E-Interview zum Thema frühkindliche Bildung mit der FDP-Politikerin Cornelia Pieper, stellvertretende Bundesvorsitzende ihrer Partei sowie stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Die Fragen stellte Angelika Petrich-Hornetz
Wirtschaftswetter: Frau Pieper, Sie plädieren für eine verbindliche frühkindliche Bildung. Wie sollte diese aussehen?
Cornelia Pieper: Ich plädiere dafür, dass Kinderbetreuungseinrichtungen auch in Deutschland endlich echte Bildungseinrichtungen werden. Hier hinken wir zum Teil erheblich hinter anderen europäischen Ländern hinterher. Vor allem die skandinavischen Länder, die ja auch in verschiedenen Studien, zum Beispiel bei PISA, exzellent abgeschnitten haben, machen vor, wie es gehen kann und ich denke, der Erfolg gibt ihnen Recht. Das heißt, wir sollten auch Kinder im Vorschulalter viel besser fördern. Vor allem, was die Sprachkompetenz betrifft. Denn wir wissen, dass es in diesem Bereich oftmals große Probleme, selbst noch bei der Einschulung, gibt. Meiner Ansicht nach muss es Diagnosen mit Sprachstandserhebungen zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr geben. Diese Tests würden es ermöglichen, sofort Maßnahmen einzuleiten, die dem Entwicklungsstand jedes Kindes gerecht werden. Darüber hinaus müssen pädagogische Ziele und Bildungsmindeststandards für Tageseinrichtungen entwickelt und eingeführt werden. Eine entsprechende Qualitätssicherung kann durch ein System der Akkreditierung und Zertifizierung der Einrichtungen gewährleistet werden. Dabei kann es nicht darum gehen, die Schule einfach nach vorne zu verlagern oder den Kindergarten zu verschulen. Vielmehr sollen mit spielerischen, aber zielorientierten, den Kindern angemessenen Methoden das Sprach- und Zahlenverständnis gefördert sowie die soziale Kompetenz und die Musikalität und Kreativität der Kinder entwickelt werden. Auch das Wecken der Freude an der Bewegung und an sportlichem Spiel ist gerade in unserer Zeit sehr wichtig.
Wirtschaftswetter: Warum halten Sie eine möglichst frühe Förderung für so dringend notwendig?
Cornelia Pieper: Die Forschung hat gezeigt, dass die Qualität der Kindergärten bis zu einem Jahr Entwicklungsunterschied bei Kindern im Vorschulalter ausmacht und erhebliche Langzeitauswirkungen für die Schulleistungen und Entwicklungen in der Grundschule hat. Die Neurobiologie hat nachgewiesen, dass die Bereitschaft zum Lernen dem Menschen angeboren ist. Innerhalb der Zeit vor der Schule, besonders in den ersten drei Lebensjahren wachsen die Synapsenverbindungen, die spätere Strukturierungen erst ermöglichen. Wissenschaftlich gesichert lässt sich feststellen, dass durch gute frühkindliche Bildung für möglichst alle Kinder gesellschaftlich bedeutsame Vorteile erwachsen. Diese sind:
- Selteneres Schulversagen
- Höhere und frühere Bildungsabschlüsse
- Geringerer sonderpädagogischer Förderungsbedarf
- Bessere Gesundheit und Ernährung
- Geringere Kriminalitätsraten
- Geringere Abhängigkeit von sozialer Wohlfahrt
- Höhere Einkommen
Weitere Vorteile verbesserter Angebote frühkindlicher Bildung liegen auf der Hand: Die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf wird gesteigert. Die gerade in Deutschland mangelhafte frühe Förderung von sprachlich Benachteiligten und Migrantenkindern, aber auch von besonderen Begabungen wird verbessert.
Dies alles zeigt: Investitionen in Bildung bringen gerade in den frühen Phasen der Kindheit einen überzeugenden Ertrag für das Kind, für die Familien und für die Gesellschaft. Die Bestandsaufnahme des derzeitigen Systems frühkindlicher Bildung zeigt im Vergleich erhebliche Schwächen:
- In Westdeutschland gibt es einen eklatanten Mangel an Betreuungsplätzen für die unter 3-Jährigen sowie für die Schulkinder, der Versorgungsgrad liegt hier bei nur knapp 9,6 Prozent.
- Die Öffnungszeiten der meisten Einrichtungen kollidieren mit der zunehmenden Flexibilisierung der Arbeitszeiten.
- Die Angebote für Not- und Sonderbetreuung sind völlig unterentwickelt.
