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Kanada: Abenteuer Auswandern I

Auf dem Weg nach Whitehorse - Das Abenteuer beginnt

von Joy Fraser

Willkommensschild am Yukon Yukon, viele haben von dieser reizvollen Gegend bereits etwas gehört. Der Name allein lockt jährlich Tausende Touristen an, die auf den alten Pfaden des Goldrausches wandern möchten, campen, auf dem Yukon River fahren oder Wintersport erleben. Einmal den Überschwang der Natur genossen, kommen viele jedes Jahr wieder. Sie werden süchtig nach der Ruhe und Beschaulichkeit. Sie genießen es, dem lauten und überfüllten Deutschland für eine Weile zu entkommen, um genau das Gegenteil zu erleben : vollkommene Stille und Einsamkeit. Für mich ist diese (inzwischen) alltäglich, denn ich habe einen Kanadier geheiratet. Nach vier gemeinsamen Jahren in Deutschland bin ich mit ihm nach Kanada ausgewandert, zusammen mit meiner Tochter. Bevor dann Whitehorse unsere neue Heimat wurde, besuchten wir meine Schwiegereltern in der Provinz Alberta. Wir wollten uns dort umsehen und vielleicht doch nah bei den Eltern wohnen und Arbeit finden.

Whitehorse am Yukon, Kanada. Gestresst vom Leben in einer deutschen Kleinstadt konnte mein Mann es kaum erwarten nach Kanada zurück zu kehren. Meine Tochter und ich waren trotz Vorfreude etwas skeptisch, denn wir hatten uns in Deutschland recht wohl gefühlt, und waren weit weniger gestresst als er. Wenn man in Deutschland aufgewachsen ist, findet man das Kleinstadtleben gemütlich, und wir konnten uns nicht erklären, warum sich unser Kanadier ständig am Rande eines Nervenzusammenbruchs befand.

Nicht, dass es ihm in Deutschland nicht gefallen hätte. Er liebte das billige Bier, den günstigen Wein – Apfelwein im Besonderen. Er liebte es außerdem, mit dem Motorrad auf kurvigen Straßen zu fahren - bei großzügigen Geschwindigkeitsbeschränkungen. Er fühlte sich wohl durch die liebevolle Akzeptanz seiner eigenen Person, sobald er verkündete Kanadier zu sein. Ihm gefielen die fortgeschrittene technische Entwicklung, die dreißig Tage Jahresurlaub, die allgemeine Offenheit, das weitgehende Fehlen öffentlicher Zensur und der Mangel an Maßregelei, die religiöse Freiheit und die Abwesenheit von kirchlicher Dominanz.

Nur die vielen Menschen gingen ihm schrecklich auf die Nerven. Menschen - wohin er auch ging und sah, menschliche Spuren selbst in den Wäldern. Es gibt keine Wildnis mehr in Deutschland, jedenfalls keine Wildnis im eigentlichen Sinn - Orte, an denen nie ein Mensch zuvor gewesen ist.
Ich wusste damals noch nicht genau was er damit überhaupt meinte und noch weniger, warum es ihm so ungeheuer wichtig war. "Warte nur, bis du es selbst siehst", pflegte er zu sagen. Ganz Kanada hat lediglich etwa dreißig Millionen Einwohner, während Deutschland mit achtzig Millionen aufwartet, auf einer Fläche die zwei Mal allein in die kanadische Provinz Alberta passt.

Im Yukon selbst könnte man drei große amerikanische Staaten unterbringen, wobei nur dreißigtausend Menschen dort leben, während ich in Deutschland auf einem Pink Floyd Konzert mit Siebzigtausend Fans in einem Stadion gesessen hatte. Allein der Gedanke daran ließ meinen Mann in Angstschweiß ausbrechen.
Natürlich gibt es auch eine handvoll Millionenstädte in Kanada, aber von denen hielt mein Mann sich wohlweislich fern. Der Rest des Landes ist – einsam. Für mich waren das vor unserer Abreise alles nur abstrakte Zahlenbeispiele und ich war gespannt selbst zu erfahren, wovon mein Mann sprach.

