Unter dem Nazi-Terror in Deutschland wurden rund 6 Millionen Jüdinnen und Juden in Europa ermordet, davon etwa vier Millionen in Konzentrationslagern und zwei Millionen durch weitere Verbrechen. Zuvor hatten in Europa rund elf Millionen Menschen jüdischen Glaubens gelebt. Die Angriffe der Hamas auf Israel deckten in Europa nicht nur den Hass auf Israel, sondern auch einen Antisemitismus auf, der seit dem Ende des 2. Weltkriegs und der Nazi-Herrschaft so offen wie nie gezeigt wird. Das ist, in Deutschland, das muss man so sagen, eine Schande. Darauf kann es nur eine Antwort geben: Wir müssen mehr dagegen tun.
von Angelika Petrich-Hornetz
Der Bundeskanzler hatte erst kürzich noch einmal bestätigt, dass der Schutz Israels deutsche Staatsräson ist und verwendet damit einen Begriff aus der Politikwissenschaft, der durchaus dem Begriff der Rechtsstaalichkeit als gegenübestehend, indes die Sicherheit und Funktionsfähigkeit des Staates als solchen betreffend, als ähnlich wirkend definiert werden kann. Diese Staatsräson gilt im Sinne des Selbstverständnisses von Deutschland damit im besonderen Maße auch für jüdisches Leben in Deutschland, aber man sollte es möglicherweise eindeutiger festschreiben, damit auch verstanden wird, wie sehr Antisemitismus und Hass gegen Israel zusammenhängen können, sich in einigen Aspekten allerdings auch unterscheiden.
Der Terror aber gegen jüdisches Leben in Deutschland ging eindeutig mit den Nazis von Deutschland aus, das sich in der Gegenwart und bis auf Weiteres damit in der Rolle einer besonderen Verantwortung befindet und wesentlich mehr gegen den jetzt erschreckend erstarkten Antisemitismus zu unternehmen hat als alle anderen Länder auf der Welt. Auch das gehört zu unserer DNA. Nicht zuletzt wurde hier schließlich spätestens mit der Wannseekonferenz die Vernichtung der europäischen Juden im industriellen Maßstab eiskalt geplant und umgesetzt. Ähnliches äußern nun wieder andere Staaten, anzustreben, allerdings, allen voran der Iran in Form der Vernichtung Israels. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist das Thema per se im 21. Jahrhundert und fällt den Ausführenden wesentlich leichter, als sich mit eigenen und anderen Problemen ernsthaft auseinanderzusetzen oder gar zu verhandeln, wie friedliche Koexistenzen unterschiedlichster Weltanschauungen möglich und in die Praxis umzusetzen sind.
Was sich andere Staaten, oder vielmehr ihre Regierungen jetzt und zukünftig auch wünschen mögen, wen sie meinen, aus politischem Kalkül verteufeln zu wollen und neben allen diplomatischen Unternehmungen, die sich gegen den Antisemitismus im Ausland einsetzen und den wachsenden Hass gegen Israel und/oder jüdische Mitmenschen mehr oder weniger erfolgreich bekämpfen, muss die deutsche Politik, wie man an den Ereignissen der letzten Woche deutlich ablesen kann, dringend auch viel mehr im Inland unternehmen, als bisher geschehen, um jüdisches Leben stärker zu schützen.
Es ist einfach unterträglich, dass jüdische Gemeinden ihren Mitgliedern hierzulande jetzt verstärkt dazu raten (müssen), sich vorsichtig und unauffällig zu verhalten, um das Risiko gewalttätiger Übergriffe zu reduzieren und es ist fraglich, ob es damit - mit dem Verschwinden in die Unsichtbarkeit - überhaupt gelingt. Man kann hier durchaus eine Parallele zur latenten Gefahr für sämtliche Mädchen und Frauen, damit für weibliches Leben weltweit, aber auch ausdrücklich in Deutschland, ziehen, die nicht selten ganz ähnliche Warnungen und Hinweise erhalten, um nicht Opfer von sexuellen und gewalttätigen Übergriffen zu werden.
Aber ganz egal, wie unäuffällig sie sich auch verhalten, sich kleiden oder wie sehr sie ihre persönliche Mobilität, Sichtbarkeit und Wirkungskreise auch einzuschränken mögen, die Übergriffe hören einfach nicht auf.
