von Angelika Petrich-Hornetz
Nur noch knappe vier Wochen bis zur Bundestagswahl 2009 und immer mehr potenzielle Bundeswähler fragen sich mittlerweile, wann eigentlich der Wahlkampf beginnt? Oder hatte er schon begonnen, nur ohne, dass man es mitbekommen hatte ? Wo bleiben die sonst so scharfen Rededuelle, die heftigen Wortgefechte, die rhetorischen Gemeinheiten, die humoristischen Worthülsen oder die unvereinbar-eindeutigen Positionen - außer die, nicht mit diesem oder mit jenem, also am liebsten nur mit sich selbst koalieren zu wollen?
Immerhin, es gibt inzwischen sogar Wahlplakate - erst letzte Woche waren die hilfreichen Truppen wieder unterwegs, um auch die letzten freien Plätze traditionell-bewährt zu behängen. Wesentlich mehr Medienwirksamkeit zog jedoch die Sonderausstellung mit verfremdeten Wahlplakaten in Hamburg an, zum Beispiel Gerhard Schröder mit Clownsnase, ein Helmut Kohl als avangardistische Collage oder Angela Merkel mit Vollbart, also etwas, was eigentlich verboten ist, offenbar jedoch für mehr öffentliche Aufmerksamkeit sorgt als der nicht nur vom Wirtschaftswetter monierte lahme Wahlkampf 2009.
Gut, wir sind ja alle schon vorgeschädigt, immerhin lag Amerika ganze zwei Jahre wahlkämpfend auch in unser aller Ohren, und mit bombastischen Polit-Shows hat die deutsche Politik begründet wenig am Hut. Doch auch der schlichteste E-Patriot - der eventuell über einen Wahlkampf im Netz gewonnen werden könnte und dessen Umwerbung von allen deutschen Parteien einst auch vollmündig angekündigt worden war, scheint derweil noch nicht einmal mehr amüsiert, sondern höchstens noch echauffiert zu reagieren, über so viel Theorie mit anschließend leidlich wenig Praxis.
Folglich muss sich der gut organisierte Bundesbürger mal wieder selbst helfen: Neben vielen kreativen Aktionen im Netz, haben zahlreiche Verbände und Organisationen die Parteien nach den für sie relevanten Themen selbst befragt. So schießen die so genannten Wahlprüfsteine seit Anfang des Jahres wie Pilze aus dem Boden. Anschließend muss sich der neue deutsche Wähler lediglich noch belesen, das heißt durch diese unglaubliche Vielzahl von Wahlprüfsteinen durchackern, je nachdem, was für sie oder ihn von Interesse ist.
Energie. Zum Beispiel antworteten dem Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. (SFV) im Sommer die fünf großen Parteien, chronologisch erst die Grünen, dann die FDP, gefolgt von der ödp, die Linke und schließlich der SPD, die wir lediglich zuerst nennen, weil unten alle Links zu den anderen befragten Parteien stehen - und auch funktionieren. Anhand der Antworten erfährt der bislang ratlose Wähler etwas mehr von den unterschiedlichen Ansätzen der Parteien als von schnöden Wahlplakaten oder 45-Minuten-Talk-Shows mit zehn Gesprächspartnern: Auf die Frage, ob sie sich für den Umstieg auf 100 Prozent erneuerbarer Energien einsetze, antwortet die SPD mit Ja, allerdings langfristig. Vorerst komme man auf diesem Weg jedoch noch nicht ganz ohne konventionelle Energieerzeugungsarten aus, doch 2030 soll die Hälfte des Stroms aus erneuerbaren Quellen kommen - und das möglichst in einem dezentralen, markt- und gleichzeitig verbraucherfreundlichem Ausbau.
Bündnis 90/ Die Grünen streben indes bis 2030 den kompletten Umstieg des Stromsektors auf hundert Prozent erneuerbare Energien an, ebenfalls vorwiegend dezentral. Die FDP will langfristig eine CO2-neutrale Energieversorgung, mittelfristig einen Engergiemix und bis 2020 einen Anteil erneuerbarer Energien von 20 Prozent, durch zentrale un dezentrale Nutzungskonzepte. Die Ökologisch-Demokratische Partei (ödp) will einen schnellen Umstieg auf hundert Prozent erneuerbare Energien, was in Deutschland nach Einschätzung der Partei in zwanzig Jahren zu schaffen wäre - und plädiert für einen vorwiegend dezentralen Ausbau. Die Linke will eine vollständige Abkehr von der fossil-atomaren Energiewirtschaft bis 2040, bis 2020 die Hälfte des Stroms aus erneuerbaren Energien und bei Wärme bis 2025 erreichen, vorrangig in dezentraler Energieversorgung.
Gleichstellung. Die Wirtschaftsweiber, ein Netzwerk lesbischer Fach- und Führungskräfte, hat ebenfalls interessante Fragen gestellt, und zwar sowohl an die Bundes- als auch an verschiedene Landesverbände der fünf größten Parteien und die (unterschiedlichen) Antworten auf ihrer Webseite veröffentlicht: Bundestagswahl 2009 - Wahlprüfsteine der Wirtschaftsweiber (veralteter Link). Das Ganze wird von einer Übersicht über das Antwortverhalten komplettiert.
