von Dr. Elisabeth Kärcher
Indien habe ich mir genau so vorgestellt: extremste Kontraste auf engstem Raum. Weit entfernt von üblichen Touristenpfaden sind wir – neun deutsche Ärzte – in einem Kleinbus in Kolkata (Kalkutta) unterwegs, auf dem ein Schild prangt: German Doctors ON DUTY.
Mit Verspätung, erst montags morgens um vier Uhr Ortszeit im Hotel angekommen, sitzen wir dennoch vollzählig um neun Uhr wieder im Bus. Uns erwartet unser erster Tag in Tropenmedizin. Die indischen Gastgeber vom National Institute of Cholera and Enteric Diseases nehmen ihren Auftrag, uns fortzubilden, sehr ernst. Als regionales Referenzinstitut der WHO sind sie sich ihrer Qualität und Bedeutung durchaus bewusst. Neueste Forschungsergebnisse aus den hauseigenen High Tech Laboren werden mit Power Point Präsentationen vorgestellt.
Das nebenan liegende staatliche Basiskrankenhaus für Infektionskrankheiten katapultiert uns in den medizinischen Alltag der Grundversorgung der Bevölkerung. Eine Milliarde Inder zu impfen ist schwer genug. Aber selbst wenn dieses erreicht wird, kann nicht zuverlässig mit einem Impferfolg gerechnet werden – von bis zu 25 Prozent Misserfolg ist die Rede. Gerade in den ländlichen Regionen ist es schwer, den Impfstoff so zu lagern und zu transportieren, dass er weder zu warm, noch zu kalt wird. Kühlschränke gibt es nicht überall und Stromausfälle sind häufig.
Ein weiteres großes Problem ist, dass Mangelernährung und Krankheiten dazu führen, dass viele Kinder nicht genügend Antikörper nach der Impfung bilden. So sehen wir bei der Visite Kinder mit Tetanuskrämpfen und Diphtherie-Herzmuskelentzündungen. Sie sitzen oder liegen auf Pritschen in großen lazarettähnlichen kahlen Räumen. Die fachliche Versorgung ist kundig und setzt die spartanischen Mittel gezielt ein. Doch obwohl Inder sonst herzlich und eher überschwänglich emotional sind, wirken viele der Ärzte distanziert. Erst in den nächsten Tagen fange ich an zu verstehen, dass es für viele der nach westlichen Standards ausgebildeten Mediziner nötig ist, um die Diskrepanz zwischen Wissen und Möglichkeiten auszuhalten.
Wie üblich im staatlichen indischen Gesundheitswesen ist die ärztliche Beratung für die Patienten kostenlos. Die Medikamente müssen jedoch bezahlt werden, auch bei einem stationären Aufenthalt. Selbst im Notfall weisen manche Krankenhäuser ab, wenn das Geld beispielsweise für die Narkosemedikamente nicht zur Verfügung steht. Nur so erklärt sich, dass auch dieses Krankenhaus nicht überquillt. Die Behandlung in privaten Krankenhäusern muss komplett bezahlt werden und ist für einheimische Verhältnisse teuer. Doch ganz so einfach ist das Gesundheitssystem dann doch wieder nicht, denn in Indien ist nichts einfach nur schwarz-weiß, sondern schillernd in allen Farben. Wir werden noch viele dieser Farben im Gesundheitswesen zu sehen bekommen.
Die größte Gruppe im Krankenhaus für Infektionskrankheiten stellen die Durchfallerkrankten. Seit den Cholera-Epidemien aufgrund der Flüchtlingswelle nach der Teilung des Landes vor sechzig Jahren, hat die Forschung zu Cholera seinen Hauptsitz in Kolkata. Dennoch ist es in diesem Trakt des Krankenhauses noch recht ruhig. Der Monsunregen mit seinen Überschwemmungen kommt erst im Sommer.
Einzigartig in Kolkata ist die Versorgung von Tollwut-Patienten nur hier möglich: egal ob arm oder reich. Da der Speichel der Kranken ansteckend ist, ist der Zugang zu ihnen durch ein Gitter versperrt. Nur sofortige Impfungen nach einem Biss können die Erkrankung verhindern, sonst ist sie auch in Deutschland tödlich, aber Inder der ärmeren Schichten kommen oft spät. Sie lieben Tiere. Sie lieben sie so sehr, dass einem in Indien auf Schritt und Tritt ein Tier begegnet, auch mitten in der 13-Millionen-Metropole Kolkata.
Vor allem streunende Hunde sind allgegenwärtig und wer unvorsichtig nah an ein Auto herantritt, kann sich schnell den Biss des im Schatten unter dem Auto dösenden Hundes einfangen. Wir waren sehr viel zu Fuß unterwegs und einmal sind wir einem wahrscheinlich tollwütigen Hund begegnet, der sich wie verrückt auf der Strasse um seine eigene Achse drehte und laut jaulte, - direkt vor einem Einkaufszentrum.
Kurz vor unserer Ankunft im Krankenhaus wurde ein Junge aufgenommen, er ist bei Bewusstsein und hat noch keine Versorgung erhalten. Mit Schaum vor dem Mund und Krämpfen in Gesicht und Armen kann er seine Geschichte berichten. Vor einigen Wochen biss ihn ein Hund in den rechten Arm. Jetzt ist es für die Impfungen zu spät und er wird sterben – wie der Mensch auf der Pritsche neben ihm.
Nur wenige Meter trennen die Ärmlichkeit im Krankenhaus von den hochmodernen Forschungslaboren, deren Gerätschaften vielfach von Japan gestiftet wurden. Diesen Kontrast zwischen Arm und Reich, zwischen Versorgung nach Maßstäben der ersten und der dritten Welt Indern vorzuhalten, ist jedoch arrogant. Wir leben im gleichen Kontrast. Daran machen einige Tausend Kilometer nur den Unterschied, dass wir ihn leichter ignorieren können: Wir sehen ihn nicht täglich.
Lesen Sie weiter: 2. Hausbesuche in den Slums
2007-04-17 Dr. Elisabeth Kärcher, Wirtschaftswetter
Text: ©Dr. Elisabeth Kärcher
Fotos: © Dr. Elisabeth Kärcher
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