Die Einschränkungen von irgendeiner Form der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben u.ä. schützt die potentiellen Opfer einfach nicht, im Gegenteil, die Seite der Täter wird damit nur immer dreister und übergriffiger, weil sie mit ihren aggresivem Verhalten vermeintlichen Erfolg zu haben glaubt.
Damit ist die Erhöhung der Beteiligung und Sichtbarkeit an und inmitten der Gesellschaft auch eine nicht zu leugnende Möglichkeit, die Gefahren potentieller Opfer zu reduzieren, die von Leuten ausgehen, die offenbar gar keine Ahnung davon haben, dass sie in einem Rechtsstaat leben, in dem sie andere Menschen gefälligst keinen Schaden zuzufügen haben, nur weil ihnen persönlich deren Lebensstil, deren Religion, deren Geschlecht u. ä. nicht in ihr eigenes, persönliches Lebensmodell oder Weltbild passt. In Deutschland kann jeder denken, was er will und seine ganz persönliche Meinung haben, aber es darf gerade hier, in Deutschland nicht zu einer allgemein akzeptierten Regel werden, dass Menschen, die in der Öffentlichkeit eine Kippa tragen, Gewalt erfahren müssen. Das muss endlich aktiv verhindert bzw. beendet - und der Schutz von Menschen jüdischen Glaubens überfälligerweise endlich durchgesetzt werden.
Es gibt viele Gedenktage zum Holocaust, die alle ehrenvoll sind und dem guten, sinnvollen und damit auf alle Ewigkeit berechtigten Zweck wider des Vergessens gute Dienste erweisen. Aber es gibt im 21. Jahrhundert auch noch eine andere Wirklichkeit, eine lebendige jüdische Gegenwart in Deutschland und Europa, die, so scheint es, in der Allgemeinheit weitestgehend unbekannt - oder wieder in Vergessenheit geraten ist. Um die Sichtbarkeit jüdischen Lebens der Gegenwart in Europa und Deutschland deutlich zu erhöhen, sollte zeitnah ein Tag in der EU zur Feier des jüdischen Lebens als gesetzlicher Feiertag in allen 27 Staaten eingeführt werden. Da diese Idee aber sicher schwierig sofort umzusetzen ist, bzw. es voraussichtlich dauern wird, bis alle EU-Staaten diesbezüglich einer Meinung sind, sollte Deutschland, der eigenen DNA entsprechend, als Vorreiter unverzüglich mit der Planung beginnen, solch einen Feiertag zügig einzuführen. Es gibt den Zentralrat und unzählige jüdische Gemeinden in Deutschland, die sicher einen Tag auszuwählen in der Lage sind, der am besten dafür geignet erscheint und das Datum könnte auch mit einem jüdisch-religiösem Festtag zusammenfallen.
Die muslimischen Gemeinden begehen zum Beispiel den Tag der offenen Moschee am 3. Oktober, an dem West-und Ostdeutsche auch ihren Tag der Wiedervereinigung feiern, beides Ereignisse, an denen landauf, landab unzählige Veranstaltungen stattfinden. Solche Tage sind gewöhnlich eine gute Gelegenheit, sich an einem arbeitsfreien Tag einmal über den eigenen Tellerrand hinaus zu bewegen und umzusehen, wie vielfältig das Leben in Deutschland wirklich ist - oder auch nur ganz schlicht, um einmal "etwas anderes" zu sehen, zu erleben und Spaß zu haben, weil kulturell wie kulinarisch einiges aufgefahren wird und die Lebensfreude als solche im Alltag eher unterfinanziert und unterrepräsentiert ist. Es gibt aber, trotz ihres äußerst wichtigen und großen Beitrags zur Geschichte Europas, noch keinen, einzigen Festtag, an dem ausdrücklich jüdisches Leben in Deutschland und Europa gefeiert wird. Dabei ist gerade das wohl ein guter Grund zum Feiern, nicht zuletzt deshalb, weil glücklicherweise inzwischen wieder viele jüdische Menschen und Familien in Europa leben. Und das muss endlich sichtbar und erlebbar werden.
Wenn die europäische Version wegen der erwartbaren Bürokratie auf sich warten lässt, sollte Deutschland wie schon erwähnt vorausgehen - und wenn sich Europa später auf ein gemeinsames Datum verständigen kann, sich diesem anschließen.
