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Doc's Kolumne

Medikalisierung

von Dr. Elisabeth Kärcher

Liebe Leserinnen und Leser,

in der medizinischen Fachpresse nehmen in den letzten Jahren Artikel zu, die Themen wie Medikalisierung, psychopharmakologisches Enhancement, Pharma-Sozialisation und Disease Mongering thematisieren. Dahinter verbirgt sich eine ernst zu nehmende Strömung unserer Zeit. Es geht um nichts weniger als die Manipulierung der Nachfrage von Medikamenten und Medizintechnik.

Ganz gewöhnliche Unpässlichkeiten, Befindlichkeitsstörungen und Life-Style-Phänomene werden durch Aufklärungskampagnen zum ernsthaften Problem erhoben, deren Lösung Tabletten oder Spritzen verlangen. Oder seltene Erkrankungen werden als Massenphänomen gepuscht und so die Nachfrage an Medikamenten und Produkten angeheizt. Waren Ärzte als Verordner immer schon im Fokus der Marketing-Aktivitäten, sind es neuerdings die aufgeklärten, bewusst lebenden Menschen.

Und es funktioniert. Lebensmittelallergien haben in den USA – ganz im Gegensatz zu ihrer tatsächlichen mengenmäßigen Bedeutung – eine öffentliche Wahrnehmung erhalten, die an Dramatik und Ängsten denen von Krebs in nichts nachsteht. Und als Lösung wird bereits eine massenhafte Ausstattung mit Notfallmedikamenten im Alltagsleben gefordert. Wie passend, dass der Sponsor der Aufklärungskampagnen dieses Medikament herstellt.

In Deutschland entwickelt sich der Defibrillator für den Hausgebrauch zum Renner, und verkaufen sich kritiklos komplexe Geräte über die Kassentheken von Supermärkten. Es ist ja so beruhigend, wenn man fest daran glaubt, mit einem Stromschlag die Welt wieder in Ordnung bringen zu können. Wer mahnt, dass das regelmäßige Üben einer Herzdruckmassage weit wichtiger ist, kassiert Anfeindung.

Noch weiter gehen Medikamente, die geistige Fähigkeiten und seelische Befindlichkeiten von als gesund geltenden Menschen verbessern sollen. Tabletten sollen schulische Leistungen heben, den Schlafbedarf von Soldaten im Krieg reduzieren oder eine gedrückte Stimmung aufhellen. Das Ziel, ein erwünschtes Verhalten zeigen zu können, lässt umfangreiche Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Dadurch können soziale Probleme maskiert, die persönliche Identität verändert und die Grenze zwischen medizinischer Therapie und individuellem Life-Style verwischt werden. Die klassische Persönlichkeitsentwicklung, eine langsame Veränderung oder Entfaltung durch Coaching, Training oder Therapie wirkt demgegenüber unmodern und mühsam.

Es scheint so, dass die Gesellschaft bereits den Weg in eine weitgehende Medikalisierung eingeschlagen hat, also eine Gesellschaftsform, die nicht durch Einflüsse von Politik, Religion oder Philosophie geprägt ist, sondern durch die der Medizin und Pharmazie.

Dr. Elisabeth Kärcher


2008-04-01 >Dr. Elisabeth Kärcher, Wirtschaftswetter
Text : ©Dr. Elisabeth Kärcher
Fotos Themenbanner: ©Birgid Hanke, aph
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