von Juliane Beer
Auch eine Küche gibt es in meiner Wohnung. Doch dort halte ich mich ungern auf. Außer die Steinbröckchen in Öl einzulegen weiß
ich darin nichts anzufangen. Meine Küche liegt zur Nordseite hinaus. Die Klänge des Orchesters dringen nicht herauf.
In einer Küche kocht man und isst. Normalerweise. Ich setze beides auf das allernotwendigste Maß herab. Wie komisch wäre es, am
Tisch zu sitzen, für mich, und manierlich mit Messer und Gabel zu essen, als sei ein Gegenüber da. Blickte ich zwischen zwei Bissen auf, sähe ich niemanden. Ich aber säße noch immer, unverändert, eine Serviette um den Hals, das Besteck in der Hand – es wäre zu spät, mir den Irrtum einzugestehen –, ich hätte ja bereits zu essen begonnen.
Damals, als er hier war, bat ich ihn einmal, mich in ein Restaurant zu begleiten. Er lehnte es ab. Er hielt es für besser, ich würde allein gehen. Das tat ich nie. Es wäre mir nicht gelungen, mich unter den Blicken aller Anwesenden an einen Tisch zu setzen und mir etwas von der Speisekarte zu bestellen. Jeder würde sofort erraten, dass er es abgelehnt hatte, mich zu begleiten. Ich befürchtete, dass sich aus diesem Grund einer der Anderen von seinem Platz erheben könnte. Einer, der niemanden zum gemeinsamen Essen bei sich hatte. Plötzlich würde er an der Südflanke meines Tisches auftauchen, seinen Mangel an Gesellschaft gestehen und bitten, sich zu mir setzen zu dürfen. Gegen Ende der Mahlzeit würde er ein Wiedersehen, etwa einen weiteren gemeinsamen Restaurantbesuch, vorschlagen.
Ich esse zu Hause. Ich setze mich dabei nicht hin. Morgens im Supermarkt kaufe ich Gläser und Konservendosen, deren Inhalt weder einer Zubereitung noch eines Gargangs bedarf. Werde ich im Laufe des Tages hungrig, nehme ich den Löffel, der stets abgewaschen zwischen der zweiten und dritten Tellerklemme des Abtropfgitters neben dem Spülbecken hängt, stelle mich vor die geöffnete Kühlschranktür und verzehre eine Dose Heringe oder ein Glas Apfelmus. Einmal am Tag, zumeist am Nachmittag, esse ich ein belegtes Brot. Auf diese Weise kann ich die Küche bald wieder verlassen. Ich halte mich dort ungern auf.
Lieber verbringe ich den Tag in dem großen Zimmer über der Probebühne. Ich habe ein Sofa hineingeschoben. Die Wände sind weiß.
Unter dem Fenster stehen meine sieben Tagesgläser – Saftflaschen, gefüllt mit Öl, in dem winzige Steinbröckchen schwimmen.
Erst gegen Morgen, wenn es draußen wieder zu dämmern beginnt, ziehe ich in mein Bett um – eine mit Decken ausgelegte Nische in der Südwand des großen Zimmers.
Damals, als meine Räume noch von der Oper genutzt wurden, lagerten hier die Partituren.
Mittags nach dem Erwachen schüttle ich das jeweilige Tagesglas.
So, wie die Bröckchen durch das gelbe Öl wabern, werden sich die Anderen heute bewegen.
Für den Tag gewappnet stelle ich mich dann ans Fenster, um den Etüden des Orchesters zu lauschen.
Hinter mir liegt meine Wohnung. Es ist still.
Abrupt drehe ich mich um …
… abrupt drehte ich mich damals um – immer in genau dem Moment, in dem der Nachmittag anbrach. Die Musiker beendeten zu
dieser Stunde ihre Probe.
Ich zog mich an und band mein Haar zu einem akkuraten Zopf, wobei ich äußerst sorgfältig vorging. Die Anderen sollten nicht
merken, dass ich nur für wenige Stunden – etwa auf eine Besorgung – zu ihnen hinunterkam. Ich hatte beobachtet, dass sie sich zurechtmachten, dass sie sich frisierten und schön anzogen – so schön, wie es ihnen möglich war –, bevor sie den Tag über geschäftig untereinander weilten. Ich hatte beobachtet, dass sie den Tag über geschäftig untereinander weilten.