Wer schon einmal in die USA gereist ist, wunderte sich zumindest anfangs wahrscheinlich über die vielen Formalitäten, die zwingend einzuhalten sind, insbesondere über die in den unterschiedlichen Einreise-Verfahren vorhandenen Interviewfragen, darunter diejenigen über eine potentiell gewalttätige Einstellung. Hierzulande gibt es ebenfalls unzählige Abfragen, bei Reise-Visa-Anträgen, bei Asylanträgen, Arbeitsvisa u.ä., allerdings vorwiegend zur notwendigen Dokumenten für die Einreise und vor allem zur wirtschaftlichen und finanziellen Situation, aber deutlich weniger zu Einstellungen und Werten des und der Antragsstellenden. Man könnte solche Abfragen in Visa- und andere Verfahren entsprechend den Ereignissen der letzten Woche durchaus aktualisieren und anpassen - und zum Teil überhaupt einmal auf die Idee kommen, irgendetwas zur Einstellung und Plänen abzufragen. Juristisch geprüft werden müssen sämtliche Formalitäten für Einreisen vorab sowieso. Dennoch würde wohl kaum jemand z.b. folgende (fiktive oder bei USA-Einreiseanträngen vorhanden) Fragen mit "Ja" beantworten: - Sind sie Mitglied einer terroristischen Vereinigung? - Planen Sie terroristische Aktivitäten, Spionage, Sabotage oder Genozid oder haben sich jemals an solchen Aktivitäten beteiligt? (Beispielfrage im ESTA-Verfahren für die USA) - Haben Sie schon einmal eine Straftat begangen? (Beispielfrage im Greencard-Programm der USA) - Stellen Sie das Existenzrecht des Staates Israel in Frage? - Befürworten und/oder akzeptieren Sie Gewalthandlungen gegen Menschen jüdischen Glaubens? - Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit? (Beispiel-Greencard-Interview-Frage, USA)
Solche Abfragen, so seltsam diese zunächst wirken, beinhalten einen nicht zu vernachlässigenden Aspekt demokratischen Zusammenlebens, nämlich den großen Unterschied zwischem persönlichem Denken (Denken kann hier jede/r, was er oder sie will) und öffentlich, sichtbarem Handeln/Verhalten.
Möglicherweise machten routinemäßge Abfragen, z.B. zur Gewaltbereitschaft gegenüber Menschen jüdischen Glaubens, dem einen oder anderen, spätestens in dem Moment der Fragestellung, deutlich, in welches Land man einreisen, seinen Urlaub verbringen, ein Unternehmen gründen, einen Arbeitsplatz antreten oder einen Asylantrag stellen möchte. Wer nach Deutschland aus diesem oder jenen Anliegen einreist, ob Touristen, Geschäftsreisende, Asylsuchende, Wissenschaftler, Studenten, Schüler, Vereine u.a. reist schließlich spätestens jetzt in ein Land, in dem das Existenzrecht des Staates Israel Staatsräson ist. Daran hat man sich zu halten. Wer solche Abfragen absolviert, in dem die o.g. Fragen mit "Ja" beantwortet und damit eventuell entsprechende Handlungen plant, kann nicht einreisen, so die zweite Botschaft solcher Abfragen, sondern könnte sich dann höchstens nach einem anderen Staat für seinen Aufenthalt ausuchen, der mit den eigenen Präferenzen besser übereinstimmt.
Sehr wahrscheinlich wird auch kaum jemand, der heimlich Übles plant, die Fragen mit Ja beanworten, aber wer solche Abfragen unterschreibt (wäre jedenfalls ein empfehlenswertes Verfahren), hätte damit in jedem Fall ein Dokument unterschrieben, an dem der oder diejenige sich anschließend messen lassen müsste, darunter, sich an die deutsche Staatsräson und entsprechende Gesetze zu halten. Damit würde die Einreise von Extremisten wahrscheinlich nicht verringert oder gar grundsätzlich verhindert, aber mindestens ein Bewusstein dafür geschaffen, dass man es in Deutschland sowohl mit dem Grundgesetz als auch mit der Staatsräson und dem Rechtsstaat zu tun bekommt, der es ernst meint. Es könnte bei entsprechender Ausgestaltung eines Fragenkatalogs durchaus die Chancen auf mehr Schutz für jüdische Mitbürger erhöhen, weil die erste Botschaft lautet, dass es ein Unterschied ist, was man persönlich oder privat denkt oder wie man in der Öffentlichkeit agiert und handelt. Offenbar ist einigen Zeitgenossen genau das in den letzten Jahren zunehmend abhanden gekommen.