Zunächst landeten wir jedoch in einer der großen Städte, in Edmonton, der Hauptstadt der Provinz Alberta, da meine Schwiegereltern in Grande Prairie leben, das sich etwa drei Stunden westlich davon befindet. „Gleich um die Ecke“, jedenfalls nach kanadischem Verständnis.
In Edmonton zu landen kam überraschend für die Fluggäste, als sie die Ankündigung vom Piloten hörten. Blickte man aus dem Fenster sah man nämlich nichts, als weite quadratische Felder, viele knallig gelb von der Rapsblüte, eine gelegentliche Farm, und schnurgerade, autofreie Straßen. Wo war die Zivilisation? Gleich würden wir mitten auf einem Feld landen, und noch immer war weit und breit keine Stadt zu sehen.

Kanada aus dem Flugzeug Nach der Landung begriff ich, dass der Flughafen außerhalb der Stadt liegt, und man noch ein gutes Stück mit dem Auto zurücklegen muss, um dort hinzukommen. Edmonton verfügt sogar über eine nette Skyline mit Wolkenkratzern. Die Autos krochen gemächlich dahin, als hätte jemand den Zeitlupe-Knopf gedrückt. Meine kanadische Familie, die uns abholte, beklagte sich über dichten Verkehr. Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Im Vergleich zu Frankfurt am Main konnte von „Verkehr“ keinerlei Rede sein.

Meine Schwiegermutter am Steuer schockte mich einige Male, indem sie bei Rot über die Ampel fuhr. Mein Mann sah mich zusammenzucken und erklärte das Ampelsystem sei anders als in Deutschland. Das hieß, ich musste erst einmal die für uns geltende Ampel ausfindig machen. Sie befand sich nämlich nicht dort, wo man sie erwartet hätte.
In Kanada stehen die Ampeln nicht vor, sondern hinter der Kreuzung. Aha! Das erklärte manches. Rechts abbiegen bei rot ist immer erlaubt, es sei denn ein Hinweiszeichen verbietet es ausdrücklich. Trifft man an einer Kreuzung ohne Ampel auf andere Fahrzeuge, so gilt kein Rechts vor Links, sondern Vorfahrt hat der Wagen, der die Kreuzung zuerst erreicht hat (!). Im Zweifelsfall entscheidet gegenseitiges Einvernehmen per Blickkontakt.

Vielen Dank für diese Information. Jetzt war auch ich schon ein gelassenerer Beifahrer. Auch das allgemeine Schneckentempo beruhigte meine Nerven, und mir wurde klar, warum mein Mann in Deutschland oft bis nächsten Mittwoch an einer ampellosen Kreuzung stand, ohne in den fließenden Verkehr einzubiegen, weil dieser ihm zu hurtig vorbeirauschte. Er war die kanadische Version von Geschwindigkeit gewohnt und fühlte sich in Deutschland wie im Zeitraffer.

Für eine Pause bot sich eine der vielen Fast-Food-Ketten an. Wir besuchten eine, die für ihre Hamburger bekannt ist. Nein, nicht die mit dem gelben M, sondern "A&W". Mir wurde ein doppelstöckiger „Teenburger“ mit Pommes und Root Beer kredenzt. Das Fleisch war überraschend zart und lecker und die Portion Pommes allein hätte eine Familie satt gemacht. Das Root Beer ist ein antialkoholisches braunes Getränk und schmeckt wie eine bekannte Rheumasalbe. Für alle, die nicht unter Rheuma leiden, könnte man auch den Bazooka-Kaugummi als Beispiel anführen. Was so streng herausschmeckt ist der entzündungshemmende Wirkstoff Methylsalicylat, für alle, die es interessiert. Ketchup und andere Soßen, sowie Essig für die Pommes (eine typisch britische Art Pommes Frites zu essen), gibt es umsonst und in rauen Mengen. Getränke kann man sich unbegrenzt wieder nachfüllen.

Geht man in ein richtiges Restaurant, bekommt man nicht nur ein saftiges Steak, sondern auch einen saftigen Preis, und ein kostenloses "refill" von Getränken bleibt Wunschdenken. Dafür ist der Service perfekt, und das Essen überdimensional reichlich. Man stelle sich eine deutsche Vorlegeplatte für einen Sonntagsbraten vor, dann hat man genau die richtige Größe eines kanadischen vollen Tellers für eine Person vor sich. Was man nicht schafft, wird verpackt und mit nach Hause genommen. Das ist keine Schande, sondern gängige Praxis. Schließlich hat man dafür bezahlt, und diese Portionen finden einfach keinen Platz in einem menschlichen Magen.