Die Gleichstellungspolitik steht auch beim Deutschen Frauenrat e.V. (DF), dem Dachverband deutscher Frauenverbände und anderer angeschlossener Verbände, an erster Stelle ihrer Wahlprüfsteine, die als Forderungen formuliert wurden. Die Titel der Prüfsteine im einzelnen sind: die Arbeitsmarkt - und Beschäftigungspolitik, die Armutsbekämpfung, die Forschungs- und Technologiepolitik und die Gesundheitspolitik, immer vor dem Hintergrund der Gleichstellung und der derzeitigen Ausgangssituation. Die Wahlprüfsteine wurden Mitte Juni an die Parteien gegeben. Diese und die Reaktionen der Parteien finden Sie hier: Deutscher Frauenrat - Frauen werbt und wählt (veralteter Link). Eine dort ebenfalls veröffentlichte Synopse der Parteienprogramme veranschaulicht, dass ausgenommen von zwei Forderungen zur Gleichstellungspolitik, alle anderen - z.B. die Umsetzung und Kontrolle von Gleichstellungspolitik - in den Wahlprogrammen aller großen Parteien offenbar gar nicht vorgesehen sind. Wer hätte das geahnt? Möglicherweise kann man das als einen weiteren Hinweis darauf deuten, dass es einen Grund geben muss, warum der Abschlussbericht des so genannten CEDAW-Ausschusses der Vereinten Nationen (UN), der sich mit den Fortschritten der Gleichstellungspolitik in Deutschland beschäftigt, erst kürzlich wieder so negativ ausfiel.
Forschung und Bildung. Auch der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V. veröffentlicht seine Wahlprüfsteine als Forderungen an die nächste Bundesregierung, die naturgemäß mehr Forschung, bessere akademische Bildung und ein vielfältigeres bürgerschaftliches Engagement in Wissenschaft und Bildung lauten - Letzteres soll u.a. auch mit mehr öffentlichen Anreizen für private Studienspendien gelingen.
Soziales. Die Forderungen des Sozialverbands Deutschland SoVD e.V. wurden an die Parteien versendet und beantwortet, ging es doch um wichtige soziale Themen. So fordert der SoVD die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, die soziale Sicherheit im Alter, den Erhalt und die Stärkung der gesetzlichen Krankenkassen, eine würdevolle Pflege, eine Politik für Menschen mit Behinderungen, dass Arbeit zum Leben reichen muss und nicht zueletzt die Förderung von Frauen und die Stärkung von Familien.
Gleichstellung II. Mit einer kreativen Kommunikationsidee hat das Evangelische Männerwerk in Württemberg seine Wahlprüfsteine an Politiker und unters Volk gebracht, nämlich als Handreichung für Männergruppen, die damit vor Ort - ob mit oder ohne die Bundespolitiker ihres Wahlkreises - zum Gespräch im Rahmen eines politischen Männerabends laden können. Zur Bundetagswahl 2009 lautet das Motto offfenbar auch in Württemberg: Selbst ist der Wähler. Die Politikfelder, die für die Männer besonders interessant sind, lauten zum Beispiel Familienförderung und Vereinbarkeit oder Schule, Bildung und Erziehung.
Wirtschaft. Die Marketing-Zeitschrift Absatzwirtschaft legte den Parteien ihre Wahlprüfsteine zur Medienwirtschaft vor - zum Urheberrecht, Marken- und Datenschutz sowie zu Werbeverboten vor und veröffentlichen die, nach eigenen Angaben, sehr unterschiedlichen Positionen der Parteien in ihrer September-Printausgabe.
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat seine Wahlprüfsteine ebenfalls als Print heraus gebracht, unter dem Motto Besinnung auf die soziale Marktwirtschaft und mit den Themen: Bildung und Innovation, Steuern und Abgaben, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsmarkt, Energie und Klima sowie Staat und Rechtsetzung. Und die Handwerkskammer Leipzig hat das Ganze im Webformat zum durchklicken veröffentlicht. Spätestens mit solchen ausführlicheren Ausarbeitungen, wird deutlich, Mitglieder der nächsten Regierung, die sich wirklich inhaltlich mit den Wünschen ihrer Wähler auseinandersetzen wollen, sollten über mindestens einen Wahlprüfsteine-Assistenten zumindest nachdenken.
Wahrscheinlich hat es auch sein Gutes, dass zur Bundestagswahl 2009 außerhalb der traditionellen Schlachtplätze kaum Wahlkampf, geschweige denn angeblich ein Kampf um jeden einzelnen Wähler stattfindet. Schon wieder die viel strapazierte, chinesische Krisen-Definition: Etwa eine (Wahlkampf)-Krise als (Wahl)-Chance? So viel und detailiert, wie sich die Wählerinnen und Wähler dieses Jahr persönlich in Wahlprogramme vertiefen und über Inhalte und Detailfragen informieren müssen, so gut informiert gehen sie dann ja vielleicht auch zur Wahlurne. Vielleicht, wenn sie dazu die Zeit hatten und Ende September nicht schon wieder alles vergessen haben. Auf der anderen Seite könnte diese Menge an Informationen auch schlicht überfordernd wirken und für noch mehr Wahl-Abstinenz sorgen. Eines steht jetzt schon fest: Die nächste Wahlprüfstein-Entwicklung nach schlichten Interviews, Fragen und Forderungen werden Wahlprüfstein-Datenbanken sein, die den User künftig mehr oder weniger zeitschonend durch seine Entscheidungsfindung navigieren.
