von Juliane Beer
Liebe Leute, ... danke, dass ihr eure Autos abgeschafft habt. Wenn auch nicht aus Rücksicht auf mich und meine Lungen. Klick. Kleine Privatkutsche. Hinter dem Steuer jemand, der sich Benzin leisten kann.
Eine alte Frau bleibt stehen, ihr Mantel aus Wollstoff, nicht mal abgetragen. Ungewohnter Anblick in dieser Gegend. Die Frau nimmt die Kinder vor dem Container in Augenschein, mümmelt ein letztes Mal an ihrem Pfannkuchen; ihr Blick fällt auf meinen... wie nennt man diesen Schalter, den ich von morgens bis nachmittags in der Hand halte, eigentlich? Es wird noch keine offizielle Bezeichnung dafür geben. In den letzten zwei Jahren hatte man mehr als genug mit der reinen Organisation zu tun. Da blieb keine Zeit, über neue Wortkreationen nachzudenken. Ich drücke also meinen orangefarbenen Schalter. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeisaust.
Sie kommt jetzt auf mich zu, die alte Frau, meine ich. Sie wird mich fragen, was das Ganze soll.
„Entschuldigung, junger Mann, Was tun Sie da?“
„Autos zählen!“
„Warum das?“
„Genau kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Wenden Sie sich lieber gleich an meinen Auftraggeber: Städtisches Verkehrsamt!“
Die Frau betrachtet die Apparatur, in die mein Schalter eingestöpselt ist.
„Ist dort so eine Art Computer drin?“
„Muss wohl!“
„Ist Ihnen nicht kalt?“ Sie befingert meinen orangefarbenen Parker. „Der hält doch nichts ab.“
Die Kinder werden unruhig, sind bereits von ihrer Bank aufgestanden.
„Es geht!“, lüge ich, „habe mich dran gewöhnt!“
„Sind Sie Socialjobber?“
Ich nicke kurz, hoffe, dass sie jetzt begreift und weitergeht. So ist es dann auch, vorher nestelt sie noch eine 50-Cent-Münze aus ihrer Geldbörse.
Ich bedanke mich. „Und morgen einen guten Rutsch ins neue Jahr für Sie!“
[...] Von dem Geldbetrag, den Sie während Ihrer Einsatzzeit von Passanten erhalten, darf ein Freibetrag von 2 Euro pro Tag behalten werden. Darüber hinaus gehende Beträge sind bei der Joberagency abzugeben. Im Verdachtsfall ist der Teamleiter berechtigt, Taschenkontrollen durchzuführen[...]
Soweit das Merkblatt 2 zum Thema Geld verdienen.
Die Frau wünscht mir ebenfalls und ´trotz allem´ ein schönes neues Jahr. Ihren Pfannkuchen wickelt sie sorgfältig zurück in das Bäckereitütchen und öffnet den Deckel des Kids-Foodcontainers. Sie hat den Deckel noch nicht wieder geschlossen, da springen die Kinder herbei. Ein kleiner Bengel ist als Erster zur Stelle. Angelt sich die Beute, stopft sich die Hälfte des Kuchens mitsamt dem durchgeweichten Papier in den Mund, bevor die anderem ihm zerbröselnde Reste zwischen den Fingern hervorgraben.
Ich stecke meine erste Münze für heute in die Hosentasche. Manchmal haben Freunde Zeit, alle paar Stunden vorbeizukommen um mögliche Geldbeträge an sich zu nehmen. Aber Kreuzberg ist ein schlechter Standort. Selbst hier am Mehringdamm gibt es kaum noch Leute, die eine Arbeit haben, ich meine eine echte Arbeit, eine, für die es Gehalt gibt. Hin und wieder drücken mir die ansässigen Geschäftsleute oder eben Rentner ein paar Cent in die Hand.
Die Kinder hinter mir sind heute gut gelaunt. Für sie hat es schon einiges gegeben. Dieser Standort ist begehrt, manchmal, wenn ich sehr früh anfange, muss ich mit ansehen, wie sich mehrere kleine Banden um eben diese Bank prügeln. Sicher, es gibt drei Imbissstände am Mehringdamm, aber nur diesen einen Kids-Foodcontainer. Nach dem Mittagsgeschäft ist hier Hochbetrieb ... . Verdammt! Scheiß Knallfrösche! Das geht bereits seit Tagen so. Kein Wunder, dass die Kinder hungrig sind. Haben wahrscheinlich all ihre Lebensmittel-Amtsgutscheine gegen Feuerwerkskörper eingetauscht. Ich kenne Ähnliches, wie ich gestehen muss. Manchmal ist die Versuchung zu groß, und ich lasse mir in einer Drogerie für sämtliche Gutscheine ein Rasierwasser geben. Schon meiner Haut zuliebe.
Bus Linie 100. Kommt alle zehn Minuten vorbei,
*** Ein erfolgreiches Jahr 2013 ***
steht in großen Lettern auf dem Bug.
