von Astrid Wehling
Vorgestern habe ich wieder mit Indien telefoniert. Eher ungeplant, ich wollte im Grunde nur meinen Internetanschluss neu einrichten. Meine Telefongesellschaft schickt mich dafür nach Bangalore oder nach Mumbai, das ich aus dem Erdkundeunterricht noch als Bombay kenne.
G'day, how're ya, höre ich mein Gegenüber am anderen Ende der Leitung - australischer Slang, mit deutlich erkennbarem indischen Akzent. Ein netter, junger Mann, der höflich und mit Humor meine Fragen beantwortet. Ich verstehe ihn sogar – im Gegensatz zu manchen Anrufern am Abend, die erfolglos versuchen, mir neue Telefonverträge oder Reisen anzudrehen.
Indien boomt. Allein Australien hat in den letzten Jahren tausende Call-Center-Plätze ausgelagert oder outgesourct, wie es so schön in Denglisch heißt. Man spricht von insgesamt zwei Millionen Jobs, die über die nächsten Jahre Downunder verloren gehen können.
Jetzt sitzen junge, ehrgeizige Männer und Frauen in Bangalore in Glaspalästen und lernen von australischen Managern, wie sie am besten und erfolgreichsten mit den Menschen so viel weiter südlich umgehen, Menschen, deren Lebensart und Eigenarten sie nicht kennen, aber deren Jargon sie jetzt auswendig können. G'day. See ya. Cheers. No worries.
Vor ihren Fenstern baut sich eine neue Welt auf: neuer Asphalt, neue Bürotürme, Shoppingmalls, Restaurants, mehrspurige Straßen. Daneben immer noch Kühe, streunende Hunde, viel Staub und Armut.
Doch Indien hat sich vorgenommen, bis zum Jahr 2020 eine führende demokratische Nation zu werden. Eine Milliarde Menschen auf der Suche nach einer neuen Identität. Im Zeitalter von Erderwärmung, Pandemien, Terrorismus und Globalisierung ist dies bestimmt kein einfaches Unternehmen.
Vielerorts hört man, das 21. Jahrhundert sei das Jahrhundert Asiens. Dort würde der Fortschritt stattfinden.
Allen vorweg China und Indien. In diesen zwei Ländern leben zusammen 2,4 Milliarden Menschen, das sind ein Drittel der Weltbevölkerung. Indien hat ein Bevölkerungswachstum von derzeit rund acht Prozent, geplant sind neun bis zehn Prozent über die nächsten fünf Jahre hinaus. Fünfzig Prozent der indischen Menschen sind heute unter 25 Jahre alt. Indien verjüngt sich, während Europa, China und die USA immer älter werden. Innerhalb der nächsten acht Jahre werden in Indien 500 Millionen Teenager leben - hungrig auf modernes Leben, Autos und High Tech. Und hungrig auf Arbeit.
Wie diese Arbeit aussieht und wo sie herkommen soll, wie Versorgungs-, Umwelt- und Gesundheitsprobleme gelöst werden können, ist noch fraglich. Die Schere zwischen Arm und Reich geht heute schon extrem auseinander. Laut einer UN-Untersuchung leben 40 Prozent der ärmsten Menschen der Welt heute in Indien. 5,7 Millionen Menschen sind an HIV und Aids erkrankt. Der Wassermangel ist auch hier - bei nur 4 Prozent des Weltwasservorkommens - ein großes Problem.
Laut der Autorin Mira Kamdar, die das Buch Planet India schrieb, können sich die Inder den Luxus nicht leisten, über ihre Probleme hinwegzusehen oder sie zu leugnen. Sie ist der Ansicht, dass, wenn es eine Nation schafft, solche Probleme zu lösen, es Indien sein wird. Übernahmen von Firmen wie Arcelor Mittal Steel in Europa, Corus Steel in Holland oder FNS, ein Finanz-Software-Unternehmen in Australien, durch indische Wettbewerber zeigen, dass es hier nicht um Monkey Money geht.
Hat Indien gegenüber dem grossen Nachbarn China den Heimvorteil einer funktionierenden Demokratie? Schaffen sie es, sich gegenüber Ländern wie Botswana, den Philippinen, China, Vietnam oder der osteuropäischen Konkurrenz zu behaupten? Werden Ehrgeiz und Visionen der heute jungen Inder und Inderinnen das Land dorthin bringen, wovon alle träumen? Oder wird der wirtschaftliche Boom doch so schnell im Staub verschwinden, wie er gewachsen ist? So lauten die Fragen, die in den nächsten Jahrzehnten beanwortet und möglicherweise die ganze Welt verändern werden.
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Planet India. The Rise and Rise of the World's Largest Democracy
von Mira Kamdar:
2007-05-05 Astrid Wehling, Wirtschaftswetter
Text: ©Astrid Wehling
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