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Monolog einer Neurose

von Moon McNeill

Gestatten: Ich bin Deine Neurose.

Du weißt nicht, dass ich Dein Leben in jedem Moment bestimme. Du glaubst, Du selbst bist es, die handelt, denkt und fühlt – aber tatsächlich filtere ich alles, was Du denkst, fühlst und erlebst daraufhin, ob es ein Angriff ist oder nicht. Du bist meine Marionette. Ich bin Dein Gott.

Erkenne ich etwas als Angriff oder Verletzung, nehme ich es wichtig und entfalte ein Drama. Ich klage an, stelle überzogene Forderungen, behaupte, jemand sei Schuld, stelle mich als Opfer dar, entfalte wallende Gefühle der Wut, mache mein Gegenüber klein, fordere Wiedergutmachung oder breche die Beziehung ab. Es spielt keine Rolle, ob es tatsächlich ein Angriff war – ich attackiere mein Gegenüber mutig und konsequent! Du hast nicht eine Sekunde Zeit, selber nachzudenken, weil ich nämlich automatisch reagiere. Das haben wir viele Jahre lang gemeinsam geübt, bis Du im Schlaf getan hast, was ich – Deine Neurose – bestimme. Erkenne ich etwas als keinen Angriff, interessiert es mich nicht und ich sortiere es in die Schublade für uninteressantes. Mein Gott, was da schon alles herumliegt. Persönliches Zeug, das irgendwelche Deppen in Deinem Leben gesagt haben, um sich wichtig zu machen. Aber nur ich bin wichtig. Nur ich.

Ich schütze Dich vor dem Leben und hindere Dich daran, wirklich daran teilzuhaben, denn ich habe erkannt, dass alle Dich immer nur verletzen wollen. Ich schütze Dich vor der Liebe und hindere Dich daran, sie wirklich zu erleben, denn ich habe erkannt, dass alle Dich immer nur verletzen wollen. Ich schütze Dich vor dem glücklich sein und davor, es tatsächlich zu erleben, denn ich habe erkannt, dass das Glück Dich immer nur verletzen will. Du fühlst dich in meinen Armen sicher und geborgen und ich bekämpfe alles, was leben, Dich lieben oder glücklich machen will. Ich allein entscheide, was Dich glücklich macht und wie Du geliebt werden darfst. Ich erzähle Dir, dass Deine Liebe fesseln und unterdrücken darf, weil ich dann die Kontrolle darüber haben kann. Ich vermittle Dir, dass du jemanden klein halten und demütigen darfst, denn nur so wird er nicht größer als ich. Ich sage Dir, dass Du andere abhängig machen sollst und dass sie Dich brauchen sollen, damit ich jederzeit eingreifen kann. Ich dulde niemanden, der versucht, mich zu bekämpfen, denn ich will Dein wahrer Beschützer sein. Ich schütze Dich sogar vor Dir selbst, hindere Dich täglich am Wachsen und Lernen und halte Dich klein, damit ich jederzeit die Kontrolle über Dich habe. Das ist mein Job.

Ohne mich, Deine Neurose, bist Du ein Nichts. Du bist programmiert, all meine Gedanken, Gefühle und Ziele auszusprechen und das in jedem Moment Deines Lebens. Du handelst allein in meinem Auftrag. Falls Du jemals zu der Ansicht kommst, ich hätte einen Fehler gemacht, kann ich Dich mit tausend bösartigen Argumenten überzeugen, dass jemand Dir schaden wollte und dass ich Dich davor beschützt habe. Ich kann Dir jederzeit Dein Opferbewusstsein aufdrücken, damit Du merkst, dass Du mich brauchst und ohne mich verloren bist. Du wirst nie einsam sein, weil ich immer für Dich da bin. Alle wohlmeinenden Menschen aus Deinem Leben und viele Menschen, die Dir wichtig waren, hast Du schon verloren – aber es war kein wirklicher Verlust, denn sie wollten Dich immer nur verletzen. Deinetwegen Sogar Menschen, die Dich wirklich liebten und Dir Potential zuschrieben, das nicht neurotisch war, habe ich mit Deiner Hilfe weggebissen – denn sie wollten Dich immer nur verletzen. Bevor sie das tun konnten, habe ich sie verletzt, gedemütigt und vertrieben. Und falls sie sich wehrten und um Hilfe schrieen, habe ich all dies als Angriff interpretiert und Dir gesagt, Du sollst sie dafür bestrafen! Und Du hast es getan. Du bist mein Werkzeug. Ich bin Dein Gott.

Lass uns zusammen alt werden. Niemand anderes ist es wert, Dein Leben zu teilen. Nur ich, Deine geliebte Neurose!


2008-04-01 Moon McNeill, Wirtschaftswetter
Text: ©Moon McNeill
Foto Banner Illu: ©Ines Kistenbrügger, aph
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