von Angelika Petrich-Hornetz
Innerhalb der EU können sich die Menschen aus den 27 Mitgliedsstaaten frei bewegen – und arbeiten. Es gibt in vielen Ländern zwar noch einige Einschränkungen, bis die Grenzen für alle Arbeitnehmer aus allen EU-Ländern endgültig fallen werden, doch das Ziel, auf dass man sich verständigt hat, lautet, die Freiheit der Arbeitsplatzwahl. Künftig darf kein EU-Bürger mehr daran gehindert werden, in einem europäischen Land seiner Wahl zu arbeiten. Und das bedeutet für diesen gleichzeitig, zumindest während der Zeit des Arbeitseinsatzes, auch zu dort leben.
Während die Politik damit beschäftigt ist, für dieses Ziel noch diverse, kleinere Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, die vorwiegend den Markt, insbesondere den Arbeitsmarkt, betreffen, taucht plötzlich ein bisher gut verstecktes Problem auf, mit dem im Vorfeld offenbar niemand gerechnet hatte, dessen Dramatik jedoch schon jetzt für schwere Erschütterungen sorgt, denn es handelt sich bei den Betroffenen um Kinder: die so genannten Eurowaisen.
Eurowaisen werden in ihren Heimatländern zurückgelassene Kinder genannt, deren Eltern im europäischen (Euro-)Ausland leben, um dort Geld zu verdienen. Es sind Kinder, die von ihren Eltern verlassen werden. Sie sind damit keine Waisen im klassischen Sinn, und dennoch erleben viele von ihnen ein ähnliches, emotionales Trauma, wie Kinder, die ihre Eltern ganz verlieren, denn auch diese Eltern verschwinden manchmal komplett aus dem Leben ihrer Kinder. Manche von ihren Eltern zurückgelassenen Kinder haben das zweifelhafte Glück, bei ihren Großeltern aufwachsen zu können. Zweifelhaft deshalb, weil nicht wenige dieser Großeltern schon sehr alt und mit der Betreuung heillos überfordert sind. Viele dieser betagten Großeltern befinden sich selbst am Rand der Pflegebedürftigkeit. Und auch die jüngsten und liebevollsten Großeltern können die Kinder von der Sehnsucht nach ihren eigenen Eltern nicht immer ablenken.
Die Kinder, die das Pech haben, keine Verwandten zu haben, landen bei Nachbarn, Freunden oder in überfüllten Heimen. Ältere Kinder und Jugendliche – oder dort, wo noch ältere Geschwister vorhanden sind - bleiben auch nicht selten sich selbst überlassen. Die Eltern indes sind auf die Einnahmen aus ihrem familienfernen Arbeitsleben angewiesen, mit dem sie meistens nicht nur ihre Kinder, sondern die komplette Verwandtschaft finanzieren. Und andere machen sich offenbar zu wenig Gedanken um ihren zurückgelassenen Nachwuchs.
Nicht alle Eltern, die ihre Kindern in den armen Ost-EU-Ländern zurücklassen, um in den reicheren West-Regionen Europas zu arbeiten, tun dies legal. Einige EU-Länder – so wie Deutschland bis 2011 - haben noch Beschränkungen für die Einreise und die Arbeitsaufnahme, die erst in einigen Jahren auslaufen. Bis dahin kommen zum Leid der getrennten Kinder auch noch die Ängste der arbeitenden Eltern vor Entdeckung hinzu, die auf einem gnadenlosen Schwarzmarkt für die Steuerersparnis den hohen Preis der Illegalität zahlen: Wer einmal ausreist, um seine Kinder zu sehen, kommt womöglich nicht wieder in das Land hinein, in dem ein Arbeitsplatz die Existenz sichert. Manche Eltern verschwinden in dieser Rechtlosigkeit wie im Nebel, und keiner weiß mehr, wo sie sind. Zu Hause warten ihre Kinder dann vergeblich auf eine nie stattfindende Rückkehr.
Die Folgen für diese elternlos heranwachsende Generation sollen laut Experten immens sein. So beobachten Psychologen, Erzieher und Lehrer in den einzelnen Ländern betroffener Kinder bei diesen immer mehr psychische Erkrankungen wie Depressionen sowie eine wachsende Gewaltbereitschaft, Schulversagen, Alkohol- und Drogenmissbrauch.
