von Juliane Beer
„Achtung , eine Durchsage an alle Passagiere des Flugs Nummer 666 um 10 Uhr 20 nach New York. Der Abflug wird sich um voraussichtlich 30 Minuten verspäten! Bitte achten Sie auf weitere Durchsagen!“
Zappalot, damit hatte ich nicht gerechnet! Mit einer kleinen Verspätung schon, sicher, die habe ich sogar von vorne herein mit eingeplant, zehn Minuten, auch fünfzehn - aber eine halbe Stunde?!
Um viertel vor elf kommt der Umzugswagen. Sagen wir mal, um zehn vor elf stehen die Packer vor meiner Tür, klingeln, warten natürlich ein wenig, eine alte Dame ist schließlich kein geölter Blitz, klingeln also gegen sieben vor elf noch einmal, wieder nichts, jetzt macht man sich aber leise Sorgen. Die Burschen klopfen, „Frau Reimann, hallo, hören Sie? Hier ist Ihr Umzug nach Wannsee in den Goldenen Abendschein!“
Pah! Goldener Abendschein! Was für ein bezaubernder Name für das Wartezimmer eines Krematoriums!
Dieser Vormund kam mir übrigens gleich so komisch vor. Ex-Pfarrer! Aber sicher doch! Da kann er ein Märchen drüber schreiben. Der gehörte dazu, wenn Sie mich fragen, zu der ganzen Clique. Berlinobau, Goldener Abendschein, die stecken alle unter einer Decke! Wollen ihre betagten Mieter loswerden, aber nicht auf nimmer Wiedersehen, nein, in deren konzerneigenes Altenheim sollen die, die was auf der hohen Kante haben. Dort kann man die Damen und Herren noch ein wenig erleichtern, wie? Wozu braucht eine alte Schachtel ohne Angehörige schließlich Geld? Nein, auf die Masche fällt eure Martha nicht rein! Und auf Vormünder, getarnt als Ex-Pfaffen, die aus der Kirche ausgetreten sind, weil sie endlich etwas Sinnvolles tun wollten, schon gar nicht. Als ob ein 35-jähriger Mann Sinn darin sehen würde, betagte Menschen zu bevormunden. Als ob die Bevormundung Volljähriger nicht schon vor Jahren abgeschafft wurde.
Aber nun gut, ich spielte erst mal mit. Scheinbar. Was hätte ich sonst tun sollen? Die Polizei holen? Ach, ich bitte Sie, wer zählt denn heutzutage noch auf die Brüder?
Du liebe Güte, viertel nach 10 erst?! Ich war überpünktlich, wie immer. Das Einchecken ging zudem so fix, und eine Dame in meinem Alter wird natürlich auch nicht durchleuchtet und durchsucht. Hätten Sie es doch mal getan, meine Herrschaften! Die Waffe ruht nämlich in der Hand des Selbstmörders. So sehr hänge ich nun auch nicht an einer Pistole, auch wenn sie das letzte Andenken an Eduardo ist. Aber man soll sein Herz nicht an Dinge hängen, das fand Eduardo auch immer. Und wenn er mich jetzt sehen könnte -Applaus würde er klatschen, wobei Siegelring an Ehering geklackert wäre... ach Eduardo, wie gern würde ich ab morgen mit dir durch die Schluchten von New York spazieren!
Überhaupt ´verrückt´. Man ist also verrückt, wenn man mal im Nachhemd zum Zeitungskiosk spaziert!? Im züchtigen, hochgeschlossenen Nachthemd, das bitte ich nicht zu übersehen. Schauen Sie sich mal die jungen Dinger heutzutage an. Die tragen nur noch jeweils eine Manschette um Busen und Po. Sind die auch alle verrückt? Entmündigt man die auch? Schickt man denen auch einen angeblichen Ex-Pfarrer ins Haus? Wäre mir neu. Also aufgepasst, meine Damen, ab einem gewissen Alter darf eine sich nicht mehr die kleinste Extravaganz erlauben, ohne dass man sie sofort von der Straße wegfängt. Oder aber sie wandert nach Amerika aus. Dort ist man weiter. Dort ist man souverän. Eine reife Dame geht in Morgenmantel und mit Lockenwicklern im Haar einkaufen?! Oder im Abendkleid? Na und? Sie wird ihre Gründe haben.
Schwamm drüber. Was kümmert es mich noch? Heute Abend stehe ich in meiner schimmernden, schwarzen Satinrobe im roten Licht des Sonnenuntergangs von New York. Und zwar in dem Moment, in dem im Goldener Abendschein der Abendbrei verfüttert wird.