Zurecht gemacht war ich davor geschützt, sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich meinen Fensterplatz vorzog. Wenn ich zurückdenke, glaube ich, dass ich nie sicher war, ob sie diese Entscheidung achten würden.
Einmal im Monat stand ich früh auf. Sehr früh. Ich zog mich sofort an, ohne vorher am Fenster zu stehen und dem Orchester zu lauschen. Ich schüttelte mein Tagesglas und beobachtete, wie die Steinchen zu Boden sanken. Dann verließ ich die Wohnung, stieg in die Straßenbahn und fuhr bis zur Haltestelle Stadtamt.
Warum ich dort hinfuhr?
Ein Termin zwang mich dazu.
Anschließend eilte ich über die Hauptgeschäftsstraße des Bezirks, um mir all die notwendigen Dinge anzuschaffen, auf die ich während des vergangenen Monats gespart hatte. Von dem Budget, das ich mir täglich zuteilte, blieb oftmals Geld übrig. Ich legte es in eine Extrakasse und holte es erst am Morgen, bevor ich zum Amt fuhr, hervor.
Die Einkaufstouren mitsamt den zahllosen um mich herumschwirrenden Anderen, mein Bemühen, so zu tun wie sie, sowie der sich anschließende monatliche Gang in das Buchhaltungsbüro der Oper, wo ich die Miete für meine Wohnung bezahlte, trieben mich lange vor der geplanten Stunde zurück nach Hause. Meistens hatten sowieso nicht mehr als ein Stück Seife und einige Flaschen Öl, um den Inhalt meiner Tagesgläser zu erneuern, auf meiner Einkaufsliste gestanden. Ich stellte die Tüten neben die frisch gesammelten Steine auf den Küchentisch, verriegelte die Tür, presste meinen Rücken dagegen. Langsam glitt ich in die Hocke, so blieb ich sitzen, bis das Stimmengewirr des Nachmittags leiser wurde.
Dann zog ich Mantel und Schuhe aus. Sorgfältig verstaute ich beides in der Garderobe. Die Geldsumme, die nötig gewesen wäre, um
mir einen neuen Mantel und ein neues Paar Schuhe zu kaufen, hatte ich bereits seit Jahren nicht mehr besessen. Die monatlichen Ersparnisse aus meiner Extrakasse reichten für eine derartige Anschaffung nie. Ich wusste nicht genau, wie oft die Anderen sich ein neues Paar Schuhe kauften. Beobachtungen verrieten es mir nicht. Ich bürstete und polierte mein Paar so, dass es denen der unten Umherlaufenden entsprach.
Sobald es draußen zu dämmern begann, wurde ich immer sehr hungrig. An diesen Tagen, den Amttagen, aß ich mein belegtes Brot am Abend und trank dazu den gesamten Inhalt einer Saftflasche, die ich für die Erneuerung eines Tagesglases benötigte. Später setzte ich mich in den Ohrensessel, für den die Oper keine Verwendung mehr gehabt hatte. Seit dem Tag meines Einzugs stand er im großen Zimmer. Ich hatte ihn damals in die Nähe des Fensters gerückt.
An Amttagen verließ ich die Wohnung kein zweites Mal. Draußen wurde es immer stiller. Langsam hörten die Stimmen des Tages auf nachzuhallen. Kaum ein Laut drang mehr zu mir hinauf. Der Betrieb auf der Straße war erlahmt, in der Oper hatte die Vorstellung, der ich von meiner Wohnung aus nicht zuhören konnte, begonnen.
Die Stille erschien an den jeweiligen Abenden unterschiedlich. Ich besaß ein Repertoire an Begriffen dafür. So wie der Bewohner der Arktis über verschiedene Begriffe für den Schnee in seiner jeweiligen Beschaffenheit verfügt.
An Abenden, an denen sich keine zufrieden stellende Bezeichnung für die Stille fand, verließ ich die Wohnung. Allerdings nicht,
um einer Einladung zu folgen – es war sechs Jahre, vier Monate und zwölf Tage her, seit ich das letzte Mal zu einer zuvor festgelegten Uhrzeit – 20.30 Uhr – in eine Wohnung gebeten worden war, in der ein Gastgeber Getränke kalt gestellt hatte, Geladene sich um einen großen Tisch gruppierten oder in kleinen, sich zusammengehörig fühlenden Gruppen zusammenhockten, um zueinander zu sprechen, wobei einem jeden Anwesenden über seine Nöte zu klagen gestattet war. Unter Berücksichtigung einiger Regeln, die ich damals nicht befolgt hatte. Die wichtigste davon lautete, seine Nöte in eine für alle Teilnehmenden annehmbare Form zu kleiden. Niemand durfte die wahre Verzweiflung des Vortragenden erraten.
