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Land der Wölfe

Interview mit Elena Filatova
Text und Fragen von Astrid Wehling

Der Test an dem Reaktor hatte am Abend vorher begonnen – wie lang würden die Turbinen unabhängig vom elektrischen Netz Strom erzeugen? Um genauere Ergebnisse zu bekommen, mußten die Techniker in der Nacht auch den automatischen Shutdown-Mechanismus deaktivieren. Ein paar Stunden später begann die Temperatur im Reaktor zu steigen, ein unstabiles Stromnetz, und alte Fehler an der Anlage setzten einen fatalen Dominoeffekt in Bewegung. Am 26. April, morgens um 1.23 Uhr explodiert der Reaktor IV in Tschernobyl. .

Im Land der Wölfe

Elena Filatova lebt heute, genau wie damals, in Kiew, 130 Kilometer südlich der Todeszone von Tschernobyl. Wann immer es geht, besucht sie die Gegend dort, ausgerüstet mit Geigerzähler und Kamera, auf der Suche nach den Spuren der Menschen, die damals dort gelebt haben. Elenas Webseite, auf der sie regelmäßig ihre Berichte veröffentlicht, sorgte nach ihrem Erscheinen im Jahr 2003 für Aufsehen. Doch selbst Zweifel am hundertprozentigen Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte taten ihrer Popularität keinen Abbbruch. Ihr wichtigstes Anliegen war und ist, dass diese Bilder von Tschernobyl nicht in Vergessenheit geraten.

In einem Umkreis von gut 250 Kilometer um Tschernobyl und der Nachbarstadt Pripyat herrscht Totenstille. Ein modernes Pompeji, aber nicht begraben unter Asche, sondern wie vom Wind eingefroren, damals im April vor 21 Jahren. Rund 2000 Dörfer und Städtchen sind heute menschenleer. Lediglich die Wölfe, Füchse, Bären und die Wildpferde streifen durch die Wälder. Sie haben keine Feinde mehr – zumindest keine lebenden. Die Radioaktivität ist nicht mehr in der Luft, sie ist im Boden, zwanzig Zentimeter tief. Die Geigerzähler zeigen nur an, was an die Oberfläche dringt.
Die Häuser im Land der Wölfe, wie Elena die Gegend um Tschernobyl nennt, beginnen zu verfallen. Hier und da hat sich ein Baum seinen Weg durch den Zementboden gebahnt. Spielzeug liegt zurückgelassen auf dem Boden. Hochzeits- und Familienbilder hängen noch in den Wohnzimmern an den Wänden. Die Anschlagtafel am Dorfkino ist längst verblasst, genau wie die Politplakate, die einen Maifeiertag ankündigen, der nicht mehr stattfand. Eine Notiz in der Schule weist immer noch darauf hin, dass ein geplanter Schulausflug wegen unvorhergesehener Ereignisse ausfallen werde. Auf der Fensterbank liegen noch kleine Gasmasken. Wäsche ist an den Leinen hängen geblieben, in manchen Fluren steckt noch Post in den Briefkästen. Die Menschen hatten, als nach Tagen der Evakuierungsbefehl kam, gerade noch Zeit genug, um das Notwendigste zusammenzupacken.

Nur die Kirchen stehen noch, größtenteils unversehrt. Die Sonne bricht sich in den bunten Fenstern. Hier ein paar Kerzen, die zurückgelassen wurden, dort eine Bibel, die auf dem Altar liegen blieb. Bereit für den nächsten Gottesdienst - in schätzungsweise 600 Jahren. Optimisten sprechen von 300.

Interview

Wirtschaftswetter: Elena, wo waren Sie am 26.4.1986? Wie haben Sie und Ihre Familie diesen Tag erlebt?

Elena Filatova: Dieser Tag hat sich nicht von anderen unterschieden. Wir haben in Kiew in den Straßen gespielt. Wir hatten Südwind, deshalb war die Radioaktivität in Kiew noch nicht so hoch. Als die Werte stiegen, hat mein Vater mich und meine Schwester ohne Fahrkarten auf die Bahn gebracht. Die Panik hatte da schon eingesetzt, deshalb war der Zug voller Kinder. Mein Vater sagt, in diesen Tagen betrug der Radioaktivitätslevel über 1 milliröntgen pro Stunde (rund 1, 70 Meter von Boden) und 20 bis 50 milliröntgen am Boden. Diese Werte findet man heute nur noch an den vielen Stellen rund um Tschernobyl, an denen damals das gesamte Material wie Schutt, Autos, die Kleider der Aufräumtrupps und so weiter vergaben wurden.
Die meisten Menschen in Kiew flohen zu Verwandten und blieben dort bis Mitte Mai. Dann begannen Schulen, Fabriken und Firmen ihre Angestellten, Arbeiter und die Schüler wieder zurückzurufen. Deshalb hatten wir keine andere Wahl, als nach Kiew zurückzugehen.