„Achtung, eine Durchsage an alle Passagiere des Flugs 666 nach New York, ursprüngliche Abflugzeit 10 Uhr 20. Der Abflug wird sich um weitere 15 Minuten verspäten! Bitte achten Sie auf weitere Durchsagen!“
„Fräulein?“
„Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Fräulein, ich beabsichtigte um zwanzig nach 10 nach New York zu reisen! Und jetzt soll es erst um fünf nach elf losgehen?“
„Leider ja. Bitte haben Sie noch einen Augenblick Geduld. Darf ich Ihnen etwas bringen? Eine Tasse Kaffee vielleicht? Oder eine schöne kalte Limonade?“
„Kann man sich nicht schon mal reinsetzen?“
Die junge Frau blickt mich verdutzt an.
„Ich meine, ob ich mich schon mal ins Flugzeug setzen kann?“
„Oh, bedaure, leider nein!“
„Na, schön, einen Kaffee dann bitte. Schwarz!“
„Sehr gern!“ Die junge Frau eilt davon.
5 nach elf also. Bis fünf nach elf stehen die Packer nicht tatenlos vor der Tür herum. Wahrscheinlicher ist, dass sie um 5 nach elf bereits nebenan geklingelt haben. Die Leuchtvorrichtung der alten Däneken blinkt auf, die taube Nuss freut sich, endlich klingelt auch mal jemand bei ihr.
„Ja, die Frau Reimann ist vorhin mit dem Taxi weggefahren! Aber der junge Mann, der einmal die Woche kommt, müsste doch da sein! Der ist nicht mit ins Taxi gestiegen!“ Genau das wird die alte Ziege von sich geben, geschwätzig wie sie ist.
Der junge Mann müsste doch da sein! Nicht ganz. Und was tut man jetzt? Die Wohnungstür aufbrechen? Zappalot! Bei der Taxizentrale anrufen?! Das würde Zeit schinden. Alte Dame, von Steglitz, Schlossstraße 16 nach Tegel, Flughafen. Um 9Uhr dreißig.
Da würde es den Jungs dämmern! Also was nun zuerst? Schlüsseldienst? Polizei? Nein, erst mal wird laut gegen die Tür gehämmert. Man kennt die Manieren solcher Leute. Der junge Mann ist ja noch drinnen „Hallo, machen Sie bitte auf! Hier ist Frau Reimanns Umzug in den goldenen Abendschein!“
Lächerlich. Als ob er nicht längst aufgemacht hätte, wenn er noch könnte.
So. Jetzt stehen die Burschen da und überlegen. Das dauert ein wenig, man weiß ja, dass solche Leute nicht sehr schnell sind mit dem Kopf. Und dann - ein paar kräftige Tritte und die Tür ist auf. Zappalot!
„Ihr Kaffee! Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Eine Zeitung vielleicht? Oder eine schöne Illustrierte?“
„Bleibt es bei fünf nach elf, mein Kind!?“
„Das hoffe ich sehr!“
„Dann brauche ich nichts mehr, danke schön!“
In der Zeitung steht sowieso noch nichts über die Sache. Frühestens morgen. Falls man im ´Plaza´ überhaupt Zeitungen aus dem Busch führt. Die Dame im Reisebüro hat mir zwar fest zugesichert, dass dieses Haus die erste Adresse am Ort ist, aber deshalb muss man sich dort kaum darum kümmern, was Primaten so den Tag über treiben. War übrigens nicht billig, diese Unterkunft; über Preise spricht man nicht, ist mir geläufig, aber all mein Erspartes seit der Währungsumstellung vor sechs Jahren habe ich auf den Tresen gelegt. Und das war nicht wenig. Aber an mein Bankkonto konnte ich ja nicht mehr, stellen Sie sich das mal vor! Ich konnte nicht mehr an mein eignes Bankkonto! Der Möchte-Gern-Pfarrer erledigte ab sofort alle Geldgeschäfte für mich; ich bräuchte mich um Rechnungen und solche Dinge nicht mehr zu kümmern, wie er mir verkündete. Taschengeld gab der Kerl mir auch. Ganz generös, von meinem eigenen Geld! Am Rande bemerkt: Üppig war das nicht. Aber nun gut, was gibt eine ältere Dame ohne Familie denn schon aus? Mal ein Glas Tee und ein Stück Torte in der Konditorei, ein paar interessante Bücher, sicher, auch mal eine Eintrittskarte für ein schönes Klavierkonzert, aber den ganzen Toilettenkrimskrams, Schuhe, neue Strümpfe, all das braucht Ihre Martha nicht mehr so oft; wer selten ausgeht, schont seine Sohlen. Und kann sechs Jahre lang jeden Monat einen Hunder-Euro-Schein in die Aschpfanne des alten, antiken Ofens legen. Dazu ein Jahr lang das Taschengeld, das ein wie aus dem nichts aufgetauchter Pfarrer großherzig gibt. Tja, dort im Ofen war der Zaster früher sicher vor Einbrechern und so ist er seit einem Jahr auch sicher vor Vormündern. Letztere machen sich nämlich ungern die Hände staubig, diese überfütterten Stubenkater. Nicht mal einen Nagel können die in die Wand klopfen, das soll nachher um drei die Putzfrau machen, aber nun gut, das ist jetzt nicht mehr aktuell. Gleich morgen, wenn ich dieser Verbrecherbande entkommen bin und endlich wieder unter zivilisierten Menschen weile, werde ich mich von der Botschaft aus um mein Bankkonto kümmern.