Es war natürlich auch erlaubt, Erfreuliches zu berichten. Ein geschickter Redner vergaß dabei nie die Einflechtung geringfügiger Missgeschicke. Darstellungen eines reibungslosen Ablaufs der Tage und das mühelose Erreichen eines jeden Ziels erzürnten die Zuhörer.
Auf der letzten Abendgesellschaft, an der ich teilgenommen hatte, schwieg ich auf die Frage, wie ich mein Geld verdiente; danach gefragt, wie und mit wem ich meinen Tag verbrächte, berichtete ich von meiner Dachwohnung über dem Opernhaus, von den Orchesterproben am Vormittag, von den Gewohnheiten derer, die ihre Tage auf dem Vorplatz zubrachten, von der monatlichen Erneuerung meiner Ölgläser. Des Weiteren erzählte ich, dass ich meine Tage sowie auch die Nächte mit mir verbrächte. Man nahm dies schweigend zur Kenntnis. Es folgten keine weiteren Einladungen mehr.
Seitdem verließ ich abends meine Wohnung ohne ein verbindliches Ziel.
Ich begann mit einem Probedurchlauf. Ich nahm die Tüte mit den Küchenabfällen, stieg alle fünf Stockwerke hinunter, vorbei an der Probebühne, vorbei an den Büroräumen, vorbei an der Hauptbühne und den darunter gelegenen Lagerräumen. Ich drückte die schwere
Metalltür, den Zugang zur Feuertreppe auf; die eisige Zugluft, welche im Hinterhof des Hauses herumwirbelte, schlug mir entgegen. Ich stemmte den Deckel des Müllcontainers auf, fauliger Gestank entwich. Ich warf meine Tüte in das klaffende Loch, schloss die Augen und zählte bis vier. Bevor ich die letzte Zahl ausgesprochen hatte, musste der Container sich geschlossen haben. Sobald das Metall des Deckels, an dessen unterster Kante seit acht Monaten die Gummidichtung fehlte, auf das Metall des Containers schlug, rannte ich über den Hof, auf die Straße, zum Vordereingang des Hauses. Außer Atem öffnete ich die Augen und blickte mich um. Vor der Abendkasse der Oper standen nur noch die, die keine Karte ergattert hatten. Durch die Scheiben des angrenzenden Selbstbedienungsrestaurants ließ man sich beim Hinunter-schlingen einer in Plastikförmchen verpackten Mahlzeit beobachten. Ich trat in den Seiteneingang des Hauses. Ging ein Anderer vorbei und sah mich an, senkte sich mein Blick, ermüdet von all den Stunden des hinter mir liegenden Tages, zu Boden. Der Andere glaubte mir. Voller Achtung verbat er sich, mich anzusprechen, und ging zügig weiter.
Ich wartete auf die Ankunft des Fahrstuhls.
In der Wohnung angekommen, wechselte ich meine Kleider und frisierte noch einmal mein Haar. Dann ging ich abermals hinunter. Auf der Straße war es jetzt vollkommen still. Die Opernkasse war geschlossen. Im Selbstbedienungsrestaurant reinigten Bedienstete, die sich blau-weiß gestreifte Schürzen um die Taillen gebunden hatten, Tische und Fußböden.
