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Frauenmangel in Indien

Trotz brummender Wirtschaft - Deutschland altert rapide und Indien fehlen immer mehr Töchter

von Angelika Petrich-Hornetz

Indien, mit 1,1 Milliarden Einwohnern das zweitgrößte Land der Welt ist auf dem Weg sich neben China als Gigant der Weltwirtschaft zu etablieren. Dabei stehen die Chancen nicht schlecht die östlichere Konkurrenz sogar noch zu überholen - 2007 könnte es mit einem Wirtschaftswachstum von rund 10 Prozent knapp etwas werden. Mit dem einhergehend steigenden Wohlstand verwandelt sich das Land seit den Reformen Anfang der neunziger Jahren immer mehr in eine ökonomische Dampflok, die von nichts mehr aufgehalten wird. Die Zeichen stehen auf Grün, selbst demografisch, denn Indien hat nicht das große Problem der Überalterung wie die Industriestaaten oder auch China, das sich zur Zeit fragt, wie es dank Ein-Kind-Politik die bald 430 Millionen über 65-Jährigen versorgen soll.

Fast 31 Prozent der indischen Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre, 64 Prozent Inder sind im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren und nur 5 Prozent sind älter als 65 Jahre alt. Zum Vergleich: In Deutschland sind nur 14 Prozent der Bevölkerung 0 bis 14 Jahre alt, 66 Prozent im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahre und inzwischen über 19 Prozent, die älter als 65 Jahre sind. (Stand: 1. November 2006, indexmundi.com). Die Kindersterblichkeit in Indien ist immer noch hoch. Auf 1000 Lebendgeburten gibt es rund 55 Todesfälle, in Deutschland gibt es nur 4 Todesfälle auf 1000 Geburten

Alles bestens? Nicht ganz, Indien hat ein Problem, das in Europa unbekannt ist. Während hier die Geburtenzahlen insgesamt sinken, werden in Indien ähnlich wie in China immer mehr Jungen geboren. In den üblichen Statistiken findet man dazu wenig, das Geschlechterverhältnis wird dort als ausgeglichen angeben. Im Factbook ist zum Beispiel von einem Geschlechterverhältnis bei der Geburt von 1,05 Jungen auf 1 Mädchen die Rede und das entspricht in etwa dem Verhältnis in Deutschland. Die neuen Zahlen und Prognosen zu einem weit größeren Geschlechterunverhältnis stammen auch nicht aus Bevölkerungs-Statistiken, sondern vorwiegend aus neuen Studien.

Folgt man diesen, sollen in Indien inzwischen 10 Millionen Mädchen fehlen. Diese Zahl veröffentlichten unter anderen Forscher einer indisch-kanadischen Studie im vergangenen Jahrim Wissenschaftsmagazin The Lancet (2006, 367: S.211-218, Quelle: aerzteblatt.de). Für die Studie hatten die Wissenschaftler knapp 134.000 Geburten untersucht. Ergebnis: In Familien, in denen das erste Kind weiblich war, kamen beim zweiten Kind auf 1000 Jungen nur noch 759 Mädchen zur Welt, in Familien mit zwei Mädchen wurden beim dritten Kind sogar weniger als 720 Mädchen auf 1000 Jungen geboren.

Ein Grund für die gezielte Abtreibung von Mädchen liegt in den Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnostik. Und diese Möglichkeiten werden eher von wohlhabenden Familien genutzt, weil sie Zugang zu medizinischer Versorgung haben, sagt die Studie, eine These, die durch Zahlen von UNICEF gestützt wird. So warnten die Vereinten Nationen (UNO) bereits Ende 2005 vor einem möglichen Missverhältnis der Geschlechter in Indien. Und das scheint eher zuzunehmen. Einer der Forscher, Prabhat Jha, vom St. Michael's Krankenhaus der Universität Toronto, geht davon aus, dass in Indien durch gezielte Abtreibungen etwa 500.000 Mädchen pro Jahr verloren gehen.