Fünf vor elf. Um Gottes Willen, sind das hinter der Absperrung Polizisten? Tatsächlich, zwei Uniformierte. Und die suchen wen, so, wie die sich umschauen. Nein, Martha, behalt die Nerven. Es ist fünf vor elf. Die Packer sind kaum in deine Wohnung eingedrungen, wenn überhaupt! Aha, jetzt gehen die Herren Beamten weiter. Und gesehen haben sie dich auch. Eine alte, silberhaarige Dame um die 80, gepflegt, gut angezogen, cremefarbenes Sommerkostüm, weiße Lacklederschuhe, Hut, Bordtasche, Stockschirm, ohne Zweifel auf dem Weg nach Amerika. Uninteressant. Noch!
„Achtung, eine Durchsage an alle Passagiere des Flugs 666! Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie um 11 Uhr 30 an Bord gehen können!“
Zappalot. Das wird knapp. 11 Uhr 30. Meine Wohnung ist um 11 Uhr 30 aufgebrochen. Um 11 Uhr 30 stehen sie im Wohnzimmer. Alle, Polizei, Schlüsseldienst, Packer. Alle stehen sie da und blicken entgeistert auf den Selbstmörder. Hält die Waffe noch in der Hand, dieser Schelm. Hat sich damit dreimal in den Kopf geschossen. Zweimal knapp vorbei, war schließlich auch nicht der Geschickteste, der Ex-Pfaffe. Konnte nicht mal eine Wurstscheibe auf ein Brötchen legen, ohne dass die Ecken unappetitlich rechts und links überlappten. Wie soll er da zielen können? Zack - platzte das rechte Ohr auseinander. Mehr mittig, mein Bester! Zack - um das rechte Ohr war es auch geschehen. Übrigens, unter uns gesprochen: Der Kerl schreckte in dem Moment doch noch mal aus seinem Diazepam-Kräuterbitter-Rausch auf. Eigentlich hatte ich ihm das ersparen wollen, konnte also doch mehr vertragen, als ich diesem Schlappschwanz zugetraut hatte!
Es war nämlich so:
„Nehmen Sie zum Abschied ein Schnäpschen mit mir, Herr Pfarrer?“
„Gern, aber nennen Sie mich doch nicht immer Herr Pfarrer! Ich bin Horst, kurz und knapp.“
Was jetzt folgte, war Feinarbeit. Die Diazepam-Flasche wartete schon seit dem frühen Morgen in der Hausbar hinter Likör und Kräuterbitter. Ich stellte mich mit dem Rücken zum Pfaffen - oder Horst, in Gottes Namen - goss das halbe Schnapsglas voll, füllte mit Jägermeister auf, reichte ihm seinen Drink.
„Auf Ihr neues Leben!“, prostete dieser Heuchler mir zu. Von diesem Moment an tat mir nichts mehr leid.
Zehn Minuten später sackte er in sich zusammen. Schlummerte ein, wie er zu liegen kam, ein Bein über der Couch, das andere hing in der Luft. Ich gab ihm einen kleinen Klaps, jetzt hatte er Bodenhaftung.
Aber ich schweife ab. Die Ohren also. Waren beide hin.
Martha!, ermahnte ich mich, ein bisschen Konzentration bitte! Wie oft hast du mit Eduardo schießen geübt, auf Wassermelonen, damals, vor 60 Jahren in La Paz, während all diese törichten Narren zuhause auf Köpfe schossen!? Aber nun gut, man soll bestimmte Taten nie leichtfertig vorverurteilen...