Bestellt man beispielweise ein Steak mit Spaghetti, dann bekommt man nicht etwa ein kleines Steak und einen kleinen Klecks Nudeln, sondern ein normalgroßes Steak, als hätte man es als volles Gericht bestellt, eine normalgroße Portion Spaghetti, die obligatorischen Kartoffeln nach Wahl als Pommes, Kartoffelbrei oder gebackene Kartoffel und Gemüse als Beilage. Das volle Programm - ob man will oder nicht. Das ist eben so. Ich versuchte einzelne Bestandteile abzubestellen, wie zum Beispiel Bratkartoffeln zum Frühstücksei, aber das verwirrte die Kellner nur. Und am Ende bekam ich doch die kompletten Portionen geliefert. Aufgeben und alles einpacken lassen ist die bessere Lösung.

Sonderwünsche sind der pure Horror für die meisten Bedienungen. Einmal versuchte ich verzweifelt Kräuterbutter für mein Steak zu bekommen, aber man konnte mit meinem Anliegen nichts anfangen. Nun war ich verwirrt, denn Knoblauch ist ein gängiges Gewürz, Knoblauchbrot gibt es zu fast jeder Pizza, und auch zum Steak. Ich konnte das Rätsel nicht lösen, konnte aber die Knoblauchsoße, die mein Mann zum Fisch gereicht bekam, extra bestellen. Es handelte sich bei dieser um nichts weiter als geschmolzene Knoblauchbutter mit Kräutern.

Die Kellner leben vom "Tip", dem Trinkgeld, das sich zwischen zehn und fünfzehn Prozent bewegen sollte. Das summiert sich, vor allem für Schüler die bei den Ketten arbeiten und einen niedrigen Mindestlohn bekommen, plus dem Tip. So manches Kind geht auf diese Weise am Abend mit zweihundert Dollar nach Hause. Viele finanzieren sich so ihr Studium. Auf alle Preise, auch im Supermarkt, muss man sieben Prozent Mehrwertsteuer rechnen, die nicht mit ausgepreist ist. Ist man nicht daran gewöhnt, kann das schon mal zu Schwierigkeiten führen, wenn man erst Kopfrechnen muss, um festzustellen, ob das mitgeführte Geld auch ausreicht.

Nicht nur beim Essen in Anbetracht von Pommes mit Essig begegnen einem britische Gepflogenheiten. Trotz Unabhängigkeit von den Briten seit dem 1. Juli 1867, verehrt Kanada noch immer das britische Königshaus, und Bilder der Queen hängen in jedem Hotel, Museum und öffentlichen Gebäuden. Selbst als Deutsche freute mich ihr Anblick, ist sie doch ein Stück Europa, in einem Land, in dem ansonsten nicht viel an Europa erinnert. Es gibt keine alten Gebäude oder hübsche Städtchen voller Geschichte, und alles, was älter als fünfzig Jahre ist, gilt als antik. Alte Möbel auf Antikmärkten sind aus den Jahren 1910 bis 1950. Man findet wirklich kaum etwas Älteres. Einen Antikhandel mit Kanada aufzumachen wäre sicher ein lohnendes Geschäft, denn die Nachfrage ist riesig!

Edmonton ist sehr sauber, wie fast ganz Kanada, denn "littering", das heißt etwas auf die Straße werfen, kann bis zu zweitausend Dollar Strafe kosten. Ich persönlich finde man sollte das auch in Deutschland einführen, anstatt ständig eine Steuer zu erhöhen.
Edmonton hat sein eigenes Wetter, was manchmal dazu führt, dass es mitten im Hochsommer Stürme mit Eis und Schnee gibt, so wie im Juli 2004. Sämtliche Autos blieben stecken. Eisbrocken behinderten den Verkehr und alles war weiß, für ein paar Stunden. Die Stadt stand unter Katastrophenalarm, bis die Sonne sich durchsetzte und den Sommer zurück brachte.