Aber nicht nur das Absprechen des Existenzrechts Israels oder der mangelnde Schutz jüdischen Lebens sind in Europa und Deutschland ein großes Problem, sondern auch eine, von einigen unbemerkte, tatsächlich vorhandene, anhaltende Unwissenheit über den Holocaust. Die meisten der aktuell Erwachsenen zwischen 18 und 80 Jahren sind in Deutschland bereits von ihren Eltern, aber spätestens in der Schule - wörtlich gemeint - darüber regelrecht aufgeklärt worden, dass von Nazideutschland ausgehend europaweit 6 Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden - und die davor sind Zeitzeugen, die den Horror als Kinder miterlebten. Alle Spätgeborenen besuchten zunehmend mit ihrer Schulklasse zum Beispiel die KZ-Gedenkstätten, hörten Zeitzeugen zu, die an Schulen regelmäßig Vorträge halten, besuchten Ausstellungen, lasen Texte in Schulbüchern und auch privat Bücher über den Holocaust und sind mit den Bildern dieses absoluten Grauens vertraut. Die Folge: Sie wurden sich der dareinst veranstalteten menschenfeindlichen Politik anschließend bewusst. Das ist ganz wichtig zu erwähnen, weil es für jede/n einzelne/n Minderjährigen in Deutschland ein ganz persönlicher Bewusstwerdungsprozess war und ist, wahrzunehmen und zu akzeptieren, was in Deutschland unter der Nazi-Diktatur wirklich geschehen ist und welches Leid damit in diese Welt gepflanzt und transportiert wurde. Diesen Bewusstwerdungsprozess, der ohne Abstriche zum Erwachsenwerden in Deutschland eigentlich ganz selbstverständlich dazugehört, ist, aus welchen Gründen auch immer, in der jüngsten Vergangenheit aus dem Fokus geraten, vernachlässtigt worden und/oder die Vernachlässigung setzte irgendwann unbemerkt ein.
Die aktuellen Lehrpläne sind uns nicht bekannt, aber grundsätzlich dürfte die schulische Aufklärung über den Holocaust wohl sicher bundesweit noch aktuell sein. Man könnte dennoch hier ansetzen, Umfang und Intentsität überprüfen und ob das in der Gegenwart noch ausreicht.
Jeder in Deutschland kann sich auch selbstkritisch fragen, wie viel er oder sie eigentlich über den Holocaust weiß - und wie man dieses Wissen den eigenen Kindern vermitteln kann.
Dass aber noch nicht jede/r in Deutschland bereits dazu Gelegenheit gefunden hat, sich mit der Vergangenheit, somit der Geschichte Deutschlands bewusst auseinanderzusetzen, und welche Auswirkungen die Vergangeheit bis heute auf die deutsche und europäische Gegenwart hat, darf auch nicht vollkommen ignoriert werden - und deshalb sollte bundesweit ein Programm zur aktiven Nachschulungen angeboten werden, inbesondere für Kinder und deren Eltern, weil es eine Chance wäre, diese immens wichtige Bildungslücke zu schließen, die für das Funktionieren einer vielfältigen Gesellschaft eine große Rolle spielt, wie man spätestens jetzt wohl nicht mehr ignorieren kann.
Damit kann man zumindest versuchen, u.a. die Konflikte auf den Schulhöfen zu entschärfen, indem man sich auch schlicht eingesteht, dass die Sozialisation im Kindesalter unterschiedlich gestaltet ist und verläuft, je nach dem Umfeld jedes einzelnen Kindes. Es kann sein, dass man etwas Vorwissen vorschalten muss, u.a. die Chronologie der Ausgrenzung jüdischen Lebens bis hin zu dessen angestrebter, kompletter Vernichtung während der Naziherrschaft, um z. B. den hervorragenden Film "Shoa" von Claude Landsmann anzusehen, der ab 12 Jahren freigegeben ist und - siehe o.g. zum Vorwissen - auch von Teenagern durchaus verstanden werden müsste. Man könnte ihn auch in relevante Sprachen übersetzen lassen - und ins Schulprogramm aufnehmen, auch unter Beteiligung von begleitenden Ehrenämtlern, da der zweiteilige Film eine Gesamtlänge von 9 Stunden hat.
