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Die Liebespflicht

Buchbetrachtung

von Angelika Petrich-Hornetz

Die Bundesregierung kündigte die Einführung einer sechsmonatigen Pflegezeit für Berufstätige an, die ihre Eltern pflegen oder notwendige Schritte für deren weitere Unterbringung und Versorgung regeln müssen. Spätestens nach der Lektüre von Christine Eichels Buch, die Liebespflicht, wird auch noch Unbetroffenen klar, was es bedeutet von einem Tag auf den anderen pflegebedürftige Eltern zu haben. Der Titel ist so gut gewählt, wie sich der Inhalt streng an diesen hält. Es geht um die ganz persönliche und familiäre Situation der Betroffenen.
Das Buch richtet sich zunächst einmal an alle, denn alle Menschen haben Eltern, und doch ist es einer bestimmten Zielgruppe gewidmet: Frauen zwischen 35 bis 50, die zahlreichen Vertreterinnen der geburtenstarken Jahrgänge.

Diese Frauen, zu denen sich die Autorin zählt, die in ihrem Buch auch die eigene Geschichte mit ihren pflegebedürftigen Eltern nicht auslässt, genossen in der Regel eine gute Ausbildung und waren dann lange Jahre berufstätig, bevor sie ihre Kinder erst ab Mitte dreißig bis Anfang vierzig bekamen. Aus dieser Konstellation heraus ergeben sich neue Probleme: Während die Vorgängergeneration in diesem Alter bereits größere Kinder und damit zwei Hände für die Pflege der Elterngeneration frei hatte, sitzen die heutigen Frauen in der Liebesfalle, wenn die Anforderungen der eigenen Kinder und Eltern oder Schwiegereltern gleichzeitig zusammentreffen.

Die eigenen Kinder sind vielleicht aus dem Gröbsten heraus, besuchen bereits die Grundschule oder die weiterführende Schule oder sie sind noch sehr klein. Und dann passiert es auf einmal: Die Mutter, der Vater, die Schwiegereltern erleiden zum Beispiel einen Schlaganfall und werden pflegebedürftig - einem Tag auf den anderen ist nichts mehr, wie es war. Die erwachsenen Töchter und Söhne finden sich plötzlich gefangen in den Pflege-Ansprüchen ihre Kinder und ihrer Eltern wieder, zweier Generationen, die von zwei Seiten abhängig sind und für deren Versorgung sich die sogenannte Sandwichgeneration aufreibt, manchmal viele Jahre lang.

Christine Eichel schildert die Berge von Problemen, die damit zusammenhängen und zieht dafür Beispiele aus verschiedenen Familien aus ihrem Freundes- und Bekantenkreis heran. Sie lässt den Leser nicht im Zweifel darüber, dass vor allem die Töchter die erste Adresse für die schwierige, zeitgleiche Erfüllung von Ansprüchen ihrer Kinder und Eltern sind. Sie recherchierte und befragte einige Männer und viele Frauen, und manchmal wird es etwas viel mit den Amelies und Charlottes, die in der beklagenswerten Situation stecken, sich um alles und jeden, nur nicht um sich selbst kümmern zu können.

Doch diese machen andererseits den Alltag einer Pflegesituation lebendig und nachvollziehbar: Sie liefern die klassischen Rollen, die einige Leser längst kennen und in denen sich andere erst nach der Lektüre irgendwann wiederfinden werden: Da gibt es die Spätgebärende, die nach der Erziehungszeit beruflich wieder durchstarten will. Die Kinder sind dafür auch gut untergebracht, alles ist organisiert und dann passiert der uneingeplante Pflege-Gau: Der Wiedereinstieg verschiebt sich damit auf unbestimmte Zeit. Da ist der Mann, der zum zweiten Mal geheiratet, eine junge Frau und kleine Kinder hat, und dann holen ihn seine pflegebedürftigen Eltern aus dem Traum ewiger Jugend und Mobilität unsanft heraus. Das kann nicht nur den nächsten Urlaub, sondern auch die nächste Karrierestufe, das neue Auto oder eigene Haus, aber wenigstens das ganze, bisher gut organisierte Familienleben ins Wanken bringen.
Die im Buch beschriebenen Fälle sind beispielhaft genug, so dass sich viele Leser darin wiederfinden werden, vielleicht heute, morgen oder erst in ein paar Jahren. Die Autorin lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es so oder so ähnlich fast jeden treffen wird.

Noch nie gab es so viele erwachsene Kinder, die vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe stehen, neben dem Beruf und eigenen Kindern für die nächsten Jahre hinaus zusätzlich die Pflege der eigenen Eltern organisieren zu müssen. Leider bleiben die zu Pflegenden auch nicht immer gesund, auch das wird anhand von echten Familiengeschichten differenziert geschildert – und nicht ausgelassen, welche widersprüchlichen Emotionen dabei auf allen Seiten geweckt werden können.
Insider des Themas wissen, wie grausam es für sein kann, wenn die ehemals selbständigen, starken, vorbildlichen und liebevoll sorgenden Eltern langsam verfallen. Zum Beispiel erkennen sie ihre eigenen Kinder nicht wieder oder eines Tages wird der Altenpfleger sogar geschlagen. Der kann dann auch noch so beteuern, dass es ihm, dem professionell Ausgebildeten, nichts ausmacht: Für die meisten erwachsenen Kinder ist es zunächst ein Schock, ihre eigenen Eltern so zu erleben.