Wenn man Glück hat kann man sich während eines Sturms in das zweitgrößte Kaufhaus der Welt flüchten. Die "West Edmonton Mall" beherbergt Hunderte von Geschäften, eine Achterbahn mit Loopings und andere Rummelplatzattraktionen. Außerdem Restaurants, nachgeahmte europäische Sträßchen und Cafés, einen großen Wasserbereich, ein Wellenbad, einen Nachbau der "Santa Maria" von Kolumbus, Mega-Kinopaläste, Buchläden, Frisöre etc. - alles unter einem Dach. Man braucht Tage, um wirklich alles zu sehen.

Nach dem Edmonton-Erlebnis ging es weiter in den Süden. Wir fuhren durch Calgary ohne anzuhalten, durchquerten den Banff-Nationalpark, und fuhren weiter Richtung Westen nach Merrit in der Provinz British Columbia.
Atemberaubende Bergpanoramen belohnten uns, Kanada pur. Die Rocky Mountains begleiten den Reisenden durch den ganzen Westen, und ändern ihr Gesicht mit jeder Klimazone, die man auf der tagelangen Strecke hinter sich lässt. Von dichtem dunklen Märchenwald bis hin zu weiten grünen Tälern, über klare, spiegelglatte Seen vor klassischem Bergmotiv ist alles vorhanden. Gletscher mit ewigem Eis thronen im Hintergrund und vermitteln den Eindruck von sich bis ins Unendliche ausstreckender Berge. Es ist ein seltsames Gefühl von Gefangenschaft, das Besitz vom Reisenden ergreift, wenn man über Tage hinweg nichts als Berge durchquert. Wie schnell hat man in Europa die Alpen überquert, wie schnell lässt man das herrliche Panorama hinter sich. Nicht so in Kanada. Die Rockys scheinen endlos zu sein.

Wasserfall Wir wollten mehr sehen vom Land. Wir wollten die Berge betrachten, die hier im Süden trocken und karg aufragen und die wilden steinigen Flüsse bestaunen. Das alles bei einer Temperatur von sechsunddreißig Grad Celsius, wenig Luftfeuchtigkeit, und eher kalifornisch als kanadisch anmutend. Doch zunächst mussten wir in Merrit einen Onkel meiner neuen und unglaublich großen Familie beerdigen, der verstorben war. Sein Dahinscheiden kam nicht plötzlich und unerwartet, sondern er war sehr alt und krank gewesen , aber dennoch ist ein solcher Grund ein trauriger Anlass für ein Familientreffen. Ich hatte den Onkel nicht mehr kennen gelernt, sodass ich das Ritual mehr mit Neugier beobachtete als mit Trauer. Und ich beobachtete, was man in Kanada alles anders macht, wenn es um denUmgang mit dem Tod geht. Ich sollte nicht enttäuscht werden, es gab genug zu bestaunen.

Zunächst hatte ich mir den Friedhof anders vorgestellt. Ich dachte an deutsche Grabstätten, von Marmor geziert, Grabsteine mit ergreifenden Texten, Blumengestecke und ewige Lichter, inmitten hoher erhabener Bäume, Hecken und Büsche. Orte des Friedens, die zum Flüstern anhalten und einen über die Vergänglichkeit des Lebens nachdenken lassen.
Alles, was ich dann sah, war ein riesiger gemähter Rasen. Ein Fußballfeld? Waren wir hier falsch? Beim Näherkommen erkannte ich kleine Platten auf dem Gras, in Reihen angeordnet und recht weit auseinander. Am hinteren Ende befand sich eine Gruppe Menschen, um eine frische Grabstätte versammelt. Das musste unsere Familie sein.

Wir fuhren mit dem Auto auf die Gruppe Menschen zu, und ich fand es etwas befremdlich, dass meine Schwiegereltern nicht anhielten, sondern kurzerhand mit dem Wagen über den Rasen fuhren, zwischen den Grabstätten hindurch. Einfach so, zwischen Luise Smith und Johnny Weinreb's kleinen Platten, auf denen nicht mehr als die Namen und die Lebensdauer zu lesen war.
Die Sommersonne brannte auf uns herab, und man hielt der trauernden Witwe einen Regenschirm über den Kopf. Ich betrachtete die Grabstätte im Rasen genauer. Irgend etwas stimmte nicht. Zwar war da ein kleines quadratisches Loch für eine Urne, aber wo war die Hauptperson, der teure Verstorbene? Niemand hatte ihn dabei, meines Wissens nach.