Hier, nimm das... und so... und so!! Ein Schuss mitten in die Pfarrers-Stirn, und ich meine: mitten rein, na, bitte geht doch! Eigentlich hätte ich jetzt aufhören können. Aber es hatte mich gepackt! Der nächste Schuss traf das Gemälde hinter der Couch. Stilleben mit Fischen und Obst. Der dritte Schuss genau in die Melone. Gelernt ist gelernt!
Im übrigen mochte ich diesen Ölschinken nie. Und der Vormund? Na, ja, der war gläubig. Wollte mir ständig etwas vom Weiterleben meiner Seele erzählen. So ein Unfug! Seele! Was soll das sein? Reine Chemie ist das! Reine Gehirnchemie. Hirn tot, Seele adieu, falls es dich je gegeben haben sollte. Ein paar Mal habe ich versucht, ihm das zu erklären. Richtig fundiert, anhand von Fachbüchern. Er hat mich immer angesehen ... seltsamer Typ! Wenn er nur jetzt nicht die bittere Entdeckung machen muss, dass die alte Schachtel und ihre Bücher recht hatten.
„Achtung, alle Passagiere für den Flug 666 begeben sich bitte zum Ausgang 2! Ich wiederhole: Passagiere für Flug 666 bitte zum Ausgang 2!“
„Verehrtester, begleiten Sie doch bitte eine hilflose, alte Dame an Bord!“
„Aber selbstverständlich, gnädige Frau!“
Der junge Mann hakt mich unter. Schmucker Kerl, ohne Frage. Dunkler Anzug, gegeltes Haar, randlose Brille mit blauen Gläsern, das hat eine Dame gern, nicht so einen übergewichtigen Pseudo-Pfarrer mit ausgebeulten Hosen und ungewaschenem Haar.
„Wo sitzen Sie, gnädige Frau?“
„In der Nähe vom Notausstieg, will ich hoffen!“
„Erlauben sie mir, mit an Ihren Platz zu kommen und Ihr Handgepäck zu verstauen?“
„Bitte sehr!“
Und einen knackigen Po hat der Junge! Gerade reckt und streckt er sich, verstaut meine Bordtasche sorgfältig im Hängeschrank.
„Ich darf mich verabschieden und Ihnen einen angenehmen Flug wünschen, gnädige Frau!“
„Das wünsche ich Ihnen auch!“
Aber was ist da vorne los? Irgend etwas stimmt nicht! Ich sehe dummerweise nicht viel von meinem Platz aus.
„... eine alte Dame, hell gekleidet? Wo sitzt sie?...Reihe 16?!“
Zappalot! Das ist die Stimme des freundlichen Mädchens! Mich sucht sie, so wie es sich anhört!
´Habe dieser fiesen, alten Mörderin sogar noch einen Kaffee spendiert´, wird sie innerlich fluchen. So schnell können sie einen haben, Martha, dein Zeitplan war Mist! Du bist doch kein Provinz-Ei! Wie oft bist du schon geflogen!? Zehn Minuten Verspätung! Pah! Geht es noch blauäugiger? Ich rutsche tief in meinen Sitz, mache mich klitzeklein...
„Entschuldigen Sie meine Dame!“ Das Mädchen steht direkt neben meinem Platz. Ich richte mich wieder auf, alles andere wäre jetzt unwürdig. Langsam und stolz erhebe ich mich von meinem Platz. Für seine Taten muss man gerade stehen.
„Bleiben Sie doch bitte sitzen! Ich wollte Ihnen nur das hier bringen!“ Sie zieht meinen Stockschirm hervor. „Das ist doch Ihrer, nicht wahr?“
Mein Herz rast, als hätte es nie einen Takt gekannt. Vorne laufen die üblichen Verhaltensregeln für den Notfall über den Bordbildsschirm. So lässig wie möglich setze ich mich wieder hin. „Vielen Dank, mein Kind! Sie sind wirklich besonders aufmerksam!“
Das Mädchen lächelt bezaubernd, verstaut meinen Schirm im Hängeschrank, dann verlässt sie eilig die Maschine.
Unter mir beginnt das Brummen und Vibrieren des Motors. Die Türen sind zu. Kein Polizist, der aufgeregt über das Rollfeld gelaufen kommt, sich vor die Maschine wirft, gar schreit: „Halten Sie die Mörderin!“
Nein, der Pfaffe hat sich selbst erledigt, Grund genug dazu hatte er alle Mal.
New York - ich komme!
2008-10-01 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Fotos Themenbanner: ©ap, Cornelia Schaible
Illustrationen: ©Angelika Petrich-Hornetz
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