Das Leben als Schauspielerin ohne Engagement ist bitter. Ich bin jetzt 92. Dieser Jugendwahn! Niemand interessiert sich für eine erfahrene Dame reifen Alters. An den Tagen, an denen mich kein Regisseur anruft - solche Tage häufen sich seit Jahren auf beunruhigend wundersame Weise - habe ich also Zeit für die Runden. Die Kunst dieser Disziplin besteht darin, sich genug Bewegung zu verschaffen und in Übung zu bleiben, ohne sich zu weit oder zu lange von Zuhause zu entfernen, Regisseur-Aversionen gegen Anrufbeantworter spielen hier eine tragende Rolle.
Die gestrige Runde führte übrigens über die Sonnenallee. Die Elektroallee. Frisierte Fernsehgeräte, grundüberholte Waschmaschinen. Und Videorecorder. Das meiste gebraucht, die neuen Geräte sind heiße Ware aus Raubzügen.
Die Lektion hieß: "Ich hätte mal gern so einen Videorecorder, ist der schwer zu bedienen?" Wissen Sie, ich will es im Rahmen dieser Übung so weit treiben, bis die Leute anfangen zu überlegen, ob ich nicht eigentlich in eine Nervenheilanstalt gehöre. In der Regel drücken die Mitmenschen diese Überlegung um so anschaulicher aus, umso begnadeter die Schauspielerin ist.
Ich muss noch dazu sagen, dass diese Rolle gar nicht so fernab von mir ist, ich besitze seit fünf Jahren nicht mal mehr einen Fernseher. Dieser Schund ständig, Sie wissen schon. Gerade in meinem Beruf muss man sich von so etwas reinhalten.
Ich zog mein Samtcape an, dazu Satinhandschuhe bis zu den Armbeugen. Mein neuer Lippenstift ist glutrot, meine Handtasche aus schwarzem Lack.
Ich rauschte in den ersten Laden hinein, so, dass mein Cape dramatisch wehte. „Einen Videorecorder, s`il vous plait!", sang ich in D-Dur, „ist jjener schwer zu bedienen?"
„Mädelchen!", knurrte der Händler, ein kleiner, alter Mann, den ich allem Anschein nach aus dem Schlummer geholt hatte, und erhob sich benommen aus seinem Ohrensessel, "kann man alles lernen!" Er winkte mich in ein Hinterzimmer. Hundert gerauchte Zigarren nisteten in allen Winkeln, auf dem Tisch lag ein fertig gemischtes Kartenspiel. „Fang schon mal an, Minzi!", trug er seinem ebenfalls ergrauten Schäferhund auf. Der Hund verteilte mit der Schnauze die Karten. Der alte Mann stellte alle acht Videorekorder, die er im Angebot hatte, auf den Spieltisch, dann nahm er die Karten auf, die sein Hund ihm zugeteilt hatte und fluchte: "Scheiß Blatt!"
„Und wiee funktioniert so ein Gerät nun?", sang ich ein paar Oktaven höher, denn der Mann war bislang kein bisschen beeindruckt von meinem Auftritt. Der Hund schnarchte übrigens mittlerweile in einer unangenehmen Lautstärke. Sein Herr drückte ein paar Knöpfe. "Hier, so, funktioniert das, Mädel!" Aha. Ich wusste jetzt nicht so recht, wie weiter, also bedankte ich mich für die Lektion und verabschiedete mich.
„Schon gut", knurrte der Alte und wendete sich seinem Hund und dem Kartenspiel zu.
"Madame!", rief Herr Gülmet von TV & Video Gülmet aus, „ganz leicht alles, gucken Sie hier!" Er holte zwei Videorekorder aus einer dusteren Ecke hervor, pustete den Staub runter und drückte alle verfügbaren Knöpfe, setzte damit alle Funktionen in Gang. Mich beachtete dieser Mensch gar nicht. Eine Fernbedienung gab es aber, „am besten einen Probefilm!", fand er, „was wollen Sie sehen?" Ehe ich meine Wünsche äußern konnte, legte er Titanic ein, das sei etwas für Frauen, wegen der Liebesszenen. Liebesszenen, ja sicher! In Wirklichkeit besaß er offenbar nur diesen einen Film.
Wir sahen uns also Titanic an und aßen Pistazien. Hin und wieder rollte ich meine Handschuhe auf oder sang zu der Filmmelodie laut ein Stehgreif-Liedchen, was Herr Gülmet einfach überhörte. Statt dessen hielt er plötzlich den Film an, eilte ins Hinterzimmer, ich sah, dass er auf dem Boden kniete, sich dreimal verneigte und etwas, das ich nicht verstand, gen Himmel rief, dann stand er auf, kam zurück, ließ den Film weiterlaufen, als sei nichts geschehen. Komischer Kauz, aber ich sagte zu all dem natürlich keinen Ton.
Zwei Stunden später, der Film war zuende, verabschiedete mich Herr Gülmet gelassen. Draußen war es schon dämmrig.
Einen schaffte ich noch. Ich drückte die Klinke des Ladens gleich nebenan.
„Videorecorder?" Ob ich einen Übernahmeschein vom Sozialamt hätte, wollte die alte Dame wissen. Bildete sich wohl ein, sie sei Miss Marple, tat zumindest so. Frisur, Klamotten, alles abgeguckt. Vollkommen einfallslos.
Und überhaupt: Sozialamt? Übernahmeschein? Ich war empört! Das war zuviel! Die hatte es nötig! Ihr Miss Marple Kostüm stammte zweifelsohne aus einem Kleiderspendesack, der nicht einmal für sie gedacht gewesen war.
Ohne Erlaubnis eigenhändig geplündert!
Wirklich, die Leute in der Sonnenallee gehören allesamt in die geschlossene Abteilung, das sage ich Ihnen!
Für mich war es höchste Zeit, nach Hause zum Telefon zurückzukehren.
Stichwörter: VIDEORECORDER * HÄNDLER * SCHÄFERHUND * TITANIC * PISTAZIEN
von U. Grabowski
Zu allen Mini-Stories der Reihe: Privat-O-Mat
2009-11-09 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Stichworte: U. Grabowski
Illustration: ©aph
Fotos Themenbanner: ©Cornelia Schaible
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