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Kein Geld für Kinder = kein Herz für Kinder

Ein Kommentar zu den jüngsten Ereignissen

von Angelika Petrich-Hornetz

Geier Wieder einmal verhungerte ein Kind mitten in Deutschland. Die Forderungen und Schuldzuweisungen bleiben indes die alten: Das Jugendamt hätte dies und das machen sollen, die Nachbarn, das Krankenhaus, in dem das Kind vorher mehrfach behandelt wurde, hätten aufmerksamer sein müssen, die Untersuchungen beim Kinderarzt hätten längst zur Pflicht werden sollen, zur Pflicht für alle, die ihre Kinder keineswegs verhungern lassen. Doch die Kontrolle unbescholtener Bürger, so haben wir inzwischen gelernt, scheint immer die billigere Alternative zu sein, als zum Beispiel ziel- und zukunftsorientiert in Kinder zu investieren.

Der Tod von Lea-Sophie, die im Alter von fünf Jahren nur noch sieben Kilo wog, erinnert an viele zurückliegende Fälle, unter anderen an den von drei Jungen, die in ihrer Pflegefamilie hungerten. Der Jüngste starb, die beiden älteren Kinder wurden knapp vor dem sicheren Hungertod gerettet, abgemagert bis auf die Knochen. In ihrer Schule sollen sie in den Abfalleimern nach Essbarem gesucht haben. Trotzdem, selbst das Herumwühlen im Müll auf dem Schulhof und der erkennbare, desolate Zustand der drei Kinder soll niemandem aufgefallen sein. Die öffentliche Fürsorge hat versagt - und angeblich lag es auch da nicht am fehlenden Geld.

Kinder ohne eine liebevolles Elternhaus gehen in der reichen Industrienation Deutschland offenbar genauso unbemerkt und elend zu Grunde, als setzte man sie allein in einem Dschungel aus. Die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation hat es für Lea-Sophie und viele andere Kinder nicht gegeben. Ein kurzes Leben im Folterkeller, ein Kinderleben in Deutschland.

Kann man aus dieser offensichtlichen Tatsache, dass ein nicht vorhandenes, sorgendes Elternhaus auch in Deutschland Kinder umbringt und dass die Öffentlichkeit keineswegs dazu in der Lage ist, ein solches zu ersetzen, allein dem Jugendamt einen Vorwurf machen? Selbst die Bundesfamilienministerin äußerte Zweifel an dem vorschriftsmäßigen Handeln desselben. Doch wie vorschriftsmäßig funktioniert eine Politik, die einem einzelnen Jugendamts-Mitarbeiter die Betreuung von sage und schreibe 150 Kindern zumutet?

Die Leiterin des betroffenen Jugendamtes wies bereits vor einem Jahr auf die desolate finanzielle und personelle Situation ihrer Behörde hin. Sie hat es sogar geschafft, dass nun eine zusätzliche Stelle finanziert wird, leider zu spät für das kleine Mädchen. Ob ein Mitarbeiter mehr diesem Kind geholfen hätte, bleibt außerdem fraglich. Die meisten Jugendämter brauchen nicht nur eine sondern gleich mehrere neue Planstellen, wenn die vielen Wünsche, die von Politik und Öffentlichkeit auf diese niederprasseln, alle erfüllt werden sollen. Die eierlegende Wollmilchsau lässt grüßen.

Nein, den Vorwurf, den die Politik jetzt beflissentlich nach unten weitergibt, muss sie sich selbst gefallen lassen, und die Fragen ganz oben gestellt werden: Wer beim Ausbau notwendiger Infrastrukturen im Schneckentempo agiert und dabei auch noch Geld einsparen will, wer peinliche Diskussionen darüber führt, woher das Geld für einen Ausbau von Krippen herkommen sollen, wer Planstellen für Lehrer und Sozialarbeiter streicht, der trägt ebenso viel Verantwortung wie alle anderen, die sich gleichermaßen nicht kümmerten, nicht sorgten und möglichst kein Geld ausgeben wollten. Das soziale Sparprogramm fordert seine Opfer unter denen, die sich dagegen nicht wehren können.

Die Politik, ob auf Bundes- Landes- oder kommunaler Ebene, muss sich letztendlich fragen lassen, wen sie für ihre Spar-Politik opfern will, unschuldige Kinder oder die Wählerstimmen derjenigen, denen Kinder egal sind und für diese grundsätzlich kein Geld übrig haben. Alljährlich werden langatmige Diskussionen um den Soli geführt, ob der noch und wie lange für den Aufbau Ost notwendig sei. Notwendig und sogar überfällig ist angesichts von zwei Millionen verarmten Kinder ein Solidaritätsbeitrag für den „Aufbau Kinder“, damit hier endlich alle Kinder und Jugendlichen eine Chance haben – erstens zu überleben, zweitens eine gute schulische und berufliche Bildung zu erleben und drittens darauf, als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft ernst- und wahrgenommen zu werden.

Kinder sind teuer, das wissen zumindest treusorgende Eltern. Weder die Union noch die SPD haben einen Plan, wie sie auch Kindern ohne liebevollem Familienumfeld Chancengleichheit ermöglichen wollen. In Halle soll ein Kinderheim geschlossen werden – wieder um zu sparen. Die Kinder sollen in die Familien rücküberführt werden. Selbst die nur armen Exemplare lässt die Politik im Regen stehen. In Schleswig-Holstein beginnen einige, den Ernst der Lage erkennende Kommunen nun damit, das Busgeld für die Beförderung zur Schule, zu dem die Eltern von der rot-schwarzen Landesregierung verdonnert wurden, zu übernehmen, weil es im reichen Deutschland immer mehr Familien gibt, die sich die ständig steigenden Schulbuspreise tatsächlich nicht mehr leisten können.