Wer also jetzt immer noch nicht weiß, was man wählen könnte, möchte, sollte oder was gar nicht ginge, kann ja weiter über die Suchmaschinen mit dem Schlagwort des neuen, deutschen Selbsthilfe-Bundeswählers 2009, nämlich mit Wahlprüfsteine, kombiniert mit den Themen des eigenen Interesses auf die mühsame, aber auch sehr erhellende bis erheiternde Pirsch gehen. Nur als Beispiele seien folgende, zur Bundestagswahl 2009 existierende, Wahlprüfsteine genannt: die der Bundesarchitektenkammer, des Deutschen Kulturrates, der Arbeitsttelle "Gewalt überwinden" der Nordelbischen Kirche, der Deutschen Aidshilfe e.V., des Deutschen Tierschutzbundes, der Bundeskonferenz Jazz, der Christoffel-Blindenmission e.V.(cbm), des Bundesverbandes Deutscher Versicherungskaufleute e.V., der Wohneigentümer von Wohnen im Eigentum e.V., der Tibet Initiative Deutschland e.V., des Deutschen Familienverbands e.V., der ver.di-Seniorinnen, des Bundesverbandes CarSharing, des Bundesverbandes alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (vamv) und der Deutschen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte e.V. sowie noch viel mehr, zum Teil hochinteressante Wahlprüfsteine von weiteren Seniorienvereinen, Kindereinrichtungen, Familienverbänden, Studierendenschaften, Mittelstandvereinigungen, Wirtschaftsverbänden, NGOs, Mietervereinen, wissenschaftlichen Organisationen, Fachärzten, Allgemeinärzten, Branchen, Industrien, Berufsverbänden, Kleingartenvereinen, Taubenzüchtern, Computerspiele-Befürwortern sowie auch von -Gegnern usw. usf.. Es fehlen in dieser auffällig vielfältigen und breiten Öffenlichtkeit offenbar lediglich - außerhalb der Studierendenschaften - die selbst verfassten Wahlprüfsteine von Kindern und Jugendlichen - ein eindeutiger Missstand, der vielleicht zur übernächsten Bundestagswahl endlich beseitigt wird. Ansonsten ist alles vorhanden, für jedes Politikfeld, für fast jedes Interesse und fast zu jedem Thema wurden Fragen und Forderungen gestellt und meistens auch Antworten geliefert. An anderer Stelle wurden die Programme der Parteien auseinander genommen und haarklein analysiert. Angesichts dieser Vielfalt in diesem großen Umfang dürfte es schwierig werden, den Deutschen weiterhin pauschal mangelndes Politikinteresse vorzuwerfen.
Die ersten Datenbanken sind auch schon da. Wer sich nicht durch die endlosen Wahlprogramme wühlen und lesen mag, kann es zum Beispiel neben dem berühmten " Wahl-O-Mat" der Bundeszentrale für politische Bildung auch mal mit dem "Wahlportal", des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften (gesis.org) versuchen, das die Wahlprogramme der Parteien vergleicht, je nachdem welche Politikbereiche und -felder von Interesse (des Users) sind. Diese und andere Angebote versuchen so etwas wie eine personalisierte Usability für internetaffine Wähler herzustellen. Im schlimmsten Fall kommt vielleicht nur heraus, wie gut oder schlecht Computer- und Wahlprogramme programmiert und formuliert worden sind. So oder so, den E-Patrioten der Amerikaner gibt es inzwischen zwar auch in Deutschland, nur wurde er von den Parteien noch nicht entdeckt. Damit befindet er sich in Deutschland immer noch in einem reinen Selbstbedienungsladen.
Dabei nutzen inzwischen über siebzig Prozent aller Bundesbürger das Internet, und keine Generation ist so technikaffin wie stets die nächste. Doch vom Online-Kampf um jede Stimme sind die Parteien in Deutschland immer noch zu weit entfernt, von dem um die zukünftigen Wähler noch viel mehr. Vielleicht trägt auch das etwas zu der um sich greifenden Wahlmüdigkeit gerade unter jüngeren Menschen bei? Die anderen, die sich auch von einem müden Wahlkampf nicht abeschrecken lassen, gehen 2009 entsprechend nüchtern, mit eher wenigen Erwartungen an die Wahlurnen - hoffentlich dann wenigstens so gut informiert, wie es nur ging.
Weiterführender Link, Wahlplakatausstellung:
Wählers Gunst oder die kleine Rache des Souveräns (mkg-hamburg.de) - Sonderausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, bis zum 27. September, dienstags bis sonntags 11:00 bis 18:00 Uhr, mittwochs und donnerstags 11:00 bis 21:00 Uhr.
2009-08-29 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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