Verschiedene Regionen mit zurückgelassenen Kindern versuchen nun, selbst etwas zu tun. Im polnischen Kujawien-Vorpommern läuft zum Beispiel eine Untersuchung der Hochschule im Auftrag der Schulbehörde, in der die Lebensumstände der allein dort rund 5000 vorhandenen Eurowaisen thematisiert werden. Erste Ergebnisse sollen im Juni 2009 vorliegen. Die Stiftung Europäisches Recht in Polen (Fundacja Prawo Europejskie) sammelte über 100.000 Beispiele polnischer Kinder, die von einem oder beiden Elternteilen zurückgelassen wurden. Inzwischen gründen sich zumindest in einigen Ländern immer mehr Initiativen, die Druck auf die Politik ausüben, um die ernste Lage der Eurowaisen zu verbessern. Doch bis zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, das erst 2010 eingeläutet wird, scheint sich auf höchster Europa-Ebene niemand um diese Kinder kümmern zu wollen.
Kein Wunder ist es daher, dass der Video-Film Eurowaisen (polnisch: Eurosieroty) besonders in Polen für Aufregung sorgte. Erst seitdem wurden massenhaft verlassene Kinder überhaupt zu einem Thema, das von der polnischen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. In anderen europäischen Ländern ist es dagegen längst noch nicht angekommen, obwohl es eines ist, das ganz Europa betrifft, arbeiten die Eltern von Eurowaisen doch in Deutschland, Groß Britannien, Spanien, Italien und in vielen anderen EU-Ländern. Und nicht nur in Polen, auch in vielen weiteren osteuropäischen Ländern wie Litauen und Rumänien wächst die Zahl verlassener Kinder täglich, die dringend psychologischen Beistand, Betreuung und einen rechtlichen Vertreter während der Abwesenheit ihrer Eltern benötigen. Die Problematik wird sich aller Voraussicht nach mit der anhaltenden Wirtschaftskrise eher noch verschärfen – und ausweiten.
Sogar die demographische Entwicklung in den alternden Industriestaaten spielt eine Rolle. Waren es früher vor allem Putzfrauen und Landarbeiter, reisen heute auch immer mehr Pflegerinnen aus Osteuropa und auch von jenseits der EU-Grenzen, zum Beispiel aus der Ukraine, an. Es sind häufig die einzigen, die sich Pflegebedürftige in Deutschland und anderen West-Eu-Staaten leisten können - oder leisten wollen. Und wenn es nicht legal ist, arbeiten diese eben schwarz. Ihre Arbeitgeber sind froh über die günstige Möglichkeit einer 24-Stunden-Betreuung, die zum Beispiel schwer Demenzkranke benötigen, denn deutsches Pflegepersonal ist für viele , insbesondere für eine Rundumbetreuung, viel zu teuer. Andere, die sich teureres Personal leisten könnten, wählen schlicht die ökonomischere Variante. In beiden Fällen fragen die Arbeitgeber der Pflegerinnen auch nicht viel nach den Lebensumständen ihrer Angestellten. Denn häufig haben auch diese Pflegerinnen Kinder, die sie in ihren Heimatländern wochen- und monatelang oder gleich ganz zurückgelassen haben, manchmal inklusive eigener pflegebedürftiger Eltern. Doch die können nichts dafür zahlen, dass sich ihre Söhne oder – in der Regel eher – Töchter um sie selbst oder wenigstens um ihre eigenen Kinder kümmern könnten.
Zurückgelassene Kinder sind für die EU ein noch viel zu wenig bekanntes und beachtetes, indes rapide wachsendes Problem. Und die Zeit läuft: Elternlose Kinder werden möglicherweise ein anderes Verständnis vom Zusammenhalt und von der Mobilität Europas entwickeln als noch ihre hoffnungsvollen Großeltern und Eltern. In China ist das für Europa relativ neue dagegen längst ein altes Problem: Chinesische Wanderarbeiter sehen ihre Familien und damit auch ihre Kinder wenn überhaupt, höchstens einmal im Jahr - zum Neujahrsfest, vorausgesetzt sie bekommen ihren Lohn, um die Reise zu bezahlen.. Es gibt gegenwärtig rund 225 Millionen Wanderarbeiter in China, 140 Millionen davon sind außerhalb ihrer Heimatregion tätig und lassen dort etwa 40 Millionen Yuanwaisen zurück. Diesen zweifelhaften Status - für den Broterwerb der Eltern, allein gelassen zu werden - erreichen offenbar auch immer mehr europäische Kinder.
Weiterführende Links:
Stiftung Niemandskinder in Warschau, Polen
Fundacja Dzieci Niczyje
PDF, Vortrag: "Weltmarkt Hausarbeit - eine blinder Fleck in der Gleichstellungspolitik"
(Link leider veraltet)
2009-04-01 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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