Da die auch in dem o.g. Film auftretenden Zeitzeugen immer weniger werden, sollten die Historie nicht einfach unreguliert unter den Teppich fallen, wie es wohl hier und dort geschieht, sondern durch das Zeigen von entsprechenden Videos - es gibt in Europa unzählige Projekte, die die Berichte von Zeitzeugen filmisch umsetzten - ersetzen können, wenn kein Zeitzeuge mehr lebt und vorhanden ist, außerdem durch Lesungen ihrer Berichte in Form von Büchern und Artikeln. Neben Schulen bieten sich für Erwachsene zum Beispiel Volkshochschulen für solche Veranstaltungen an. Last but not least sollten alle ab einem gewissen Alter, die in Deutschland leben, aber den Hass auf jüdisches Leben praktizieren, zu solchen Nachschulungen verpflichtet werden, gemäß der Staatsräson und des Rechtstaates, der auch jüdischen Mitbürgern die freie Entwicklung ihrer Persönlichkeit und die freie Religionsausübung garantiert.
Es ist dennoch ein Unterschied, ob sehr junge Kinder, die zu Hause nichts anderes als die elterliche Meinung mitbekommen, irgendeinen Unsinn auf dem Schulhof herauskrähen - oder sich der Hass bei jungen Menschen wenige Jahre vor der Volljährigkeit verfestigt. Letzteres muss unbedingt als Problem erkannt und bei dessen Bearbeitung frühzeitig angesetzt werden. Jede Mühe dahingehend lohnt sich, weil es ist immer noch besser ist, sich diese Mühe zu machen, als Familien auseinanderzureißen und infolge dessen damit auch die Bewusstwerdung über den Holocaust gleichwohl wieder auszuschließen, die in Deutschland dazugehört wie das Amen zum Judentum, Islam und Christentum. Diesen Prozess anzubieten bzw. in manchen Fällen direkt einzufordern, ist das Angebot einer echten Chance, sich in dem Land und mit dem Land, in dem man lebt, auseinanderzusetzen - und zu verstehen, warum das jüdische Leben und die Existenz Israels Bestandteil der DNA von Deutschland ist und warum man das zu akzeptieren und zu respektieren hat.
Wie immer spielen die "Sozialen Medien" eine große Rolle in inzwischem so gut wie jedem Weltgeschehen und mittlerweile grundsätzlich auch in der Sozialisation von Kindern. Was früher der Fernseher war, vor dem die Kinder geparkt wurden, sind gegenwärtig Internet und Smartphone. Man kann es gestressten Eltern hierzulande auch nicht verübeln, dass sie zumindest zeitweise dankbar für die an Bildschirmen beschäftigten Kinder sind. Allerdings schraubt sich momentan der Grad der Verrohung des angebotenen Videomaterials auf bis dato unbekannte Rekordhöhen, die jeder noch halbwegs normal funktionierende Elternteil sofort untersagen würden, würden sie nur wissen, was ihr Kinder dort serviert bekommen.
Auf die Details der vielen Grausamkeiten von unzähligen Terrorgruppen, die allein in der vergangenen Woche auf Millionen Kinder und Jugendliche losgelassen wurden, können wir hier aus Zeit- und Platzmangel nicht näher eingehen, aber feststellen, dass dank der großartigen Plattform-Algorithmen die Anzahl von öffentlich bejubelten und verbreiteten Straftaten im Internet erstaunlich hoch ausfällt und wahrscheinlich in den letzten Tagen neue Rekordwerte aufstellte. Die Regierungen in der EU und die Europäische Union als solche selbst mühen sich dabei redlich, u.a. Verfahren am laufenden Band dagegen einzuleiten. Aber das wird nicht ausreichen, sie werden den Wettlauf mit den Algorithmen ausnutzenden Hasspredigern nicht gewinnen können.