Ich lief die Hauptstraße hinunter. Die Bars am Ort füllten sich langsam mit ersten Gästen. Ich ging so lange die Straße auf und ab, bis ich sicher sein konnte, in jeder Bar eine gewisse Anzahl Anderer, nämlich mindestens 57 vorzufinden. Das dauerte eine Stunde – sechs Gänge über den rechten Bürgersteig und fünfeinhalb über den linken. Dann, genau auf der Hälfte der linken Straßenseite, öffnete ich die nächste Schwingtür und trat ein. Die Musik war laut. Das war mir
angenehm – niemand würde verstehen, was ich dachte. Ich bahnte mir den Weg zum Tresen und bestellte Wodka mit Ananassaft. Damit
stellte ich mich in einen Winkel, in dem niemand stehen wollte, weil es dort dunkel war. Die bunten Strahlen der Scheinwerfer fielen nicht hinein. Ich trank meinen Wodka und guckte den Anderen zu. Sie drängten sich dicht aneinander vorbei. So dicht, dass sie sich dabei berührten. Doch das konnte ihnen nichts anhaben – was das betrifft, haben die Anderen Glück. Jeder von ihnen ist in eine Hülle geschlossen. Diese Hülle dämmt Geräusche, mindert den grellen Schein der Farben und die Helligkeit des Lichts. Sie ist durchsichtig und elastisch, lässt jede beliebige Bewegung zu. Sie ist unzerreißbar. Selbst im dichtesten Gedränge trennt sie die Anderen voneinander ab. Sie ermöglicht sozusagen den Besuch einer Bar, ohne im Winkel stehen zu müssen.
Ich wartete, bis sich eine Lücke zwischen den am Tresen Lehnenden auftat; dort manövrierte ich mich hinein, bestellte ein zweites Glas Schnaps mit Saft und ging damit zurück in den Winkel. Nach Mitternacht begannen die Anwesenden, zwei Hauptgruppen zu bilden. Die erste Gruppe begann zu rufen und zu tanzen, wo es gar keine Tanzfläche gab. Umstehende, die sich zu einer Untergruppe zusammengeschlossen hatten, wichen zur Seite und ließen sie gewähren. Die zweite Hauptgruppe begnügte sich damit, am Tresen sitzend in sich zusammenzusinken und ihr Glas, das sie sich in immer kürzeren Abständen vom Barbediensteten füllen ließ, zu begucken.
Schließlich sank der erste mit dem Kopf vornüber. Ich ging dann immer nach Hause, um den Betreffenden nicht zu beschämen.
Einmal, als ich nachts aus der Bar kam, führte mich mein Heimweg an zwei Landstreichern vorbei. Beide trugen schmutzige Kleidung,
und obwohl es noch sehr kühl war, hockten sie auf dem Bürgersteig und tranken Schnaps aus einer beschlagenen, etikettlosen Flasche.
Als ich vorbeiging, riefen sie mir etwas zu, das ich nicht verstand. Ich ging zurück und sagte, dass ich sie nicht verstanden hätte. Der eine lachte und rief: »Das macht nichts!« Er hielt mir die Flasche hin.
Ich holte mein Taschentuch hervor, wischte das Mundstück ab,
nahm einen Schluck, bedankte mich und gab ihm die Flasche zurück.
Jetzt lachte er nicht mehr. Er sah mir in die Augen … und wünschte
mir eine gute Nacht. Ich blieb stehen. Doch er hatte sich bereits
wieder seinem Begleiter zugewandt, beachtete mich nicht mehr. Gemeinsam
fuhren sie fort, ihre Flasche zu leeren.
Ich beschloss weiterzugehen.
Hinter mir wurde ein Fenster aufgerissen. Ein Mann mit nacktem
Oberkörper beugte sich heraus und brüllte, dass er schlafen wolle.
»Komm runter, einen trinken!«, riefen die Alten auch ihm zu.
Ich hörte, wie das Fenster zugeschlagen und verriegelt wurde.
Ich ging nach Hause.
Dort saß ich in meinem Ohrensessel und wartete, bis die Dämmerung
anbrach.
Ich saß dort jeden Morgen.
Neun Jahre lang.
Sieben Mal die Woche.
Drei Stunden und fünfunddreißig Minuten.
Eines Morgens war er da.
Achtung, Werbung:
Der Text ist ein Auszug aus dem gleichnamigen Buch Über den Fortgang der Dinge von Juliane Beer, ISBN 978-3-9809552-0-1, 192 Seiten. 2004 im Verlag zeter & mordio erschienen. 2007 erschiendort auch das neueste Buch von Beer: Eines Nachts habe ich einen Ausflug gemacht, beide sind im Buchhandel erhältlich.
2008-04-01 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Fotos Banner: ©Ines Kistenbrügger, aph
Infos zu Datenschutz + Cookies
zurück zu: Lifestyle
zurück zu: Startseite
wirtschaftswetter.de
© 2003-2021 Wirtschaftswetter® Online-Zeitschrift