von S. Stern
Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Erlebnisse als Fußgänger im Shanghaier Straßenverkehr. Die Straßen sind ein ständig brodelnder Fluss bestehend aus Autos, Fahrrädern, Fußgängern und anderen merkwürdigen oft mit unvorstellbaren Lasten, beladenen Fahrzeugen.
Auch wenn es überall Ampelanlagen, Zebrastreifen und die üblichen Verkehrszeichen gibt, man sich also in einer verkehrstechnisch aufgeschlossenen, westlichen Welt wähnt, so ist es lebensgefährlich sich darauf zu verlassen. Verkehrsregeln werden eher als Empfehlung, denn als Gesetze gewertet und letztlich gilt das Darwinsche Prinzip: „The survival of the fittest“.
Autofahrer, bullige LKWs und Busse fahren wo, wann und wie es ihnen gerade passt. Man fährt sowohl bei Rot als auch bei Grün und Fußgänger und Radfahrer tun es ihnen gleich. Dies endet natürlich zügig wie häufig in einem Chaos zumal der Stärkere nur sehr ungern auf sein „Recht“ verzichtet.
Anfangs habe ich immer diszipliniert auf das grüne Ampelmännchen gewartet, ließ den Strom von ChinesInnen an mir vorbeiziehen und wählte die geordnete, europäische Variante, die mir schon in Fleisch und Blut übergegangen war. Bald erkannte ich jedoch, dass dies nicht weniger gefährlich ist, als bei Rot die Straße zu überqueren. Autos kamen hupend auf mich zugerast und blieben erst Stoßstange an Schienbein vor mir stehen. Ich schätze meine blonden Haare ungemein, die mich in diesem Fall glücklicherweise schon von weit entfernt als "Laowai" enttarnen, denn so dienten sie hier nicht selten als rettendes Stoppsignal.
Ein Glück, denn gebremst oder ausgewichen wird hier an sich nur im äußersten Notfall! Und ich habe nicht nur einmal beobachtet, wie Radfahrer oder Fußgänger, die sich nach unserem Rechtsempfinden richtig verhalten, einfach von einem PKW beiseite geschoben wurden. Glücklicherweise ist meist nichts Schlimmes passiert.
Heute nach vielen Monaten Übung, Nerven aus Stahl und einer neuen Gelassenheit, gehe auch ich dann, wenn ich es für richtig halte über die Straße. Ich wundere mich oft, welch große Kreuzungen ich so schon bezwungen habe.
An manchen Kreuzungen sieht man zusätzlich zu den funktionierenden Ampelanlagen Verkehrspolizisten oder freiwillige Helfer, die den missionarischen Eifer entwickeln, der Shanghaier Bevölkerung die Verkehrsregeln einzutrichtern. Mit einem schrillen Pfeiferl und einer kleinen roten Fahne ausgerüstet wird jeder zurückgepfiffen, der es wagt, die Straße an einer nicht dafür markierten Stelle zu queren oder seinen Fuß vor dem grünen Signal auf den Zebrastreifen zu setzen.
Kaum wendet dieses Überwachungsorgan jedoch den Fußgängern, Radfahrern und anderern Verkehrsteilnehmern den Rücken zu, werden seine disziplinarischen Versuche ignoriert und das altbewährte Chaos gewinnt wieder Oberhand.
Ich finde diese Szenen nach wie vor spannend, zumal man als Ausländer auch hier oft merkwürdige Privilegien genießt. Immer wieder passiert es mir, dass ich trotz Zuwiderhandeln nicht zurechtgewiesen und zurückgepfiffen werde. Vielleicht liegt es an der Sprachbarriere, die einem sonst eigentlich das Leben eher schwer macht.
Shanghai verfügt noch über relativ wenig privaten Autoverkehr. Autos sind sehr teuer und die Nummerntafeln müssen umständlich und ebenfalls teuer bezahlt werden. Trotz vieler Radfahrer, die über eigene Radwege in der Breite einer gängigen, einspurigen Straße verfügen, ist Shanghai kontinuierlich auf dem Weg zu einer Stadt der Automobile zu werden.
Die mehrspurigen, gigantischen Stadtautobahnen, kühne Hochstraßen und Brücken bieten noch viel Platz für den aufkommenden Autoverkehr. Die Zahlen derer, die ein Auto erwerben, nimmt trotz aller Kosten und Mühen stetig zu und das Verkehrschaos in ein paar Jahren ist trotz bemerkenswerter Stadtplanung, raschem Agieren und noch schnellerem Bauen vorprogrammiert.
Das Straßenbild ist derzeit von Taxis der Marke VW geprägt. Das gängige Modell ist dabei der Santana, das erste Oberklassen VW Stufenheck Modell in den 80er Jahren. Ein Wagen, der sich - vermutlich nicht zuletzt aus optischen Gründen - bei uns in Europa nie durchgesetzt hatte und letztlich in den Passat umgewandelt wurde.