Man sollte realistisch bleiben: Es gibt keine Kapazitäten, in Deutschland jetzt auch noch 16 neue Behörden oder in der Europäischen Union etwa 27 neue Behörden und Unterbehörden finanzieren und personell ausstatten zu können, um der Plage der technisch-automatisierten Verbreitung von antisemtischem Hass und anderen Widerwärtigkeiten noch halbwegs zielführend beikommen zu können.
Es ist auch nicht die Aufgabe staatlicher Organsation Plattformen in ihrem geschäftlichen Alltag wie eine Kindergärtnerin täglich begleiten zu müssen und damit im Allgemeinen bzw. in sämtlichen Fragen ihrer Geschäftsführung zu regulieren, wenn diese schlicht ihre Hausgaben nicht machen und im Fall des hier behandelten Themas nicht einmal ansatzweise zeitnah Hass und Hetze in einem zudem angemessen Ausmaß zu kontrollieren in der Lage sind, sondern es ist die Aufgabe ebenjener Plattformen selbst, sich als Marktteilnehmer, erst recht als Big-Player auf dem europäischen Markt an die geltenden Regeln zu halten, wobei Letztgenannte auch über entsprechende finanzielle Mittel verfügen, um zumindest einen gewissen Grad an Regelkonformität durchgehend einzuhalten.
Eine wichtige Aufgabe der Europäischen Union und aller europäischen Mitgliedstaaten ist diesbezüglich aber sehr wohl, einen ordentlichen Verbraucherschutz zu gewährleisten - zumindest auf dem europäischen Binnenmarkt. Zu den Verbraucherschutzgesetzen, die Kennedy einst, am 15. März 1962, verfasste, gehört unter anderen Rechten grundsätzlich auch "das Recht, informiert zu sein" (the right to be informed). Da der Schutz jüdischen Lebens nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa von hoher Relevanz ist, müssen Verbraucherinnnen und Verbraucher, und damit sämtliche Userinnen und User von Plattformen gemäß Verbraucherrechten und Verbraucherschutz zumindest endlich rudimentär über die Qualität der Inhalte informiert werden, damit sie nichts weniger und nichts mehr, als selbst wählen können, ob sie sich auf dieser oder lieber auf einer anderen Plattform einen Account zulegen und an den dort vorhandenen Austauschmöglichkeiten beteiligen möchten.
Damit Verbraucher überhaupt in die Lage versetzt werden, für sich persönlich eine Auswahl zu treffen, bedarf es ganz schlicht einer dafür notwendigen Information. Plattformen, auf denen antisemitische Inhalte überlicherweise regelmäßig platziert und verbreitet werden können und demzufolge auch massenhaft hochgeladen und verbreitet werden, sollten innerhalb der Europäischen Union bzw. auf dem erweiterten EU-Binnenmarkt deshalb zur Auskunft verpflichtet werden. Das könnte u.a. mit einem gut sichbaren Warnhinweis umgesetzt werden, z. B. mit dem Text "Warnung: Die Darstellung von antisemitistischen Inhalten kann in unserem Angebot nicht ausgeschlossen werden.". Das ist eine einfache wie sachliche Information - und man weiß Bescheid. Man könnte auch eine Begründung vorschreiben, u.a. "aus technischen Gründen", "aus personellen Gründen". Zusätzlich - ohne die Warnhinweise zu vernachlässigen, die unverzichtbar sind, könnte man sich darauf einigen, dass sich Plattformen auch für einen positiven Hinweis zertifizieren lassen können, z. B.: "Antisemtische Inhalte sind in unserem Angebot ausgeschlossen". Ein größere Vielfalt unterschiedlich, gewichteter Plattformen, die bestimmte Inhalte bzw. ein bestimmtes Verhalten ausschließen, muss kein Nachteil sein, solange man - ähnlich wie in der heterogenen Presselandschaft - zusammengenommen immer noch die ganze, große Vielfalt von allem und jedem auf dem Markt hat bzw. ermöglicht, aber die notwendige Information der Verbraucher, was ihnen angeboten wird und sie vorfinden werden, muss wenigstens grundsätzlich gegeben sein, nicht zuletzt, um Verbraucherrecht innerhalb der EU durchzusetzen. Aktuell existiert so etwas, wie eine Pflicht, die Nutzer über kritische Inhalte zu informieren, aber nicht, sodass Verbraucherschutz faktisch nicht stattfindet, vom Jugendschutz ganz zu schweigen.
