Verständnis für eine Politik, die denjenigen, die sich an Regeln halten, immer neue Maßnahmen in Form von noch teureren Masken, noch mehr Schließungen und noch weniger Arbeit, Bildung, Einkommen verordnen, aber parallel dazu einer Minderheit fortgesetzt dreiste Rücksichtslosigkeit durchgehen lässt, aktuell immer mehr ab.
Geregelt wird das Pandemie-Geschehen im sogenannten Infektionsschutzgesetz (IfSG) - ein wirklich wunderschöner Name. Suggeriert der Titel doch, man könne sich tatsächlich vor Infektionen schützen - mit möglicherweise leicht anwendbaren sanften Methoden, wie ein bisschen Abstand wahren, ein paar Hygienemaßnahmen einhalten, lediglich aufs Händeschütteln verzichten, etwas rücksichtsvoller und netter zueinander sein - und so, getragen durch die solidarische Gemeinschaft - würde man allen Ernstes Schutz vor den Folgen einer Pandemie in Vollkasko-Qualität erfahren. Siehe oben: Auf den Straßen dagegen herrscht in Teilen längst das Gesetz des Dschungels, wo allein die Umbeweglichen den Verkehrsfluss diktieren - und ganz nebenbei dafür sorgen, dass sich die Schwächsten der Gesellschaft kaum noch auf diese Straße (in den öffentlichen Raum) trauen, es sei denn, es ist absolut unvermeidbar. Immer mehr dieser Betroffenen fragen sich nun, wie viel diese Unbeweglichen eigentlich nicht nur zum rüpelhaften Verkehrsgeschehen, sondern direkt zum Seuchengeschehen beitragen.
Man hätte das Gesetz vielleicht nicht umbenennen, sondern den Namen Bundesseuchengesetz beibehalten sollen. Eine Pandemie wie diese ist schlicht eine weltweite Seuche. Und eine Seuche schützt nichts, sondern sie muss bekämpft werden. Sie killt massenhaft Menschen - aktuell sind innerhalb nur eines Jahres rund 2 Millionen Tote zu beklagen. Hygieneregeln, die nur auf dem Papier stehen, aber nicht knallhart, im Sinne von vollständig, umgesetzt werden, bringen in Wahrheit überhaupt nichts. Hygieneregeln sind nicht sanft, oder bequem oder von allem nur ein bisschen, sondern genau das Gegenteil davon: Es sind die unvermeidbar und strikt einzuhaltenden Verkehrsregeln einer Pandemie. Bedauerlicheweise haben wir momentan jedoch noch nicht einmal eine aktuelle, funktionstüchtige Straßenverkehrsordnung, dabei benötigten wir längst eine Extra-Version für die Epidemien und Pandemien des 21. Jahrhunderts. Oder glaubt tatsächlich jemand bei fast 8 Milliarden Menschen würde es die letzte sein?
Möglicherweise führt auch das weitestgehend hinter verschlossenen Türen stattfindente Sterben in Krankenhäusern zu der irrigen Annahme, das ganze Pandemie-Geschehen sei vernachzulässigen. Kaum ein Corona-Leugner ahnt auch nur ansatzweise, wie unbequem eine Ausrüstung ausfällt, die allein schon dazu notwendig ist, um einem Corona-Infizierten lediglich einen guten Tag zu wünschen - und wie anstrengend und teuer für die ganze Gesellschaft. Vielleicht sollte man einigen dieses "Erlebnis" - eingepackt in mehrer Plasikhüllen bis zum Haaransatz und Masken für 10 Stunden durchgehend - schlicht nahebringen.
Wer sich nicht an die bestehenden Regeln zur Bekämpfung dieser Pandemie hält, trägt die Seuche fortgesetzt fahrlässig ein und verbreitet sie genauso fahrlässig weiter, zum eigenen Schaden und dem Risiko für Leib und Leben anderer. Wird in diesen Kreisen nicht verstärkt gezielt reguliert, könnte man genausogut die Straßenverkehrsordnung vernachlässigen und zusehen, wie sich dann ebenfalls eine Minderheit Verkehrsteilnehmer gegenüber der Mehrheit regelkonformer Verkehrsteilnehmer verhält. Die in der Praxis umgesetzten Maßnahmen für Maskenverweigerer, Corona-Leugner, wandelnde Wände und viele andere, die weiterhin stur und unbeweglich dem Recht des Stärkeren frönen, sind einfach viel zu lasch.
Den anderen, die sich an die Regeln halten, muss man überhaupt nichts mehr vorbeten, noch teurere Masken verordnen oder Maßnahmen immer weiter und weiter verschärfen. Wie im Tagesspiegel gefordert, sollten erst einmal die bestehen Maßnahmen umgesetzt - und den Maskenverweigern überhaupt eine solche auf die Nase gesetzt werden. Die anderen haben es längt verstanden, worum es hier geht, die u.a. Kanzlerin Merkel bereits am 18. März 2020 eingeschworen hatte , Zitat: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst." (Die Rede wurde vom Rhetorik-Seminar der Universität Tübingen zur "Rede des Jahres 2020" gekürt, siehe unten)
Aber die notorischen Regelverweigerer brauchen endlich eine direkte Ansage, die auch das "Infektionsschutzgesetz" hergibt, das den Umgang mit Seuchen beschreibt.
Die Unbeweglichen müssen endlich bewegt werden und begreifen wie tödlich das Geschehen ist, und zwar möglichst noch bevor sie selbst oder andere, die sie anstecken, höchstpersönlich betroffen sind. Dies ist gerade jetzt durch die schneller übertragbaren Mutanten geboten. Das Bußgeld ist ein Witz, mindestens eine kostenpflichte Corona-Hygiene-Weiterbildung sollte es sein. Autofahrer, die sich partout nicht an Regeln halten wollen oder können, müssen irgendwann zum sogenannten "Idiotentest" - zumal, nach einer Seuche vor einer Seuche ist - und es kursieren weltweit noch viele, darunter durchaus potentiell die ganze Menschheit bedrohende "Möglichkeiten". Vor diesem Hintergrund ist es mir herzlich egal, ob ich ein ganzes oder ein halbes befreundetes Ehepaar sehen könnte - und telefoniere fernmündlich weiter mit Hinz und Kunz aus mehreren Haushalten, solange mich im analogen Leben täglich gleich mehrere Haushalte umrempeln.
Lese-Tipps:
Externer Link, Deutsche Gesellschaft für Krankenhausgeschichte e.V.: Krankenhaus und Seuchengeschichte
Externer Link, SWR: "Es ist ernst" - Merkel hält "Rede des Jahres 2020"
2021-01-19, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
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