Das Auto und sein eckiges Design lässt bei mir Erinnerungen an die frühen achtziger Jahre aufkeimen, die Fahrweise der Taxifahrer belebt die Zeit meiner ersten Fahrstunden. Trotz Schaltgetriebes wird hier nur äußerst widerwillig der Schalthebel benützt und so tuckert man mit 30 km/h im vierten Gang untertourig dahin. Die Taxifahrer in Shanghai sind schrecklich schaltfaul und so ist das Anfahren im 2.Gang nicht nur völlig normal, sondern funktioniert auch noch.
Ein Zurückschalten auf einen niedereren Gang zwecks zügiger Beschleunigung ist unbekannt und so sind Überholmanöver oft langwierige Mutproben. Die Hupe ist im Dauereinsatz und ein Fahrzeug, das nicht über eine funktionierende Hupe verfügt ist laut chinesischer Straßenverkehrsordnung fahruntüchtig und muss aus dem Verkehr gezogen werden.
Am faszinierendsten finde ich nach wie vor die Abbiegemanöver nach links. Sie haben mich in meinen Taxi-Jungfern-Fahrten in Shanghai viele Nerven gekostet. Als wir unlängst Besuch von einem Freund aus Österreich hatten konnte ich deutlich die Panik in seinem Gesichtsausdruck ablesen. Der Taxifahrer ordnet sich dabei nicht in eine Abbiegespur ein, nein, sondern verlagert sein Fahrzeug schon etliche Meter vor der Kreuzung oder einer Einfahrt auf die Gegenfahrbahn und biegt dann – den Gegenverkehr völlig ignorierend – ab.
In meiner Heimat hätten sich mit dieser Fahrweise längst ein Unfall oder zumindest drohende Gesten anderer Verkehrsteilnehmer ergeben. Hier muss man so offensiv falsch fahren, denn alle tun es. So gilt auch hier: Der Verkehrsfluss, egal wie in welcher Art er „fließt“, hat oberste Priorität.
Fahrradfahrer sind schon in Österreich schwer berechenbare Verkehrsteilnehmer, in Shanghai jedoch fahren sie wörtlich genommen kreuz und quer, kennen weder Handzeichen noch Schulterblick und wechseln somit Spuren und Richtungen wann es ihnen passt. Dabei haben sie ihre Augen meist ganz woanders als im Straßenverkehr. Besonders kritisch wird es bei Nacht, denn Fahrräder haben niemals Licht und auch Pkws schalten dies nur nach Lust und Laune ein. Es passiert mir immer wieder, dass Fahrzeuge in unbeleuchteten Straßenzügen völlig überraschend, scheinbar aus dem Nichts auftauchen.
Wenn ich vom Arbeiten oder Einkaufen nach Hause gehe, beobachte ich besonders gerne einparkende Autos. Parklücken in einer Größe von der wir in Europa nur träumen können, werden hier zum fast unbezwingbaren Hindernis. Unzählige Menschen, die möglicherweise selbst noch nie an einem Steuer gesessen haben, scharen sich um den Parkwilligen, deuten in alle Richtungen und rufen ihm die widersprüchlichsten Anweisungen zu.
Trotz dieser so großzügigen Hilfe, bleibt es meist nicht nur bei einem Versuch, und so quälen sich die meisten Autofahrer nach etlichen Kollisionen mit dem Randstein oder im schlimmsten Fall mit benachbarten Autos so leidlich in die Lücke. Ich schmunzle oft darüber und geselle mich mittlerweile auch schon zu der Schar an kompetenten Helfern.
Hier sind solche Manöver gelebte Praxis und alle Verkehrsteilnehmer sind auf derartige Kunstgriffe im Straßenverkehr eingestellt. Niemand – nicht einmal mehr ich – ist darüber verwundert und trotz des zitierten Chaos, der objektiv schlechten Fahrkenntnisse und nicht zuletzt eine schier unüberschaubaren Vielzahl an unterschiedlichsten Verkehrsteilnehmern funktioniert der Verkehr. Dennoch, Autofahren möchte ich hier selbst nicht unbedingt. Weil sowohl der österreichische als auch der internationale Führerschein in China keine Gültigkeit besitzen, eine neuerliche Prüfung für Ausländer nicht ganz so einfach ist und es ohnehin eine ausreichende Infrastruktur gibt, tat mir diese Entscheidung noch nie wirklich leid, im Gegenteil.
2004-03-18 by S. Stern, Wirtschaftswetter
Text + Fotos: ©S. Stern
Banner-Foto©Cornelia Schaible
Infos zu Datenschutz + Cookies
Weiter blättern: Wohnen in der Stadt der Superlative
2003-2024 wirtschaftswetter.de
©Wirtschaftswetter Online-Zeitschrift