Wirtschaftswetter: Wo sind die Menschen von Tschernobyl heute?

Elena Filatova: Die Leute wurden damals umgesiedelt und leben heute in verschiedenen Städten und Dörfern der Ukraine – die meisten in Kiew. Das Umsiedeln war für sie sehr schmerzhaft. Es ist wie eine Amputation oder so, als ob man einen Baum umpflanzen will - nicht immer schlägt er Wurzeln, erst recht nicht in fremder Umgebung. Die meisten Evakuierten lebten in ländlichen Gebieten, es gibt hier große Unterschiede zwischen dem Stadt- und dem Landleben. Ich möchte einige kurz erklären:
Die Sprache: Die meisten Ukrainer sprechen Russisch, in den Dörfern allerdings eher Ukrainisch. Das ist ein großes Hindernis. Das Tempo: Das Leben in den Dörfern ist eher statisch – das Stadtleben mehr dynamisch. Die Weltanschauung: Das Leben auf dem Dorf bezieht seine Energie aus den Kenntnissen der Natur, es ist organisch. Die Städter sind technisch, mechanisch bis hin zu pragmatisch orientiert. Einstellung/Geisteshaltung: Die geistige Haltung der Dorfbewohner ist geprägt von Ahnenkult, und es ist undenkbar ohne bestimmte, heilig gehaltene Traditionen.
Auf der anderen Seite ist das Leben in der Stadt Pro-Zivilisation, es herrscht dazu oft der Wille, die Welt zu beherrschen, angefangen damit, dass die gesamte Welt-Oberfläche neu sortiert wird. Eine Stadt ist hier von Natur aus international eingestellt, ein Dorf eher dem Nationalen unterworfen.
Aber was die Dorfbewohner am meisten beeinträchtigt hat, war der spirituelle Verlust nach der Umsiedelung. Das Dorfleben hier ist von Natur aus religiös und unterscheidet sich daher stark vom Leben in der Stadt. Eine Seele vom Land hier ist stark von der Geschichte des Christentum beeinflusst, was auch überall deutlich ist. In den Städten sind diese christlichen Lichtstrahlen schon lang von den finsteren Machenschaften der gottlosen Kultur erdrückt worden.
Dadurch starben viele der Menschen, die aus Tschernobyl evakuiert wurden, durch zuviel Alkohol, aus Heimweh und aus Verzweiflung, während andere zu ihren Häusern zuruuckkehrten und dann an der Radioaktivität sterben mussten. Die, die jung und stark waren, ließen sich an den unterschiedlichsten Orten nieder und leben heute mit uns.

Wirtschaftswetter: Was wird über die nächsten Jahre mit dem Reaktor passieren? Er wird doch wohl nie sicher sein?

Elena Filatova: Ich kann nicht vorhersagen, was mit dem Reaktor passieren wird. Es gab ein paar Versuche, neue Sarkophage zu bauen (Anm: Schutzhüllen, die den Reaktor abschirmen sollen), aber die schlugen alle fehl. Soweit ich weiß, wird niemand, solange sich die politische und wirtschaftliche Situation in der Ukraine nicht ändert, in so ein Multi-Milliarden Projekt investieren.

Wirtschaftswetter: Man sagt, es sei heute deutlich sicherer, in die Zone von Tschernobyl zu fahren. Aber was ist mit der Radioaktivität im Boden? Wird man irgendwann wieder dort leben können?

Elena Filatova: Das Reisen in der Gegend ist heute schon viel sicherer, aber dort zu leben ist immer noch zu gefährlich. Doch die Natur wird das Land heilen und ich hoffe, dass irgendwann einmal wieder Menschen an manchen Stellen leben können.

Wirtschaftswetter: Elena, auf Ihrer Webseite veröffentlichen Sie jede Menge Fotos, Tagebucheintragungen, Gedanken. Wonach suchen Sie? Was bringt Sie dazu, immer wieder zurückzufahren?

Elena Filatova: Ich bin sicher, dass es weltweit viele Menschen gibt, die gerne diese Arbeit machen würden. Aber nicht alle haben das Geld, um hierher kommen zu können, oder sie können die Sprache nicht sprechen. Viele wissen auch nicht, wie sie an die Besuchsgenehmigungen für Tschernobyl kommen sollen. Oder wie an den Checkpoints vorbei kommen. Ich weiß all dies, weil ich hier geboren bin. Tschernobyl ist in meiner Nähe, und für mich ist es einfacher, diese Arbeit zu machen. Tschernobyl ist ein Teil meines Lebens und ich fühle eine Art Verpflichtung, davon erzählen zu müssen. Ich hoffe, dass ich eines Tages mein Motorrad repariert habe und dann meine Geschichte weitererzählen kann.