Im Februar 2007 appellierte die Bundesministerin für Frauen und Kinder Renuka Chowdhury an die indische Bevölkerung, die Mädchen auszutragen und diese anschließend in staatliche Obhut zu geben. Wird dem Trend nämlich nicht Einhalt geboten, sollen zum Jahrhundertwechsel bereits 35 Millionen Frauen fehlen. In China ist man etwas weiter, momentan bei einem Überschuss von etwa 20 Millionen Männern, die 30-Millionen-Grenze bereits in Sichtweite. Schon seit den 90er Jahren debattiert man in Indien über die bald massenhaft fehlenden Frauen, eine Lösung des Problems scheint dennoch nicht in Sicht zu sein.

Der Grund für die Geschlechtsselektion scheint im System zu liegen. Zum Beispiel die hohen Mitgiften, die Familien von Töchtern bei deren Heirat aufbringen müssen. Außerdem verlassen die jungen Frauen ihre Familie nach der Hochzeit, um die alten Eltern kümmern sich in der Regel die Söhne. Doch das scheint keine ausreichende Erklärung dafür, dass ausgerechnet in den wohlhabenderen Schichten und in den finanzkräftigeren Bundesstaaten Indiens, wie Punjab, Haryana, Gujaret und in der Hauptstadt Neu Dehli, das Missverhältnis der Geschlechter viel größer ausfällt als in den ärmeren Regionen.

Die Regierung Indiens hat reagiert, seit 1994 steht die vorgeburtliche Geschlechter-Bestimmung unter Strafe Ein Umstand, den sich werdende Eltern in Deutschland wahrscheinlich kaum vorstellen können, deren Neugier auf das Geschlecht ihres Kindes ein rein privates Vergnügen ist. Das Angebot wird dabei unterschiedlich wahrgenommen, die einen wollen’s wissen, die anderen nicht, die Vor-Freude bleibt stets dieselbe, Auswirkungen auf die Geburt gab es bisher keine.

Für Indien bleibt nur ein weiterer Erklärungsversuch, dem sich auch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) anschloss : Die allgemeine Diskriminierung der Frau. Eine Hausfrau und Mutter gilt als wirtschaftliche Belastung, sei es durch die horrenden Mitgiften und teuren Hochzeitsfeste, die traditionell ebenfalls der Brautvater ausrichten muss und ganze Familien in den Ruin treiben kann, sei es, durch die Geringschätzung ihrer Arbeit im Haus. Mitgiftmorde sind in Indien immer noch ein präsentes Thema, selbst Witwenmorde kommen trotz Verbot noch vereinzelt vor Andererseits profitieren auch die Frauen Indiens vom starken Wirtschaftswachstum und sind auf dem Vormarsch. Dennoch konnten im Jahr 2003 nur rund 48 Prozent der Frauen über 15 lesen und schreiben - immerhin, 1995 lag die Quote noch bei weit unter 40 Prozent.

Trotz noch verschärfter Gesetze nehmen die gezielten Abtreibungen von Mädchen noch nicht ab. Die indische Regierung will nun mit mehr Waisenhäusern für unerwünschte Mädchen gegensteuern. In jedem Bezirk soll ein Zentrum geschaffen werden, in dem Eltern ihre Töchter, die sie nicht haben wollen, abgeben können. Offenbar haben einige Mütter und Väter das Vertrauen verloren, dass ihre Töchter in Indien eine Zukunft haben. Wer darüber urteilt, sollte lieber überlegen, ob ein ähnlicher Vertrauensverlust in Deutschland nicht längst Normalität ist.

Die zuständige Ministerin Chowdhury bezeichnete es kürzlich als eine Schande, dass Indien angesichts eines so starken Wirtschaftswachstums noch immer seine Töchter töte. Die langfristigen Folgen bleiben indes schwer einschätzbar. Es ist wie mit der Demografie in Deutschland, es gibt keine Erfahrungen mit einer Vergreisung oder mit einer Vermännlichung ganzer Staaten. Dass die Bevölkerung irgendwann schrumpft, in Deutschland schneller, in Indien langsamer, ist wohl die einzige haltbare Prognose, die man zur Zeit abgeben kann. Doch auch wenn es angesichts von bald sieben Milliarden Menschen nicht ganz verkehrt sein kann, dass die Geburtenzahlen weltweit sinken, kann der Weg zu einer gesunden Erdpopulation für die gegenwärtigen Bewohner der einzelnen Staaten durchaus angenehmer oder unangenehmer ausfallen, ob in Indien oder Deutschland.


2007-03-30 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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