Ein freier Priester sollte eine Rede halten, doch ich sah keinen, und mein Mann erklärte mir, dass sein Vater diese Aufgabe übernehmen würde, denn er war ein "Minister" in einer Kirche, was so viel wie ein Prediger ist.
Da ich in diesem Moment neben ihm stand, und er nur allzu gut wusste, wie fremd alles für mich war, fragte ich ihn wo der Verstorbene sei. Er deutete neben das Grab, wo ein Buch und ein Beutel lag. Jemand hatte wohl seinen Turnbeutel vergessen.

Mein Gesicht wurde heiß, als Verstehen dämmerte. Der Onkel befand sich in dem Beutel. Wie konnte ich nur so blind sein? Ich trat automatisch einen Schritt zurück, um dem Verstorbenen Respekt zu zollen. Ich kam nicht umhin, innerlich den Kopf zu schütteln über diese Respektlosigkeit, obwohl ich mich nicht als religiös bezeichnen kann. Es erschien mir jedoch seltsam, dass alle so locker versammelt waren, um das Loch im Rasen, miteinander plaudernd wie auf einer Cocktailparty, und nicht einmal in Schwarz gekleidet. Keiner achtete auf den Onkel im Turnbeutel, der auf etwas Aufmerksamkeit zu warten schien, wenn er schon nicht aufgebart und erhaben in einer Kapelle stand, sondern einfach so auf dem Rasen liegen musste, wie ein Golfball kurz vor dem Einlochen.
Vielleicht klingt es albern, aber es schien mir zunächst wirklich nicht die richtige Vorgehensweise zu sein. In Deutschland wird der Abschied feierlicher gestaltet, doch wer mag schon ein Urteil fällen? Der Spruch ist zwar etwas abgedroschen, dennoch gilt: Andere Länder, andere Sitten, andere Beerdigungen.

Yukon Die dann folgende Grabrede war überraschend und stellte sich als die längste und ergreifendste heraus, die ich je gehört habe. Der Verstorbene wurde dabei nicht verherrlicht, sondern sein Leben erzählt, in seiner ganzen Härte. Die Beschreibung seiner guten Seiten brachte dann sämtliche Anwesenden zum Aufschluchzen. Nach meinem Schwiegervater kamen noch weitere Familienmitglieder zu Wort. Danach musste sich jemand freiwillig melden um den Onkel in das Grab zu senken.
Niemand trat nach vorn
Man schaute sich gegenseitig an. Einige weinten leise. Andere lächelten, hilflos dem peinlichen Moment gegenüber, bis sich schließlich eines der Enkelkinder des Onkels erbarmte und die offensichtlich unangenehme Aufgabe übernahm.

Ich hatte längst den stillosen Anfang vergessen und wurde von der großen Liebe in dieser Familie gefangen genommen und gewärmt - eine Familie die sogar ihre Toten selbst und ganz privat beerdigt, wie vor zweihundert Jahren, als das Land jung und die ersten Siedler einsam waren und so fern der alten Heimat.
Vielleicht ist diese Art des Abschiednehmens gar nicht so schlecht, weil sie den Lebensumständen sehr gut angepasst ist. Die Gräber benötigen keine Pflege, was es den oft sehr, sehr weit auseinander lebenden Familienmitgliedern leichter macht. Man kommt ins Grübeln. Sitten und Gebräuche mögen fremd anmuten, doch wenn man genauer hinsieht und darüber nachdenkt, wird einem der Sinn schnell deutlich.

Nach der Beerdigung machten wir uns auf den Weg nach Grande Prairie, zurück hoch in den Norden von Kanadas Westen. Im Laufe der Fahrt veränderten sich die trockenen kargen Berge, und wurden zu dicht bewaldeten dunkelgrünen Giganten. Von tiefen Tälern durchfurcht, mit von ewigem Eis bedeckten Gipfeln in der Ferne, wirkten die Berge einengend, als gäbe es keinen Weg hinaus aus dem steinernen Labyrinth, keinen anderen Weg als diese eine Straße, die sich durch die Landschaft schlängelte, und von der man auf keinen Fall abkommen sollte. Nur in extrem gefährlichen Kurven waren niedrige Betonbarrieren errichtet. Den Rest der Strecke kann man ungehindert in tiefe Schluchten hinunterblicken und nur hoffen, dass der Fahrer durch nichts abgelenkt wird.

