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Jahrtausendwechsel

Bücher, Link Wirtschaftswetter

Das Prager Ghetto, Dezember, Ende des letzten Jahrhunderts.
Jemand irrt erregt durch ein verwinkeltes Treppenhaus. Vor dem Haus haben sich Menschen versammelt; es herrscht große Aufruhr.
„Hier ist er reingelaufen!", ruft eine Frau.
Schließlich tritt ein Mann in Polizeiuniform vor. Durch eine Megafon fordert er alle Hausbewohner auf, je ein Wäschestück aus jedem Fenster zu hängen.
Und tatsächlich – keine zehn Minuten später baumelt Wäsche in allen Fenstern. In fast allen. Ein Fenster bleibt leer. Die Menschen stürmen ins Haus, um das dazugehörige Zimmer zu suchen.
Es existiert kein Eingang zum Zimmer, weder vom Treppenhaus, noch von der Nachbarwohnung aus.
Ein Freiwilliger wird mittels Flaschenzug an der Hauswand hochgezogen, in der Hand einen Hammer. Als er ausholt, um das Fenster eben jenes Zimmers zu zerschlagen, stürzt er ab und bricht sich das Genick...

Das kommt Ihnen bekannt vor, Sie haben es schon irgendwo gelesen? Richtig, es ist eine Szene aus Meyrinks Golem. Was Sie nicht wissen, weil es nicht im Buch steht: Ich halte mich hier versteckt. Zum Glück hat dieses Zimmer keinen Ausgang!

New York, Public Library, zwei Tage vor dem Jahrtausendwechsel 1999/2000.
Ich, Bibliothekar, bei der Arbeit. Die Kabbala ist absolut angesagt. Wir haben dreißig neue Exemplare angeschafft. Gerade bestücke ich ein Regal damit, da fällt mir ein Buch, in dem es um mysteriöse, ungeklärte Mordfälle im Prager Ghetto Anfang des Jahrhunderts geht, in die Hände. Das Buch beunruhigt mich. Warum, weiß ich nicht.
Ich gehe ein Regal weiter, greife wie im Traum nach Bildbänden über das Prager Ghetto um die Jahrhundertwende. Plötzlich, für einen kurzen, verwirrenden Moment wird mir bewusst, dass ich dort zuhause bin. Ich schrecke auf, das Buch fällt mir aus der Hand.

1.Januar 2000, später Vormittag
Ich fahre in meinem New Yorker Appartement aus einem Alptraum hoch. Als ich mich einigermaßen gesammelt habe, stelle ich fest, dass ich in meiner Silvestermontur (Smoking) blutverschmiert im Bett liege. Ich selbst bin unverletzt.
Ich kann mich zwar erinnern, wie ich am Vorabend am Times Square meine Geliebteste und unsere Freunde traf, doch was später, ab 0:00 Uhr, geschah, weiß ich nicht mehr.
Ich finde in der Jackeninnentasche mein Handy, ruft meine Geliebteste an, die ist erst aufgelöst, dann zornig, dann will sie wissen, wo ich mich am Abend zuvor herumgetrieben´ habe und warum ich nicht wie verabredet um 22:0 Uhr am Times Square erschienen bin, man hätte zwei Stunden damit verbracht, ergebnislos hinter mir her zu telefonieren.
Ich lege verwirrt auf, checke alle Handy-Anrufe vom Vorabend, tatsächlich erscheinen die Nummern meiner Freunde. Ich wühle eine der Nummern, mein alter Freund D. meldet sich, auch er behauptet, mich am Vorabend nicht gesehen zu haben. Aber ich habe ihn gesehen!

Ein Mann schreckt aus einem Alptraum hoch.
Verwirrt sieht er sich im Zimmer um. Ein beschlagenes Fenster, keine Tür.

Die engen Gassen im Prager Ghetto, Silvester, Jahrhundertwechsel 1899/1900. Im Ghetto ist es ruhig, der jüdische Jahreswechsel findet im Herbst statt. Von weitem, aus der Innenstadt, Lichter und Musik.
Zwischen den Häuserwänden huscht der Schatten einer mittelgroßen Gestalt umher. Es ist Mitternacht, soeben schlägt die Turmuhr zwölf mal.
Ein Mann in Dienstbotenmontur eilt heran. Der mittelgroße Schatten verbirgt sich in einem Hauseingang, greift jetzt nach dem heraneilenden Dienstboten, zieht ihn in den Hauseingang, sticht auf ihn ein, huscht davon.

Ich wache in meinem New Yorker Appartement auf. Ich kann es nicht gewesen sein! Ich war gestern Nacht am Times Square auf der größten Silvester Party der Welt, ich habe über tausend Zeugen! Mein Anzug ist blutverschmiert, auch das Bett. Was ist letzte Nacht geschehen? Ich weiß es nicht, ich bin zu betrunken gewesen. Ich ziehe mein Handy aus der Jackeninnentasche und rufe meine Freundin an. Meine Freundin ist verärgert, nein, das ist der falsche Ausdruck – meine Freundin tobt! Ich hätte sie gestern versetzt, sie und die anderen telefonierten den ganzen Abend hinter mir her.... Ich unterbreche sie, „gib mir noch zwei Stunden Schlaf, Baby, ich kapiere gar nichts, der Alkohol!" Sie zetert, ich lege auf... ...das Zimmer hat keine Tür, wie bin ich hereingekommen? Ein beschlagenes Fenster, ich, auf einer Pritsche, blutverschmiert...

Am Montag nach diesem Alptraum hole ich noch einmal das Buch über mysteriöse Mordfälle im Prager Ghetto um die Jahrhundertwende hervor. Irgend etwas an diesem Buch lässt mich erzittern, ich weiß nicht, was es ist, ich kenne Prag nicht, war noch nie dort.
Auf einem alten Linoldruck erkenne ich einen mittelgroßen Mann, in einem Hauseingang lauernd. Ich hole eine Lupe, um sein Gesicht zu betrachten.
Es ist mein Gesicht.

Stichwörter: NEW YORK * TIMES SQUARE * PRAG * BETT * BABY
von Manuel Winter

Zu allen Mini-Stories der Reihe: Privat-O-Mat


2009-11-18 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Stichworte: Manuel Winter
Illustration: ©ap
Fotos Themenbanner: ©Cornelia Schaible
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