Ein Kommentar von Annegret Handel-Kempf
Es waren einmal Zeiten, da mussten besorgte Eltern nicht alle drei Tage Internetseiten durchforsten, um zu erkunden, ob ihre Kinder nicht mit Spielzeug oder Stiften spielten, die die Kleinen vergiften oder ihre Eingeweide zerfetzen könnten. Die Kinder konnten bei einem Fabrik- oder Manufaktur-Besuch um die Ecke oder beim Urlaub in Franken die Entstehung der phantasievollen Produkte verfolgen.
Es waren einmal Zeiten, da mussten Eltern nicht fürchten, dass die putzigen Lieblingskleider ihrer umsorgten Kleinen von kaum älteren Kindern in menschenverachtender Kinderarbeit produziert wurden. Damals hatten Kinder hierzulande nur wenige Kleidungsstücke, doch diese wurden von ihnen geschätzt und gaben manchen ihrer Eltern Arbeit.
Es waren einmal Zeiten, da mussten Eltern nicht an der neuen Wintergarderobe ihrer Kinder schnüffeln, um festzustellen, ob ätzende Chemie aus den Fasern ihren Nachwuchs krank machen könnte. Hiesige Kinder konnten bei Fabrik- oder Schneidereibesuchen, nicht weit von ihrem Wohnort, beobachten, wie die wärmenden Textilien entstanden und auf gute Qualität und Haltbarkeit geprüft wurden.
Es waren einmal Zeiten, da kamen die Äpfel unbehandelt vom nächstgelegenen Baum und nicht ultrakonserviert, unreif geerntet, von einem anderen Kontinent.
Es waren einmal Zeiten, da gingen Kinder mit der Schulklasse oder Kindergartengruppe in die Bäckerei nebenan und konnten selber Brezen formen und beobachten, wie aus vielerlei Zutaten fertige Leckereien entstanden. Heute können sie sehen, wie aus Gefrierteig-Brezen, die irgendwo, von irgendwem vorgefertigt wurden, in einem großen Backofen im Supermarkt schnell zäh werdende Gebäckstücke werden.
Heute haben wir Zeiten, in denen sich selbst noch gar nicht so alte Menschen nach der guten, alten Zeit zurücksehnen, die irgendwo zwischen den Achtziger und Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wohl endgültig zu Ende ging.
Heute trifft sich die Maßlosigkeit, mit der Kinder mit schillernden Verlockungen überschüttet werden, mit der Maßlosigkeit, mit der die Wirtschaft, und zunehmend auch die Politik, vom Streben nach dem größtmöglichen Ertrag bestimmt werden, und das Spiel an der Börse auch ohne Crash unzählige Existenzen vernichtet.
Heute sinniert die Industrie, wie das Spielzeug der Großen auf immer kleinere Kinder hingetrimmt werden kann. Wenn Zweijährige ohne Stützräder auf micro-kleinen Fahrrädern mit bodennahem Sitz radeln, wird schnell vergessen, dass eigentlich erst Achtjährige verkehrstauglich sind und die Balancierfähigkeit der Zweijährigen ein ähnliches Glücksspiel ist, wie das Motivieren eines Einjährigen, einen Treffer im Töpfchen zu landen. Bis zum achten Geburtstag wird das Kind noch viele Fahrräder brauchen, denn es wächst schnell und die Gewinne der Spekulanten hinter den Herstellern mit ein wenig von deren Glück auch.
Heute haben wir Zeiten, in denen die Transportkosten von Produkten aus Fernost die Herstellungskosten schnell übertreffen und sich trotzdem rentieren, wenn die Klima schädigenden Unkosten nicht einberechnet werden.
Heute haben wir Zeiten, in denen – angesichts der immensen Wegekosten – letztlich nur ein paar bei der PC-Produktion gesparte Cents es augenscheinlich rechtfertigen, die Herstellung weg von den Konsumenten und Service-Suchenden, hin in Regionen zu verlegen, in denen zumindest die Anfertigung von Spielzeugen offensichtlich unkontrollierbar ist.
Heute haben wir Zeiten, in denen wir immer mehr Zeit dafür brauchen, uns mit Rückrufaktionen zu beschäftigen. Und mit der Beseitigung all der Dinge, die wir nicht mehr benutzen dürfen oder wollen.
Heute haben wir Zeiten, in denen schnell die Zeit fehlt, ein Buch zu lesen, nachzudenken oder die Natur zu genießen, die ganz nah bei uns ist.
2007-10-01 Annegret Handel-Kempf, Wirtschaftswetter
Text: ©Annegret Handel-Kempf
Illustrationen: ©Angelika Petrich-Hornetz
Foto Themenbanner: ©Cornelia Schaible
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