Hier tröstet das Buch. Es beschreibt die langsame schmerzvolle Ablösung vom eigenen, inneren Elternbild, das irgendwann nicht mehr der Realität entspricht, sondern lediglich durch die gesellschaftliche Norm der friedlichen Koexistenz absichtsvoller Ferne aufrecht erhalten wurde - und nun einer neuen Realität weichen muss. Man zog nun einmal aus, ging seiner eigenen Weg, gründete eine Familie und wohnte weit weg, so ist die Regel. Christine Eichel erinnert daran, dass es nicht überall so ist und nicht immer so war. Die in vorangegangenen Generationen übliche, und viel beklagte, familiäre Enge und gleichzeitige örtliche Nähe mehrerer Generationen zueinander in vielen Familien hatte den Vorteil, dass sich diese weniger entfremdeten - und sich damit auch gegenseitig besser unterstützen konnten, wenn ein Familienmitglied Hilfe brauchte.

Sie beschönigt die Vergangenheit aber auch nicht, und erspart dem Leser auch nicht eine uralte, glücklicherweise nur bis zum 12. Jahrhundert praktizierte, japanische Sitte, alte und kranke Menschen auf einem Berg auszusetzen sowie an Witwenverbrennungen in Indien zu erinnern. An einigen Stellen singt sie das hohe Lied der Familie, deren Leistungsfähigkeit in der Liebespflicht an manchen Stellen des Buches nur dann in Frage gestellt wird, wenn diese Familie problematisch war, etwas zu sehr, doch sie lässt den Leser andererseits auch nicht im Unklaren darüber, vor welchem Hintergrund sie dies tut: einem äußerst liebevollem, eigenen Elternhaus. Dass auch ein noch so liebevolles Elternhaus dabei selbst den sozialsten Menschen vor schier unlösbare Aufgaben stellen kann, wird in den Zusammenhang unserer gesellschaftlichen Gegenwart gestellt, die mit der Pflegeversicherung zwar etwas Entlastung, doch keinesfalls die komplette Übernahme der Verantwortung bieten kann. Die bleibt damit den Betroffenen, den Familien allein vorbehalten, ist Eichel überzeugt.

Es ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche des Buchs, dass es sich vor allem mit der emotionalen Situation und der darin typischen Zerrissenheit ausführlich auseinandersetzt. Es fehlt ein wenig der Blick auf diejenigen Betroffenen, die durch die Konfrontation mit einer sehr schwierigen Pflegesituation in sehr ernsthafte, zum Beispiel finanzielle Schwierigkeiten geraten. Sei es, weil die einzig vorhandenen Pflegenden nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt arbeiten können, oder weil die Kosten für eine Heimunterbringung, die Fahrten zu hilflosen Eltern oder das mobile Pflegepersonal das Gehalt komplett vereinnahmen oder weil das Verhältnis untereinander nicht nur ein kompliziertes, sondern ein katastrophales ist, denn auch das gibt es. In diesem Buch sind die Krisen durchaus ernste - und gleichzeitig noch moderate. Das Buch behandelt dabei die noch relativ bequeme Gegenwart, in der noch genug Geld in den Sozialkassen sowie eine große Zahl erwachsener Kinder vorhanden ist, um die ältere Generation zu versorgen. Das wird sich in schon bald ändern. Die Autorin spricht auch das an mehreren Stellen an, stellt sich selbst und anderen die Frage, wie es ihr und ihrer Generation einmal ergehen wird, Fragen, die bei diesem Thema unweigerlich auftauchen. Man muss dem Buch aber auch anrechnen, dass es sich vorwiegend mit der genauen Beobachtung der gegenwärtigen Lage und Betroffenen befasst. Ohne die Gegenwart zu wirklich begreifen, bleiben für die Zukunft schließlich auch nur Spekulationen übrig.

So beschreibt Eichel Situationen in den Familien ihres Bekanntenkreises, die ganz typisch sind und die der Leser als Betroffener eins zu eins in seinem Pflege-Alltag wiederfinden kann. Zum Beispiel, wenn der Medizinische Dienst zur Ermittlung der Pflegestufe anrückt, und die vormals pflegebedürftigen Schwiegereltern sich diesem plötzlich als ganz patentes, fröhliches, selbständiges, halt nur etwas älter gewordenes Paar präsentieren - während die durch die Anschaffung von zahlreichen Pflegematerialen finanziell doch schon deutlich strapazierte Schwiegertochter heilfroh sein kann, dass der erfahrene Arzt so etwas schon hundert Mal erlebt hat und zwischen einmaliger, erfolgreicher Präsentation und pflegerischer Regel-Notwendigkeit sehr wohl unterscheiden kann.