Stundenlang ändert sich die Landschaft nicht, und wird doch nie langweilig, denn hinter jeder Kurve ist das Bild aus Bergen, Seen und Wäldern wieder anders zusammengesetzt, neu geformt, von anderen Wolken eingehüllt, oder dem Rauch eines Waldbrandes. Es brennt oft in British Columbia, und Schilder weisen auf die Gefahr hin. Sie erinnern daran, Campfeuer richtig zu löschen und keine Zigaretten aus dem Fenster zu werfen, obwohl die meisten Buschfeuer tatsächlich von Blitzen verursacht werden.

Andere Schilder sind weit mehr amüsant. Da ist zum Beispiel ein blaues Männchen, das ein Kamel führt. Es bedeutet man befindet sich auf einer alten Goldrausch-Strecke. Man stellt sich automatisch vor, wie die ersten Goldsucher die Berge erklommen haben, bei Eis und Schnee, und ganz ohne Goretex.
Man erklärte mir auf mein Nachfragen, dass Kamele dabei die besten Lasttiere gewesen seien. Sie waren ausdauernd und konnten das raue Klima besser ertragen als verweichlichte europäische Pferde. Auch Lamas setzte man ein, und noch heute fährt man an Farmen vorbei, die nicht nur Pferde oder Kühe auf der Weide stehen haben, sondern auch Lamas, die sich mit den Pferden prima verstehen.
Das Warnschild für den Grizzlybären fand ich dagegen nicht so amüsant. Immer wieder sterben ahnungslose Touristen einen grausamen Tod, weil sie beim Campen ihren Abfall nicht „bärengerecht“ in verschlossenen Behältern entsorgen, und die Tiere damit anlocken. Dazu kommt der Drang den großen Teddy streicheln zu wollen, was der gemeine Bär mit einer Einladung zum Mittagessen verwechselt- wobei der Tourist das Menü sein wird.

Kleinvieh Man scherzt gern darüber, doch man hat in Kanada großen Respekt vor dem niedlichen und doch so gefährlichen Tier. Die Bärenpopulation ist gesund, und uns sind allein auf der Strecke durch die Rockys zwei Bären vor das Auto gelaufen. Sie überquerten einfach so die Straße, die frecherweise ihr Revier durchkreuzt. Bären sind von Natur aus scheu, doch gelegentlich bekommt man sie zu sehen. Meist dann, wenn man es am wenigsten erwartet.
Anderes Wild kreuzte unseren Weg öfter als Bären. Rehe, Hirsche, Elche, Karibus, wilde Büffel, Moose und Kojoten begegneten uns täglich. Am häufigsten unterwegs sind sie in den Dämmerstunden des Tages, früh Morgens und am Abend. Einmal zählten wir in drei Stunden neunzehn Tiere, neben und auf der Straße.

Die kanadischen Geschwindigkeitsbegrenzungen sind nicht nur wegen gefährlicher Raser auf den oft viele Kilometer langen schnurgeraden Straßen so streng, sondern auch wegen der Tatsache, dass ein ausgewachsenes Moose (ein größerer Verwandter des Elchs) bei hoher Fahrgeschwindigkeit die gesamte Front eines LKW zertrümmern und ihn sogar umkippen oder einen Kleinwagen samt Insassen zermalmen könnte. Geschwindigkeitsüberschreitungen in Kanada sind kein Kavaliersdelikt, sondern ein Spiel mit der Wahrscheinlichkeit. Die Chancen das Spiel zu verlieren sind ziemlich hoch.

Weiter blättern: Auf dem Weg nach Whitehorse, 2. Teil - Ein Platz zum Leben

2004-11-07 by Joy Fraser, Wirtschaftswetter

Text: ©Joy Fraser
Fotos: ©Joy Fraser
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