Wirtschaftswetter: An was denken Sie, wenn Sie die unsichtbare Grenze in das Land der Wölfe überquert haben?

Elena Filatova: Die unsichtbare Grenze ins Land der Wölfe ist für mich eine Brücke, ungefähr 60 Kilometer westlich vom Reaktor. Das ausgestorbene Dorf Bobyor (Biber), das am Ufer eines kleinen namenlosen Flusses liegt. Dieser Ort ist sehr malerisch, und wenn ich auf der Brücke stehe, dann habe ich immer ein Gefühl der Irrealität, oder besser: ein Gefühl von Zeitverlust.
Wir Menschen haben ja oft den Eindruck, dass in Tschernobyl die Zeit still steht, weil sich dort nichts verändert. In einem Menschenleben sind zehn oder fünfzehn Jahre schon eine beachtliche Zeitspanne, irgendwas ist ja immer los. Aber in Tschernobyl passiert während so einer Zeit gar nichts. Deshalb fühlt es sich für mich immer so an, als ob ich auf einer Brücke in die Unendlichkeit stehe. Würde ich dort für 1000 Jahre stehenbleiben, würde ich immer das Gleiche sehen, die gleichen Gedanken über die Nichtigkeit unserer Existenz und die Vergänglichkeit des menschlichen Zeitalters haben - ein kurzer Moment in einem Zeitraum, in dem Isotope zerfallen, die unmerklich und langsam von einem Element in das andere übergehen.

Auf dieser Brücke habe ich das Gefühl, ich stehe zwischen zwei Welten. Die, die ich zurück lasse, ist die Welt der Zivilisation. Mit all der ewigen Hektik und den Unruhen, dem schnellen Vergehen der Zeit - die einzige Form der heutigen menschlichen Existenz. Wo Tschernobyl vergessen wird, weil die meisten Menschen nichts anderes mehr verkörpern als die heutigen Impulse – das was war, existiert für sie nicht mehr.
Wenn ich diese unsichtbare Grenze überquere, dann habe ich das Gefühl, ich trete von einer rein physischen Welt in eine metaphysische. Wo es Straßen ohne Fußgänger gibt, Ladentheken ohne Verkäufer und Kirchen ohne Priester. Es scheint mir weder als der Himmel Gottes, noch als das Königreich Cäsars, es ist nun das Reich Plutos, wo alles – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfließen und in einer neuen Form existieren.
Ich denke aber auch genauso an das Leben, das einst in Tschernobyl gebrodelt hat – das ganz normale, alltägliche Leben, wo der eine Keller gegraben und der andere Luftschlösser gebaut hat. Ein Leben, in dem manche Menschen etwas gesät haben, was sie nie sprießen sehen konnten und andere geerntet haben, was sie nicht aussäten. Nun sind all ihre Bemühungen, Leistungen und Leidenschaften nur noch ein blasser Schatten an der Wand.

Wirtschaftswetter: Glauben Sie, dass die Menschen noch in zehn oder zwanzig Jahren über Tschernobyl reden werden?

Elena Filatova: Die Leute werden Tschernobyl nie ganz vergessen können. Schon allein, weil es so ein großes Gebiet ist und komplett vergiftet mit Radioaktivität. Es wird immer da sein und wird uns immer daran erinnern.

Wirtschaftswetter: Sind Sie gegen Nukleartechnologie?

Elena Filatova: Nukleartechnologie bringt eine Todesstrafe über die Welt, sie ist in Händen von Menschen sehr gefährlich.

Wirtschaftswetter: Was möchten Sie Kindern sagen, die in den letzten 15 Jahren geboren sind? Und was deren Eltern?

Elena Filatova: Den Kindern: Fühlt euch nicht vergessen, die Welt passt auf euch auf. Den Eltern: Starrt nicht zu lang in den Abgrund, denn schon Nietzsche sagt: Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Das bedeutet, dass man sich nur selbst begrenzt, wenn man zu sehr über unendliche, grenzenlose Dinge grübelt. Dinge wie die Zeit, das Universum und menschliche Dummheit.

Wirtschaftswetter: Elena, sind Sie Optimistin?

Elena Filatova: Ich bin eine fröhliche Pessimistin.

Interview in Englisch: Land of the wolves


Weitere Informationen:
elenafilatova.com


2007-10-25 Astrid Wehling, Wirtschaftswetter
Text: ©Astrid Wehling und Elena Filatova
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