Busfahrer, das wäre was! Aber zum Busfahrer werden nur die Leistungsempfänger geschult, die einen Führerschein besitzen und mindestens zehn Jahre unfallfreies Fahren vorweisen können. Und Geld kriegen die zugesteckt, wie ich immer wieder höre. Besonders dann, wenn sie durch die Westbezirke und Touristengebiete in der Innenstadt fahren. Ein recht ausgeklügeltes System, wie sie im zwei Stunden Takt das Geld an ihre Freunde, getarnt als Fahrgäste, übergeben. Aber gut, ich will mich nicht beschweren. Es gibt auch noch unlukrativere Einsatzorte als meinen. Schulen oder Altenheime beispielsweise. Und Pflegestationen für die, die in den letzten Jahren selbst keinen Cent mehr in der Hand gehalten haben. Da kriegt ein Socialjobber natürlich nicht mal seine zwei Euro am Tag zusammen. Und die Arbeit ist hart. Vor dem Unterricht Kinder entwaffnen, Nachtöpfe leeren, Leichen waschen, all diese Dinge eben. Ich habe noch die Zeiten erlebt, da letzteres eine Gehalts-Arbeit war, üppig war es nicht - aber immerhin: eigenes Geld besitzen, damit in einen Laden gehen können, an der Kasse dann Münzen aus der Tasche kramen, anstatt eines Bedarfsgutscheins.
Zwölf Uhr Läuten von der Kirche Yorkstrasse. Halbzeit. Zwanzig Minuten Mittagspause. Meine Zählvorrichtung ist schnell zusammengeklappt. Ich schwinge sie mir über die Schulter. Meistens gehe ich bei Özgür essen. Netter Typ, zu meinem Leidwesen aber ohne jeden Beratungs- und Hilfsbedarf im betriebswirtschaftlichen Bereich.
„Alles klar bei mir!“, strahlt er stets über die Theke, lehnt meinen Gutschein ab, schenkt mir das Mittagessen stattdessen, verspricht immerhin, mich sofort um Rat zu fragen, wenn er mal Probleme hätte mit den geschäftlichen Sachen. Geradezu andächtig löffelt er dann eine reichliche Portion aus jedem Bottich auf einen großen Pappteller: Weinblattröllchen, weiße Bohnen, Auberginen mit Hackfleisch, Salat. Wünscht mir guten Appetit, als hätte er mich soeben als Testesser in seinem 5-Sterne-Restaurant enttarnt. Und statistisch gesehen esse ich für einen Socialjobber auch überdurchschnittlich gut. Die Menge an Grünzeug, die Özgür mir hier auf den Teller löffelt, müsste laut unserem Wirtschaftsminister meinen Vitaminbedarf einer Woche decken.
Habe ich meinen Kaffee ausgetrunken reißt Özgür ein Stück Alufolie von der Rolle und packt mir Fladenbrotabschnitte rein.
„Für später, mein Freund!“
Manchmal, wenn ich mittags bereits ein paar Münzen beisammen habe, gebe ich sie ihm. Er winkt jedes Mal ab, fast empört, ich muss ihm immer wieder erklären, dass ich das Geld sowieso nicht behalten darf. Er legt es zögernd in seine Kassenschale, holt mir Schokoriegel, die seit einigen Wochen um ein blinkendes Plastikbäumchen drapiert sind, aus seinem Schaufenster.
Doch das passiert äußerst selten. Meistens habe ich mittags noch gar kein Geld.
Heute ist es lausig kalt. Özgür hat einen Plastikvorhang um die vier Stehtischchen gespannt und einen zusätzlichen Gasbrenner aufgestellt. Die Luft in seinem improvisierten Wintergarten ist atemberaubend. Gas, Kebab, ranziges Öl. Am Tisch neben mir ein Herr mit nassem Hund zu Füßen. Das Tier kratzt sich in einem fort. Der Herr gießt immer wieder von oben einen Schluck Bier auf die mittlerweile blutende Stelle. Ein kurzes Winseln ertönt.
„Halt die Klappe!“
„Leute wie Ihnen sollte man den Hund wegnehmen!“, findet eine kauende Frau.
„Wollen Sie ihn?“
Sie will ihn nicht.
„Warum machst du nicht eigene Geschäft?“, versucht Özgür die Darbietung zu übertönen.
Ich wische mir den Mund ab.
„Bei diese Wetter acht Stunden auf Straße stehen...“ Reflexartig dreht er auch noch den zweiten Gasbrenner hoch.
Eigenes Geschäft... Chance vertan. Oder gerade noch mal Glück gehabt, könnte man auch sagen. Fressen oder gefressen werden. Ich gehöre zu denen, die sich letztlich fressen lassen. Nein, Märtyrer bin ich nicht. Ich habe einfach Schwierigkeiten, mich auf Neuerungen einzustellen. Und wie wäre es, jetzt in einem warmen Büro zu sitzen, sich eine Mahlzeit kommen zu lassen, Geld zu besitzen, um sie zu bezahlen!?
Eigenes Geschäft... Die ganze Geschichte will ich Özgür nicht erzählen. Ich käme mir zu konservativ vor.
„Ich besaß kein Eigenkapital, als es losging!“, antworte ich also.