- Die Tagespflege (anders als zum Beispiel in Frankreich mit mittlerweile mehr als 600.000 Tagespflegepersonen) ist nur wenig strukturiert.
- Der Bewegungsmangel vieler Kinder führt zu Koordinations- und motorischen Leistungsschwächen, verursacht u. a. durch das hohe Übergewicht.
- Die Koordination der Konzepte zwischen Kindergärten und Grundschulen steckt noch in den Anfängen.
Wirtschaftswetter: Könnte man nicht genauso gut die chronisch unterfinanzierten Grundschulen besser ausstatten?
Cornelia Pieper: Eine vor allem finanziell bessere Ausstattung aller Schulen sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich wäre natürlich immer sinnvoll und wünschenswert. Das allein könnte aber nicht die Probleme lösen, die ich bereits dargestellt habe. Schließlich geht es bei der frühkindlichen Bildung ja nicht darum, nur Kritik am Ist-Zustand zu üben, sondern zu überlegen, was im Optimalfall für Kinder getan werden kann.
Wirtschaftswetter: Was heißt verbindlich? Soll es nach Ihren Vorstellungen eine Pflicht zum Kindergarten geben, ähnlich wie die Schulpflicht?
Cornelia Pieper: Die FDP steht bei der Kinderbetreuung zum Prinzip der Wahlfreiheit. Es soll also niemand gezwungen werden, sein Kind halb- oder ganztags betreuen zu lassen. Allerdings kann - darum geht es ja auch in der sehr aktuellen Diskussion, die die Bundesfamilienministerin angestoßen hat - Wahlfreiheit tatsächlich nur gewährt werden, wenn Eltern auch die Wahl haben. Wer dies möchte, kann seine Kinder komplett eigenverantwortlich zu Hause erziehen, wer allerdings Betreuungseinrichtungen nutzen möchte oder sie zwingend braucht, muss diese auch vorfinden. Wir dürfen es nicht länger zulassen, dass vor allem junge Frauen einen jahrelangen Karriereknick hinnehmen müssen, weil sie in ihrem Bereich kein vernünftiges Betreuungsangebot vorfinden. Die viel beschworene Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss endlich zu einer lebbaren Realität werden. Es geht um einen Rechtsanspruch und nicht um eine Pflicht. Allerdings wäre eine verpflichtende Startklasse ab dem fünften Lebensjahr sinnvoll.
Wirtschaftswetter: Ein Wort zur Finanzierung? Die SPD hat bereits konkrete Pläne, in der Union hält man sich noch bedeckt. Woher soll das Geld für frühkindliche Bildung und mehr Kinderbetreuung Ihrer Meinung nach kommen?
Cornelia Pieper: In der derzeitigen schwierigen Finanzsituation scheinen die notwendigen Maßnahmen kaum finanzierbar zu sein. Dennoch ist es möglich, mit ersten und wichtigen Schritten nicht nur Zeichen zu setzen, sondern effektive Hilfe zur Verbesserung der Bildungsqualität zu erreichen. Dabei ist klar: Die Verbesserung der Bildung in unserem Land ist am effektivsten im frühkindlichen Bereich zu erreichen. Hier entscheidet sich mittelfristig nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, hier entscheidet sich auch, ob in Zukunft die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und insbesondere der Renten auch unter den Reformbedingungen von der nachkommenden Generation noch erwirtschaftet werden kann. Eine schrumpfende Zahl jüngerer Menschen muss die zumindest teilweise Versorgung einer wachsenden Zahl alter Menschen schultern. Dies geht nur mit guten Einkommen und hoher Produktivität. Die entscheidende Voraussetzung dafür ist ein auch im internationalen Vergleich hoher Bildungsstand. Um also frühkindliche Bildung und mehr Kinderbetreuung finanzieren zu können, gehören die gesamten familienpolitischen Leistungen, was ihre Effizienz anbelangt, auf den Prüfstand. Ich schlage vor, Bildungs- bzw. Krippengutscheine ab dem zweiten Lebensjahr einzuführen. Damit können Eltern ihren Rechtsanspruch auf eine Tagesmutter, auf einen Krippen-, Kindergarten- oder Hortplatz durchsetzen. So bliebe dann auch das Prinzip der Wahlfreiheit, welches für die FDP eine große Bedeutung hat, gewahrt.
2006-03-18 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: © Angelika Petrich-Hornetz und Gesprächspartnerin Cornelia Pieper
Schlussredaktion: Ellen Heidböhmer
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