von Joy Fraser
Weihnachten – das Fest der Liebe steht schon wieder vor der Tür. Habe ich nicht erst kürzlich noch Lametta aus der Wohnzimmerecke gestaubsaugt? Mir das Hirn zermartert auf der Suche nach den ultimativen, nützlichen Geschenken? Schon wieder ist ein Jahr vorbei. Es geht immer schneller, finden Sie nicht auch? Gegen wen oder was ist die Zeit eigentlich im Wettrennen? Welcher Idiot hat sie herausgefordert? Es lohnt sich kaum noch, sich die Mühe zu machen, Oster- oder Weihnachtsdekorationen zu entfernen. Vielleicht rotiert die Erde schneller. Das Ende ist nah, die Zeugen Jehovas hatten doch Recht! Oder vielleicht werden wir einfach nur alt?
Weihnachten bringt nicht nur Lamettareste und vertrocknete Tannennadeln das ganze Jahr über ins traute Heim, sondern, mag man es nun lieber kommerziell oder religiös betrachten, auch immer wieder Anlässe zum Nachdenken. Dankbarkeit ist eine der Mahnungen, die einem nahe gebracht werden sollen. Dankbarkeit, aber für was? Wie wäre es mit der lieben Familie? Ja, auch für Onkel Karl.
Familie wird immer wieder unterschätzt. Dabei kann sie so unterhaltend sein. Wozu Comedy im Fernsehen anschauen? Nur Mut, laden Sie sich lieber Ihre ganze Familie zu Weihnachten ein.
Harmonische Feste ohne einen Blutdruck um die 180 und ohne Auseinandersetzungen sind selten, und haben Sie das Glück ein solches erleben zu dürfen, dann meinen herzlichen Glückwunsch! Fühlen Sie sich dreifach gesegnet! Ich möchte mich an jene halten, die kein solches Glück haben.
Fragt man Menschen um die Weihnachtszeit, was ihnen alles zu "Familie" einfällt, sieht man sie oft abwinken. Sie denken an Stress, Wer-fährt-zu-wem-Kriege, an das immer wieder gern genommene Dieses-Jahr-gibt-es-keine-Geschenke-Reizthema, Kuchen backen, Weihnachtsbraten nicht anbrennen lassen, endlose Spülmaschinengänge, Kinder die schon morgens um vier Uhr wach werden und ihre Geschenke fordern, in letzter Minute durchgebrannte Weihnachtslichterketten, Schwiegertöchter, die dem Sohn ins Gesicht schmettern: "Deine Mutter hasst mich!"; laute Debatten am festlichen Tisch, Beschwerden wie: "Was? Kein Kartoffelbrei?", sinnfreie Debakel zwischen dem gehörlosen Opa und dem Zungen-gepiercten Enkel.
Wofür nochmal wollten wir dankbar sein?
Die gestresste Hausfrau und Mutter von Dreien, mit ihrem allzeit augenverdrehenden Gatten beim Anblick ihrer Seite der mitgeheirateten Familie, wünscht sich ein Flugticket nach Hawaii und kann auch gut ohne Weihnachtsbaum leben. Der Gatte freut sich schon auf die Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sein werden, und er seine Frau endlich mal wieder für sich alleine hat. Die heimliche Sorge, dann könnte man sich längst nichts mehr zu sagen haben und sich erst recht nicht mehr gegenseitig sexy finden, wird von diesem Traum rigoros verdrängt. So sind Träume eben: Sie sind befreit vom Zeitfaktor und haben wenig mit der Realität zu tun. Daher nennt man sie Träume. Was dem Traum aber eigen ist, ist das Aufwachen.
Der rettende Weihnachtsanker kommt oft in Form einiger Flaschen festlichen Weines. Leicht benebelt lässt sich das Weihnachtsgemetzel viel leichter ertragen. Zu Weihnachten war das sich betrinken schon immer erlaubt, das weiß doch jeder. Es gehört irgendwie dazu, und man entdeckt auch zügig, wie diese Tradition entstand, wenn man genau hinsieht. Denn damit kann man sogar die Unterhaltung über Verdauungsprobleme im Angesicht der goldbraunen Weihnachtsgans überleben. Braucht Onkel Hans nun einen künstlichen Ausgang, oder nicht? Diese Frage muss unbedingt bei Knödeln und Rotkraut ausführlich diskutiert werden, schließlich kommt man nicht so schnell wieder in dieser Truppenstärke zusammen.
Nun möchte ich nicht die Herzen rühren mit Beispielen von Zigtausenden Alleinstehenden, die liebend gern mit diesen geplagten Familien tauschen würden. Aber falls Sie zu der geplagten Sorte gehören, stellen Sie sich bitte einmal vor, was passieren würde, wenn Sie diese aufdringliche, lärmende Familie nicht hätten. Klingt das denn nicht etwa nach Glückseligkeit?
Ich möchte das einmal durchspielen, nur so zum Spaß. Sind wir Sklaven des Weihnachtsfestes? Gibt es eine Alternative? Wollen wir das überhaupt? Lieben wir unsere Qualen gar im Stillen? Fantasieren Sie mit mir ein bisschen. Die Kinder sind aus dem Haus, Sie sind allein mit Ihrem Partner. Endlich! Aber, man wird älter, und damit scheint sich ein hinterlistiger, genetisch-biochemischer Gehirnprozess zu vollziehen, den man zunächst nicht wahrnehmen will.