Wie die Plattformen einen Ausschluss von Hass und Hetze oder gewaltverherrlichenden Videos für Minderjährige umsetzen, gehörte am besten in ihren eigenen Veranwortungsbereich - denn das ist eigentlich ihr Job, ihr Geschäftsmodell und ihr Unternehmen. Der Verbraucherschutz durch eine klare Information, was, wo in welcher Qualität stattfindet, kann dagegen nicht mehr einfach weiterhin wie bisher vollkommen, auf sämtlichen Plattformen ignoriert und ausgeschlossen werden. Zwar werden auf den Plattformen ständig offiziell alle antisemitischen Inhalte verboten, aber, weil man sie nicht kontrolliert bekommt, lässt man sie dann schlicht durch die Hintertür wieder herein, in einem inzwischen unterträglichen Maß in Zahl und Häufigkeit, wo sie dann in ebensolcher Häufigkeit in der ewigen Wiederholungsschleife landen. Gleichzeitig unterlassen die Plattformen die in diesem Fall dringend notwendige Information der Verbraucher über das - trotz aller theoretischen Bekundungen - tatsächliche Vorhandensein von antisemitischen Inhalten, die man schlicht und einfach nicht kenntzeichnet, weil keine Kennzeichungspflicht existiert.
Im Ergebnis wird dann nichts anderes, als den Verbrauchern die zu einer bewussten Auswahl und Entscheidung unverzichtbare Information verweigert und verschwiegen. Darüber hinaus ist es ein großer Unterschied, ob sich ein alter, erfahrener Journalist auf einer Plattform, die antisemitische Inhalte zulässt, auf Recherche begibt - die selbstverständlich möglich bleiben muss -, und der die entsprechenden Inhalte auch psychisch verkraftet, im Gegensatz zu zehnjährigen Kindern, für die dasselbe Präsentations- oder Suchergebnis durchaus traumatische Folgen haben kann. Eine Kennzeichnung kritischer Inhalte ist dabei schon lange u.a. in der Presse, im Radio und TV, auch in den Internet-Filmbeiträgen der Sender üblich, die per Untertitel oder Vorschaltung, und zwar vor (!) der Auswahl/dem Klick auf den Beitrag, transparent darüber informiert, der nun folgende Beitrag könnte z. B. "verstörend wirkende Bilder, O-Töne" o.ä. beinhalten. Warum werden ausgerechnet Plattformen, mit ihren unvorstellbar, großen Reichweiten von solch einer Kennzeichungspflicht ausgenommen?
Gerade Eltern können sich mit verpflichtenden Informationen, wie eine Kennzeichung antisemitischer Inhalte wesentlich besser orientieren und bewusster entscheiden, ob sie ihren Kindern auf dieser oder jener Plattform das Anlegen eines eigenen Accounts im jugendlichen Alter erlauben wollen und das gilt natürlich auch gerade für jüdische Eltern. Vertuschen und Verschweigen war bei den Themen jüdisches Leben, Israel und dem Holocaust darüber hinaus schon viel zu lange üblich und im Übrigen erfolglos. Und wenn man an die Kennzeichungspflicht im Handel denkt, ist in Europa wahrscheinlich bald jedes Marmeladenglas und dessen Inhalt besser gekennzeichnet und reguliert als überhaupt eine einzige Socialmedia-Plattform - inklusive deren zweifelhafte "Inhaltsstoffe". Damit sind auch die EU-Verbraucher besser vor dem Verzehr von ihnen nicht genehmer Marmelade geschützt als vor dem Konsum ihnen nicht zuträglicher Terrorpropaganda. Nur eine (in diesem Fall nicht mit Marmelade gefüllte) glasklare, transparente Information könnte das ändern. Auch dieser immer noch nicht nachgebesserte Mangelzustand, man könnte es auch gleich Mangelwirtschaft nennen, die aus der Unfähigkeit der Plattformen, notwendige Informationslücken zu schließen, zweifelhaften Akteuren erst ermöglicht, politisches Kapital aus gezielter Desinformation zu schlagen, ist in der angeblich so modernen Digitalindustrie angesichts der in Israel angerichteten, widerlichen Massaker und der anschließenden massenhaften Verbreitung von digitalem Antisemitismus eine nun nicht mehr zu verleugnende Schande.
2023-10-14, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
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