von Dr. Elisabeth Kärcher
Jeden Donnerstag ist in Daulatpur, einem Dörfchen am Stadtrand von Kolkata , Markttag. Denn die Donnerstags-Sprechstunde des Child In Need Institute (CINI) für Schwangere und Mütter mit Kleinkindern zieht zwei- bis dreihundert Familien an, die den Tag gleich zum Einkauf oder Verkauf von Waren nutzen.
1974 gründete der hinduistische Kinderarzt Dr. Chaudhuri, verheiratet mit einer katholischen Italienerin, in der überwiegend moslemischen Region das Kinderhilfswerk. Heute ist die Organisation an sechs Standorten in fünf indischen Provinzen tätig und betreut mit über sechshundert Helfern etwa eine Million Menschen.
Finanziert wird die Arbeit der von Indien als gemeinnützig anerkannten Wohlfahrtsorganisation zu etwa 40 Prozent durch den indischen Staat, zu weiteren etwa 40 Prozent aus nationalen und internationalen Spenden und zu etwa 20 Prozent aus den Dörfern selber. Völlig kostenfrei sind Sprechstunden und Vorsorge nicht, aber die Höhe der Beiträge bemisst sich nach dem Grad der Armut und donnerstags kommen die Ärmsten der ländlichen Region.
Nach den Erfahrungen in Kolkatas (Kalkuttas) Slums rechne ich mit dem Schlimmsten und bin bei den Hausbesuchen fast ein wenig erleichtert. Die Hütten sind mit rund 15 Quadratmeter je Familie größer, stabiler und luftiger. Kleine Kochmulden, mit Lehm in den Boden gefugt, ermöglichen, mit wenig Holz warme Mahlzeiten zuzubereiten. Die Kinder sehen trotz ersichtlicher Armut gesund und vergnügt aus, einige tragen Schulkleidung.
Das dies so ist, obwohl Wasser von den Frauen aus den Brunnen von weither herangetragen werden muss, Tümpel die Toiletten ersetzen und kein Stromanschluss Kühlung von Speisen ermöglicht, ist der Verdienst des Institutes CINI.
Wieviel Mühe es kostet, noch nach dreißig Jahren auch die nächsten Generationen immer noch und immer wieder aufzuklären, können wir in der Sprechstunde sehen. Bevor nämlich Schwangere und Mütter Behandlung bei den Ärzten erhalten, müssen sie in der Warteschlange an den geschulten Gesundheitskräften vorbei. Mittels einfacher Hilfsmittel wie bunten Tafeln, Originalgemüse, Klappkarten und Wachstumskarten der Kinder wird auch den Analphabeten verdeutlicht, was Schwangere und Kinder für ein gesundes Wachstum benötigen und wie dies mit der einheimischen Kost vereinbar ist.
An einer weiteren Station werden Kinder in Tragegurten gewogen und die Werte in die Mutter-Kind-Pässe, bunte Klappkarten, die die Mütter sorgfältig bei sich führen – und auch beim Hausbesuch im Dorf stolz aus einer Ecke der Hütte zaubern – eingetragen.
Die schweren Fälle unterernährter Kinder, wo all diese Vorsorge nicht gegriffen hat, sind in der kleinen Aufpäppelstation nebenan, die schlicht aus einem Flur und Räumen mit Liegen besteht. Auch hier ist der Unterricht bildlich – und vor allem ganz anschaulich von Mutter zu Mutter. Denn für manche ist es offenbar ein AHA-Erlebnis, dass Stillen dem Kind guttut und Kleinkinder mit üblicher Kost aus Reis und Soßen aus Gemüsen und eiweißhaltigen Linsen – nur ein klein weniger schwächer gewürzt als für die Erwachsenen – gut zurechtkommen.
Überhaupt konzentriert sich das Konzept von CINI auf die Schulung, Aufklärung und Stärkung von Frauen, denn sie sind es, die in den Familien Wissen umsetzen und der nächsten Generation weitergeben können. Aber sie genießen traditionell wenig Wertschätzung und Unterstützung. Beispielsweise essen Frauen, auch wenn sie schwanger sind, erst nachdem der Mann satt ist – und in armen Familien von dem eiweißhaltigen Teil der Nahrung kaum noch etwas auf dem Tisch steht.
Irrglauben und Ignoranz zu verändern ist eine viel schwerere und eine viel langwierigere Aufgabe als die Akutbehandlung eines an Durchfall leidenden Kindes. Aber nur der lange Weg kann verhindern, dass dieses Kind immer und immer wieder mit einem Durchfall kommt. High Tech – Medizin kann Unterernährung nicht heilen betont Dr. Chaudhuri und so sei es kein Wunder, dass die klassische medizinische Versorgung in Indien ständig an ihre Grenzen kommt und dennoch keinen großen Unterschied für die ärmeren Schichten bewirkt.
Soziale und kulturelle Vorstellungen müssen langsam und geduldig beeinflusst werden. Dies sind beispielsweise die Irrmeinungen, dass Schwangere möglichst wenig essen sollten, damit das Kind bei der Geburt sehr klein und die Geburt dadurch leichter oder dass Stillen ungünstig für die Entwicklung des Kindes sei. Die vorwiegend weiblichen Helfer (health worker) in den Dörfern zu gewinnen und zu schulen ist daher einer der ersten Schritte der Arbeit von CINI – und der Kern ihres Erfolges.
Indiens Problem mit der Unterernährung ist gewaltig. Tatsächlich gibt es laut Weltbank kein Land der Erde mit so vielen unterernährten Kindern wie Indien. Der nationale indische Gesundheitsbericht weist nur gut 40 Prozent der Kinder als normal ernährt aus. Dabei treibt Unterernährung den Teufelskreis der Armut an:
Unterernährte Säuglinge wachsen zu geistig wenig entwickelten Kindern heran, die die Schule nicht schaffen, in der Kinderarbeit landen, Analphabeten bleiben, schlechte Arbeitsmöglichkeiten haben, aus Not in die Slums der Städte abwandern, als Mädchen schon mit 15 Jahren heiraten müssen und dann viel zu früh schwanger werden, in der Schwangerschaft unterernährt und blutarm sind und unterernährte Neugeborene zur Welt bringen.
Deshalb setzt das Kinderhilfswerk CINI an der kritischen Phase der Schwangerschaft und den ersten zwei Lebensjahren der Kinder an, in der das Gehirn reift und begleitet in dieser Zeit Mutter und Kind besonders intensiv - u.a. mit Spendenpatenschaften für Mutter und Kind über 33 Monate. Ihr Modell hat Erfolg: in den von ihnen erreichten Dörfern sind immerhin 60 Prozent der Kinder normal ernährt.
Mittlerweile geht CINI weiter, fördert den Schulbesuch der Kinder, berät zur Familienplanung und zur Übertragung von Erkrankungen wie AIDS, schützt Straßenkinder, berät Jugendliche, bildet die Quacks der Slums weiter und unterhält ein Schulungszentrum mit Bibliothek für die Basisgesundheitsarbeit. Die Materialien dort sind so bunt und mehrsprachig wie Indien selbst.
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2007-04-17 Dr. Elisabeth Kärcher, Wirtschafswetter
Text: ©Dr. Elisabeth Kärcher
Fotos: © Dr. Elisabeth Kärcher
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