Plötzlich findet man den strahlenden Weihnachtsbaum, den man stundenlang wie Hudini im Kampf mit kilometerlangen Lichterketten zieren muss, gemütlicher als je zuvor. Ist das nicht der schönste Baum, der je auf einem Wohnzimmerteppich stehen durfte? Und auf einmal ist es unbefriedigend, wenn das nun erwachsene Kind es vorzieht, auf die Seychellen zu fliegen, anstatt wenigstens Weihnachten persönlich zu erscheinen, um am einst so gefürchteten festlichen Weihnachtstisch seinen rechtmäßig ererbten Platz einzunehmen.
Nun ja, es gibt ja noch den Rest der Familie. Ach nein, der ist ja inzwischen dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen, um neuen Generationen den Weihnachtsspaß zu gönnen. Was also bleibt an Ihrem viel zu großen Weihnachtstisch? Sie und Ihr Partner. Sie beschließen, schnell ein paar Steaks in die Pfanne zu hauen, denn Sie möchten nicht tagelang Reste essen müssen. Nach dem Austausch von Weihnachtsgeschenken, der ungefähr fünfzehn Sekunden des Abends in Anspruch nimmt, schalten Sie den Fernseher an und schauen zu, wie andere Leute Weihnachtsstress haben. Das kann auch ganz amüsant sein. Besonders in Begleitung eines Liter Weines.
Anstatt ein Dinner-for-One-Mahl komplett mit dem Gatten in der Rolle des James zu veranstalten, lassen Sie sich vielleicht auch nicht ins Boxhorn jagen. Sie gehen schick aus und genießen das Leben. Im Laufe der Jahre kann das jedoch erlahmen, und man denkt sehnsüchtig zurück an die Zeiten der nervösen Ist-die-Bratensoße-auch-nicht-zu-wässrig-Panik vor dem großen Essen, an strahlende Kinderaugen beim Anblick des neuesten japanischen Elektronikspielzeugs und der Gymnastik-Barbie, an schrullige Onkel, an seltsame Familienrituale und leicht abgedrehte Verwandte, die man auf einmal vermisst. Sie lachen ungläubig? Warten Sie es ab, auch Ihr Gehirn wird dieses Spiel der Erinnerungen mit Ihnen spielen, eines Tages.
Dieses innere Programm läuft schon vollautomatisch in uns ab, seit wir der Höhle und den Fellen entkommen sind. Damals hatte es einen anderen, einen heidnischen Namen, etwa wie "Winter-Sonnenwenden-Grillparty". Heute heißt es "Xmas-Update 1.0". Das ist wie bei "Winzigweich": Man kann es einfach nicht deinstallieren oder die automatische Installation verhindern. Manche Menschen schaffen es tatsächlich in höherem Alter, "Xmas-Update 2.0" über die alte Version zu installieren und treten dann in den "Weihnachten-ist-mir-doch-egal-Modus“ ein. Aber das sind eher seltene, begnadete Fälle.
Was genau bewirkt nun dieses Programm? Folgende Auswirkungen wurden beobachtet: Plötzlich erscheint es erträglich, dass Onkel Hans seine Zähne neben den Teller legt, mit der Bemerkung an die entsetzte Hausfrau, der Braten sei ja weich genug, um ihn auf den Felgen zu kauen.
Auch Tante Lottes Detailbeschreibung ihrer Gallenblasenoperation passt auf einmal irgendwie zur Farbe des Desserts. Tante Marias ständig gepacktes Köfferchen, dass überall im Weg herumsteht, für den Fall, dass die Außerirdischen sie nun doch bald abholen, stört nicht mehr so sehr. Die Nachbarn sind außerdem längst daran gewöhnt, dass Opa im Alter in den Kaiserreich-Modus gefallen ist, obwohl er nie ein Fan von Wilhelm war, und alle Leute mit einem schallenden „Ein Hoch auf den deutschen Kaiser“ begrüßt. Es ist längst nicht mehr so peinlich, sondern birgt im Gegenteil inzwischen einen gewissen Unterhaltungswert.
Und warum sollte Oma nicht in der Nudelsuppe ein Blitznickerchen halten, wenn ihr danach ist? Was ist an einem geschenkten Buch, das man schon jahrelang im Schrank hat, so schlimm? Es gibt schließlich Online-Auktionen. Der liebevolle Gedanke zählt. Und die aggressiven sowie leicht unrealistisch anmutenden umweltpolitischen Meinungen der Jugend am Tisch spiegeln doch nichts anderes wieder als die Hoffnung auf Änderung zum Guten in diesem Staat. Weiter so!
Fast jeder, den ich treffe, behauptet, seine Familie sei „Familie Horror“ schlechthin. Ich aber sage euch, zeigt Dankbarkeit und genießt sie, solange sie noch da ist! In diesem Sinne: besinnliche Weihnachten und ein frohes Neues - mit eurer einmaligen und originellen Familie!
2004-12-06 Joy Fraser, Wirtschaftswetter
Text: ©Joy Fraser
Fotos: ©Joy Fraser, Cornelia Schaible
Schlussredaktion: Ellen Heidböhmer
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