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Nele Böhm Kolumne

Hartz IV - Die ungeschminkte Wahrheit

I. Intro

von Nele Böhm

Ich bin Schriftstellerin von Beruf. Mit Leib und Seele und Herzblut. Ich liebe meine Arbeit. Was ich schreibe? Leichtes, Heiteres, Augenzwinkerndes. Woher ich meine Ideen beziehe? Keine Ahnung. Ehrlich nicht. Mein Leben ist nämlich überhaupt nicht leicht und heiter und augenzwinkernd. Ich habe das Pech, in Deutschland alleinerziehende Mutter mit vier Kindern und einem sehr gut verdienenden, aber leider nicht unterhaltsfähigen Ex-Mann zu sein.
Deshalb sitze ich seit zwei Jahren in der Sackgasse mit Namen Hartz IV. Ich gebe zu, verglichen mit anderen Hartz IV Empfängern geht es uns noch gut. Wir haben eine schöne Wohnung in einem angenehmen Umfeld. Ein altes, aber bezahltes und funktionstüchtiges Auto. Und ich verdiene mit dem Bücherschreiben Geld. Leider noch nicht genug.

Vor ein paar Tagen erzählte mir mein zwölfjähriger Sohn von seinem Schultag. Seine Klassenkameraden haben über Hartz IV Empfänger geschimpft. Alles Sozialschmarotzer. Sieht man ja ständig im Fernsehen, diese arbeitsscheuen Asozialen
Ich hatte ein langes Gespräch mit ihm. Über Männer im besten Alter, die gute Jobs haben und plötzlich auf der Straße stehen. Über Frauen um die 50, ohne Ausbildung und – nach langer Ehe wegen einer Jüngeren verlassen – ohne Chance auf dem Arbeitsmarkt. Über Schichtarbeiter, deren Betrieb schließt, weil die Firma lieber billige Arbeitskräfte in Asien bezahlt. Und über Alleinerziehende, die in diesem Land Kinder groß ziehen und dafür noch bestraft werden. Aber immerhin haben wir die Anerkennung von Frau von der Leyen. Das ist doch mal was!

Ich habe meinem Sohn versichert, dass es keine Schande ist und schon gar kein Grund sich zu schämen, wenn man Hilfe vom Staat bekommt. Und musste gleichzeitig mich selbst auch davon überzeugen. Ich leiste hier jeden Tag aufs Neue eine Menge, auch wenn ich morgens nicht weiß, woher ich die Kraft nehmen soll, um überhaupt aufzustehen. Ich ziehe meine Kinder groß unter Umständen, die man nur als katastrophal bezeichnen kann. Und trotzdem stehen sie prima im Leben, machen ihren Weg, verfügen über ausgeprägte Sozialkompetenz und sind rundherum liebenswerte Menschen. Das bestätigen mir seit Jahren die Lehrer und die Erzieherinnen im Kindergarten. Hut ab, Frau Böhm.
Ja, Hut ab. Und wie sieht’s dahinter aus? Ich gehe auf dem Zahnfleisch, seelisch, körperlich und moralisch. Ich kämpfe jeden Tag gegen die große Verzweiflung. Vor lauter Existenzsorgen kann ich nicht mehr schlafen, denn trotz aller Anstrengungen meinerseits haben wir nie genug Geld. Und mir ist ständig zum Heulen. Aber ich funktioniere weiter. Für meine Kinder. Und weil mir ja nichts anderes übrig bleibt.
Immer mal wieder sagt in meinem Freundeskreis jemand: „Mensch, das ist eine ganz große Schweinerei, die hier passiert, mitten in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde!“ Das ist wahr. Jeder achte Deutsche bekommt staatliche Hilfe in Form von Arbeitslosengeld, Hartz IV, Wohngeld etc. Kinderarmut ist ein Riesenthema. Suppenküchen und Tafeln haben enormen Zulauf. Da muss man doch was tun! An die Zeitung gehen, ans Fernsehen, die Öffentlichkeit aufmerksam machen.
Ja, müsste man. Sagen alle Betroffenen, mit denen ich spreche. Aber woher die Kraft und die Zeit dafür nehmen, wenn man doch sowieso schon auf Reserve läuft?
Um wenigstens etwas zu tun, habe ich beschlossen, hier im Wirtschaftswetter über das Leben mit Hartz IV zu schreiben. Ehrlich. Offen. Schonungslos. Aber auch mutig. Trotzig. Wütend. Als erstes über das Thema Lebensmitteleinkauf. Ich verspreche Ihnen, das wird spannend. Haben Sie schon mal versucht, mit sechs Euro übers Wochenende zu kommen, ohne dass Sie und Ihre Kinder hungern? Nein? Dann lesen Sie demnächst hier, wie das geht. Das und noch vieles mehr.

Weiter: Nele Böhm Kolumne: Hartz IV - Die ungeschminkte Wahrheit 2, Lebensmittel


2008-09-23 Nele Böhm
Text: © Nele Böhm: nele.boehm@wirtschaftswetter.de
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