... „Lass uns die Gunst der Stunde ergreifen!“, schlug Sch. damals vor, als plane er, einen Ökoimbiss zu eröffnen, weil gerade zwei Straßenzüge weiter ein Studentenwohnheim gebaut wurde, „immer Aufträge; ein todsichereres Geschäft gibt es nicht!“
Ich meldete moralische Zweifel an.
„Fressen oder gefressen werden!“ Dieser Ausspruch kam damals von ihm. Nur dass er sich ganz klar in der Rolle des Fressenden sah. Wir waren beide ohne Job, ich nicht mehr der Jüngste, kostenlose Drei-Jahres-Praktikanten, frisch von den Unis dieser Welt, standen parat. Da konnte ich nicht mithalten.
Er, Sch., Sachbearbeiter, auch alt, hatte in einem Punkt sicher Recht: Es gab kein todsichereres Geschäft, als das rund um die Socialjobberei. Und Jobberagencys? Eine neue Goldgrube.
Wir sind wieder gefragt!“, lautete Sch.s Motto. „Wir und unsere Erfahrung! Wenn wir es nicht machen, machen es andere!“
„Und wenn wir die Leute abends nach Geld kontrollieren sollen? Ihnen Lebensmittelgutscheine abnehmen müssen, weil sie nicht zur Arbeit erscheinen. Willst du das übernehmen?“
Er zuckte die Schultern, verkündete noch einmal: „Wenn wir es nicht machen, machen es andere. Es werden 180 Agencys in der Stadt gebraucht.“
Ich sagte ihm damals, dass ich darüber nachdenken wollte. Am nächsten Abend stand er mitsamt des fertigen Geschäftplans vor der Tür. Eigenkapital und eine monatliche Einstiegssumme gäbe es vom Staat.
„Es ist kein unmoralisches Geschäft“, versuchte Sch. mich zu überzeugen, „wir sind Agenten, sonst nichts. Treiben Arbeit in gemeinnützigen Vereinen auf, Jobs, die dringend gemacht werden müssen, für die aber doch bislang niemand Zeit hatte ..., vermitteln die eben weiter an Leistungsbezieher. Die Leute müssen doch ab 1. Januar sowieso etwas tun für Ihre Miete und Lebensmittelgutscheine. Ist es unmoralisch, wenn wir diese Jobs vermitteln? Und überhaupt - warum ist es eigentlich unmoralisch, wenn Leute, die auf Staatskosten leben, auch eine Gegenleistung erbringen? Im übrigen: Sie haben die Möglichkeit zwei Euro Bargeld am Tag zuverdienen. Das ist doch was! Ich behaupte jetzt mal, die meisten von denen haben seit drei Jahren keinen Cent mehr in der Hand gehalten! Und wir?! Mensch - stell dir das vor... für jeden, den wir unterbringen eine Prämie von zweihundert Euro! Da haben also wirklich alle etwas davon! Was ist daran unmoralisch?“
Ich war nicht überzeugt. Obwohl wirklich alle etwas davon haben würden.
Sch. gab nicht auf an diesem Abend. „Wer soll dir eines Tages, wenn du´s allein nicht mehr kannst, den Hintern abwischen, mein lieber Freund!?“
„Vielleicht ein Pfleger, der dafür ein Gehalt bekommt!“
Sch. lächelte nachsichtig: „Und wo soll das Geld dafür herkommen, du Träumer?“
Ich dachte einen Moment daran, ihm ältere Theorien zum Thema Arbeit darzulegen ..., ich weiß, ich bin altmodisch. Deshalb sparte ich mir meine Erläuterungen dann auch. Sch. ist nämlich modern.
Ich entschied mich, nicht in dieses Geschäft einzusteigen. Spätestens nach zwölf Monaten dürfte der ganze Wahnsinn ein Ende haben, sich sozusagen von selbst erledigen.
Dachte ich damals.
Zwei Jahre sind vergangen.
Sch. ruft mich heutzutage hin und wieder an. Ich solle bei ihm vorbeischauen, er könne mir etwas besseres als die Autozählerei zuschustern. Er hätte jetzt sogar - an dieser Stelle senkt er stets die Stimme – Firmen aus der freien Wirtschaft in seiner Kartei. Super angenehme Jobs im Büro oder so. Leute wie mich würden die sofort nehmen. Mit Kusshand. Der Staat drücke meistens ein Auge zu. Auf die zwei Euro pro Tag müsste ich auch nicht verzichten, die Firma spendiere sie.
Ich behaupte immer, dass ich es mir überlegen würde. Glücklicherweise komme ich nie in Versuchung, Sch. zurückzurufen. Mein mobiles Socialophone kann schließlich nur die Nummern der städtischen Ämter und der Feuerwehr wählen, und öffentliche Telefone kosten echtes Geld.
Özgür reicht mir das Brotpaket über den Tresen. Ich schultere meine Zählvorrichtung.
Irgendwann demnächst wird der Wahnsinn ein Ende haben.
An der Ecke Mehringdamm/Yorkstraße werfe ich mein Brotpaket in den Kids-Foodcontainer und mache mich wieder an die Arbeit.
2009-07-01 Juliane Beer, Wirtschafswetter
Text: ©Juliane Beer
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