Die in dem Buch erwähnten Protagonisten sind keine sogenannten Mangelfälle, stammen nicht aus armen Haushalten und bewegen sich damit in Kreisen, die zwar temporär, jdeoch meist keinen langfristig sehr kritischen wirtschaftlichen Probleme haben. Ansonsten aber haben sie die gleichen Probleme wie alle: Vor allem haben sie keine Zeit, so wenig wie Mütter mit Kindern haben Töchter und Söhne mit pflegebedürftigen Eltern Zeit. Und diejenigen die ihre Eltern fremdpflegen lassen, haben auch keine Zeit, sie reisen zwischen ihren Eltern und ihrem eigenen Leben hin- und her. Der Mangel an Zeit, für sich, für die eigenen Kinder, für einen für die eigene Gesundheit notwendigen Urlaub sowie die große Last der Verantwortung, die jeweils richtigen Entscheidungen zu treffen, bringt nicht wenige an den Rand eines Nervenzusammenbruchs, bis sie ihren eigenen, persönlichen Weg gefunden haben, und genau dazu will das Buch ermutigen.

Bei diesem sehr persönlichen Thema kommt man um große Emotionen nicht herum. Die Schauplätze und Details sind sehr lebensnah und detailiert beschrieben. Das Buch erzählt echte Geschichten aus dem Alltag, aus dem Leben, von vor Ort der Betroffenen. Es beginnt mit der plötzlichen Konfrontation einer Pflegesituation, so wie es tatsächlich immer wieder erlebt wird. Und es hilft durch die geschilderten Situationen und erlebten Krisen in unterschiedlichen Familien, u.a. auch sich selbst zu überprüfen, ab welchem Punkt es so kritisch wird, dass professionelle Hilfe durch Pflegedienste o.a. in Erwägung gezogen werde sollte – und das klingt für Noch-Nicht-Betroffene sehr viel einfacher, als es nachher ist.

Das Buch kann nicht alle Fragen beantworten und scheint manchmal dann ein wenig abgehoben, wenn immer wieder über die Familie philosophiert, so gut wie alles auf diese bezogen und dabei der Einfluss von Strukturen und Institutionen etwas vernachlässigt wird. Es befasst sich dafür jedoch sensibel und gleichzeitig differenziert mit dem Thema Familie und mit dieser speziellen, immer individuell unterschiedlich erlebten Situation, wenn die Elterngeneration plötzlich Hilfe braucht, gleichzeitig der Beruf, eigene Kinder und Partner hohe Ansprüche stellen, und das Leben irgendwie weitergehen muss, auch wenn der Tag nur 24 Stunden hat. Es befasst sich ausführlich mit dem daraus resultierenden Gefühl eigener Hilflosigkeit, mit den Themen körperlicher und geistiger Hinfälligkeit, mit der Pflegebedürftigkeit, die sich steigert und mit dem Tod. Alle diese Themen verdrängen wir gleichermaßen so gern, solange wir nur gesund, munter, und so sehr selbständig sind - oder meinen es zu sein.

Die Liebespflicht wird vielen helfen, die in der akuten Situation Trost, aber auch Anregungen zum Nachdenken und Handeln suchen, und denen, die schon jahrelang pflegen, die am Rand zum Burn-Out entlang hangeln und nicht mehr weiterwissen und auch denen, die am Anfang und kurz vor dem Eintreten einer Pflegesituation stehen. Es entwirrt das anfängliche Chaos, zeigt verschiedene Möglichkeiten und Wege aus der (eigenen) Hilflosigkeit auf. Es verschweigt keineswegs, dass es anstrengend wird und wird nicht müde zu wiederholen, dass es keinen allgemeingültigen Weg für alle gibt. Vor allem ermuntert es dazu, die Einbahnstraße des Verdrängens zu verlassen, sondern sich einzulassen, mit der individuellen Pflege-Situation sowie sich auch der eigenen Gefühle zu stellen, so dass die Arbeit, die mit der Liebespflicht verbunden ist, als solche vielleicht nicht immer leichter wird, aber Konflikte geklärt, Situationen übersichtlicher und für alle erträglicher werden können. Die Liebespflicht der erwachsenen Kinder - von Schuldgefühlen befreit - kann damit leichter und erfüllter erlebt werden, als die Beteiligten zunächst oft denken. Und manchmal wird tatsächlich alles gut. Ein schöner Abschied in Liebe und Würde, auch wenn er immer etwas traurig, manchmal schmerzhaft und zeitweise anstrengend ausfallen kann, den gibt es, so lautet die versöhnliche Botschaft.

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Die Liebespflicht
Zwischen alten Eltern und kleinen Kindern
Wege aus der Überforderung
von Christine Eichel
Erschienen März 2007 im Pendo–Verlag


2007-07-01 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text : ©Angelika Petrich-Hornetz
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