Ich führte immer ein friedliches Leben. Weil ich mich von jeher von Fernseher, Radio und Zeitungen fernhielt. Ich sage Ihnen was: Fernseher, Radio und Zeitungen sind das Schlimmste - die Wurzel aller Aufregung. Ich will das nicht, ich brauche das nicht; ich schaue aus meinem Fenster in Berlin, Karl-Marx-Allee, dann weiß ich, was draußen los ist. Auf der Karl-Marx-Alle herrscht immer munteres Treiben, Tag und Nacht, allerdings - seit etwa zwanzig Jahren mache ich unter meinem Fenster eine gewisse Aufgeregtheit aus – und das zu jeder Tageszeit. Mir gefällt das nicht, ich weiß nicht, was das soll, ich weiß nur, dass es eines Tages vor zwanzig Jahren begann. Plötzlich rannten die Leute wie aufgescheucht umher. Dann war es tagelang ganz ruhig, kaum Passanten, was ich noch nie erlebt hatte. Auf der Karl-Marx-Allee herrschte immer Betrieb, wissen Sie, nicht hektisch, nicht aufgeregt, normaler Betrieb eben.
Dann, nach diesen unerklärlichen Ruhetagen, stürzten wahre Heerscharen unter umher. Fotografierten die Häuser. Ich bitte Sie, was soll an den Häusern so interessant sein? Graue Waschbeton-Platte, dasselbe wie überall, also wirklich! Aber es wurde fotografiert wie wild. Mit der Zeit zogen sich die unten Umherlaufenden immer verrückter an. Und die Frisuren! Aber nun gut, jeder nach seiner Fasson. Doch wieder ein paar Monate später wurde auch der Konsum immer bunter und unübersichtlicher. Und was da jetzt alles in den Körben und Regalen lag! Wer sollte sich da noch auskennen!? Einmal kaufte ich mir etwas von diesen verrückten Sachen, eine Riesenfrucht mit grünem Blätterbüschel oben dran. Ich sage Ihnen, das Ding war fürchterlich, die Schale bitter und kaum runterzubringen, das Innere sauer. Mein Mund brannte noch Stunden danach.
Auch die Kollegen in der Gärtnerei hatten immer seltsamere Sachen zu essen mit. Aber es wurde nichts mehr angeboten, nein, jeder sitzt jetzt mittags für sich und isst schweigend und mit flatterndem, nervösen Blick diese seltsamen Rüben und Birnen und tut so, als würde das Zeug schmecken.
In unserem Haus hat die Aufregung ziemliches Unheil angerichtet. Mein Nachbar zur Linken starb wenige Jahrem nachdem es losging an einem Hirnschlag, der zur Rechten ist verschwunden, ohne jemandem auf Wiedersehen zu sagen und Parterre geht niemand mehr arbeiten, weder Mann noch Frau noch Tochter. In der Früchteverarbeitung waren die drei früher, jetzt geht keiner von ihnen mehr hin, sie bleiben einfach Zuhause und kein Brigadenleiter kommt nach ihnen gucken. Die drei tragen nur noch Bademantel, zu welcher Tageszeit man auch bei ihnen klingelt. Und sie wirken erschöpft und aufgebracht zugleich. Und der Fernseher läuft. Immer. Dieses Höllengerät!
Wenn ich am Kiosk vorbei komme, versuche ich stets, nicht auf die Schlagzeilen der dort ausliegenden Zeitungen zu schauen, die unnötige Aufregung, Sie wissen schon, aber manchmal lässt sich das Hinschauen nicht vermeiden, ich kann nicht mit geschlossenen Augen an jedem Kiosk vorbei gehen, viele liegen an Hauptverkehrsstraßen, die Autos sausen in den letzten Jahren auch immer schneller, da könnten geschlossene Augen schon gefährlich werden. Also, in den Schlagzeilen las ich damals ständig das Wort Vereinigung – ob ich wollte oder nicht. Ich verstand gar nichts. Vereinigung? Womit? Mit dem Bösen?
Mein Vater sagte jeden Morgen, bevor er in Uniform zu seinem Wachturm ging, dass keine hundert Meter weiter das Böse lauern würde. Davor musste er die Menschen bewahren, das war seine Aufgabe. Und mit diesem Bösen wollte man sich jetzt laut Zeitung vereinigen? Die Menschen sind dumm und müssen vor sich selbst geschützt werden, auch das sagte mein Vater früher immer, bevor er sich die Kalaschnikow umschnallte. Als das mit der Aufregung los ging, vor zwanzig Jahren, war er aber schon tot, ich sage jetzt mal: Gott sei Dank, denn auch mein Vater war kein Freund von Aufregung und erst recht kein Freund des Bösen.
Ich beschloss, nicht weiter über diese seltsame Vereinigung nachzudenken, was soll das auch bringen außer Sorgen? Manchmal gerät man jedoch trotzdem genau hinein in diesen ganzen Spuk. Einmal vor zehn Jahren zum Beispiel. Ich wollte ein wenig am Brandenburger Tor spazieren. Als ich ankam, sah ich, dass sich ein Pulk von ungefähr tausend Menschen da versammelt hatte. Sie brüllten und klatschten und schwenkten ihre Winkelemente. Ich sah nur zu, dass ich weiter kam.
Wie ich festgestellt habe, erreicht die Aufregung im Herbst, genauer gesagt im Oktober, jedes Jahr einen Höhepunkt.
Und dieses Jahr war es besonders schlimm. Vorgestern, ich lag wie immer mit meinem Cordkissen im Fenster, trank ein Bier und guckte runter, drang aus der Ferne ein fürchterliches Grollen und Poltern. Unten liefen Vopos rum, die ganze Nacht. Betrunkene taumelten über die Karl-Marx-Allee. Ständig Sirenen. Bis zum Morgengrauen ging das so. Furchtbar. Keine Minute Ruhe, die ganze Nacht nicht. Ich sagte es ja bereits: Furchtbar, was Fernseher und Radio und Zeitungen aus den Menschen machen!
Stichwörter: BERLIN * VEREINIGUNG * BRANDENBURGER TOR * HERBST * BIER
von Martina Klein
Zu allen Mini-Stories der Reihe: Privat-O-Mat
2009-10-08 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Stichworte: Martina Klein
Illustration: ©ap
Fotos Themenbanner: ©Cornelia Schaible
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