Für Otto Normalverbraucher, auch für den kinderlosen, ist das alles spätestens beim Blick aufs eigene Budget längst nachvollziehbar. Für weit weg regierende Landes- und Bundes-Politiker, Ausnahmen bestätigen die Regel, offenbar immer noch nicht: Sie reden weiter von kinderfreundlicher Infrastruktur und lasten deren Kosten in der Praxis munter weiter allein den Eltern auf – oder sparen diese eben ganz ein. Kontraproduktiver kann Politik gar nicht mehr sein.

Für Kinder soll in Deutschland bislang kein Euro mehr ausgegeben, sondern lediglich umgeschichtet werden, zum Beispiel künftige Kindergelderhöhungen – die nächste Diskussion ist damit gesichert - eingespart und in öffentliche Einrichtungen gesteckt werden. Auch das entpuppt sich als reines Sparprogramm, denn mit solchen Ideen finanzieren ausschließlich Eltern, die ihre Kinder versorgen, Kinder, die von ihren Eltern nicht versorgt werden oder versorgt werden können.. Helfen wird das künftig soviel wie ein Tropfen auf dem heißen Stein, weil die Zahl von Familien mit Kindern immer mehr abnimmt. Somit werden übrigens sämtliche Programme für Kinder, die erst in Zukunft greifen, deutlich billiger als heute ausfallen. Man nennt die Gelder, die wegen Kindermangel nicht mehr für Kinder ausgegeben werden müssen, dabei allen Ernstes die demografische Rendite. Ist das Schönreden, Schönrechnen oder Irreführung? Selbst diese Rendite wird nicht etwa konsequent in die noch verbliebenen Kinder investiert, sondern zum Löcherstopfen und für alles Mögliche verwendet – ein Skandal und Holzweg gleichermaßen.

Wie viele Kinder werden noch sterben und verarmen, bevor die Politik endlich begreift, dass alle Bürger direkt und indirekt ein Interesse an dem Heranwachsen der nächsten Generationen haben und sich daher genauso beteiligen müssen, wie etwa an der Versorgung der älteren, nicht mehr erwerbstätigen Mitbürger? Dass private Altersvorsorge vor Altersarmut irgendwann auch nicht mehr schützen kann, haben Finanz-Experten längst ausgerechnet, doch das Märchen, es ginge auch ohne Kinder, wird trotzdem weiter munter verbreitet. Auch dieses Märchen trägt zu einem steigenden Desinteresse an den Kindern anderer Leute bei, das sich die Gesellschaft so nicht mehr leisten kann, weil es jeden einzelnen Menschen künftig ganz persönlich in Mitleidenschaft ziehen wird.

Dabei wäre die Antwort so einfach, wenn nicht alle ganz offen bis klammheimlich versuchen würden, trotz solcher entsetzlicher Vorfälle, eiskalt weiter an Kindern zu sparen. Ein Anfang wäre die kostenlose Schule für alle, mit kostenlosem Schulbesuch, kostenlosen Büchern, kostenloser Erstausstattung für Grundschüler und kostenloser Schulbeförderung und möglichst einem kostenlosen Frühstück oder Mittagessen. Wenn man das geschafft hat, sollte die kostenlose Kindergartenbetreuung folgen usw. Doch dafür müssten alle zusammenlegen und Geld ausgegeben, und das will, allem Gerede zum Trotz, so gut wie niemand bzw. niemand aussprechen. Deshalb ist der Satz mehr Geld würde nichts bringen derzeit auch so schick. Er streut Sand in die Augen der Öffentlichkeit, denn selbstverständlich würde mehr Geld dem Bildungs- und Betreuungsapparat etwas bringen, der unter dem derzeitigen Sparzwang stöhnt und ächzt und für mehr als nur das akut Notwendige weder Mittel noch Personal übrig hat. Und manchmal reicht es selbst dafür nicht.

Wären solche spendenfinanzierte Organisationen wie die Arche von Pastor Siggelow etwa nötig, wenn sich Deutschland genügend um seine Kinder kümmern würde? Die Wahrheit ist: Ohne solche Organisationen würden in Deutschland noch viel mehr Kinder aus ihren prekären Verhältnissen nicht mehr herauskommen, und ohne Geld funktionieren weder Kinderhilfsorganisationen noch Jugendämter oder Schulen und Kindertagesstätten. So geht es in Wirklichkeit immer nur ums Geld, das überall und hinten und vorne nicht reicht, um gefährdete und arme Kinder aufzufangen und ihnen eine faire Chance zu geben.

Geldscheine und Münzen Weil die deutsche Familien- und Bildungs-Politik selbst so etwas relativ Einfaches wie mehr Planstellen für Jugendämter, eine kostenlose Schulbildung für alle oder ingesamt etwas mehr Geld für Kinder- und Jugendinfrastruktur wie Schulen, Kindergärten, Sportplätze und Jugendämter nicht hinbekommt, muss leider trotz aller jetzt wieder einmal beflissentlich vorgetragenen Sonntagsreden und Betroffenheitsbekundungen der politische Wille zur Umsetzung, die Lage von zwei Millionen armen Kindern sowie die von bedrohten Kindern zu verbessern, ernsthaft in Zweifel gezogen werden.


2007-11-25 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
Illustration: ©Angelika Petrich-Hornetz
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