von Joy Fraser
Mein erster Winter präsentierte sich mit langsam abfallenden Temperaturen, sodass ich mich daran gewöhnen konnte. Es traf mich nicht wie ein kalter Schlag ins Gesicht, aber dennoch ist es nicht leicht, sich mit der nun wirklich eisigen Kälte abzufinden. Bestimmte Regeln müssen eingehalten werden, oder man bringt sich in große Gefahr. Als Mitteleuropäer hat man sich nur gelegentlich mit Temperaturen von minus 15 Grad herumzuschlagen, und bei minus 10 sind vor einigen Jahren Obdachlose in Berlin erfroren. Doch das sind Ausnahmen, die von sich reden machen. Auch in Kanada erfriert der ein oder andere gelegentlich, aber nur durch Dummheit und schlechte Vorbereitung. Wenn man beispielsweise betrunken und zu Fuß versucht im Dunkeln sein Haus zu finden, während ein eisiger Blizzard tobt, kann es schon mal vorkommen, dass man die Orientierung verliert und zwei Meter vor der Haustür an Unterkühlung stirbt.
Fälle von schlechter Vorbereitung sind häufiger. Auf dem Alaska Highway ist ohnehin nicht viel Verkehr, und im Winter kann man stundenlang auf kein anderes Auto treffen. Von Whitehorse nach Dawson City zu fahren ist ein abenteuerliches Unterfangen. Die Fahrt geht sechs Stunden durch nichts als Wildnis, und man muss sich gut ausrüsten. Ohne eine dicke Decke, etwas Essbares, warme Getränke, ein Funkgerät und den Erste-Hilfekasten sollte man sich gar nicht erst auf den Weg machen. Es wird empfohlen den Trip nicht allein zu unternehmen. Im Falle eines Unfalls, verursacht durch wildlife auf der Straße, kann ein Beifahrer lebensrettend sein. Ist man selbst nicht in der Lage den Wagen wieder zu starten, wird man erfrieren noch bevor man verbluten kann.
Selbst das Funkgerät, das zumindest den Kontakt zur Yukon Amateur Radio Association herstellen kann, die das gesamte Yukon Highway System abdeckt, garantiert keine schnelle Hilfe. Vergessen sollte man sämtliche Hollywood-Wildnisabenteuer-Filme, die immer ein Happy End haben und immer einen Retter unvermutet aus dem Wald spazieren lassen. Der nächste Mensch könnte noch Stunden entfernt sein. Hilfe per Helikopter könnte zwar geschickt werden, doch nur bei klarem Wetter. Sitzt man in einem Schneesturm fest, oder dort wo der Heli startet ist das Wetter schlecht, ist man gnadenlos sich selbst überlassen. Bis der Sprit ausgeht. Spätestens dann sollte man sein Testament machen. Es sei denn man ist nicht zu sehr verletzt, kann seinen inneren Buschmann reaktivieren, oder hatte einen Winter-survival-Kurs, und kann sich im Wald ein Feuer und eine Iglu-artige Unterkunft basteln. Die meisten Reisenden sind jedoch nicht derartig gut vorbereitet.
Immer wieder erfrieren Menschen in ihren Autos. Bei minus 40 Grad schließt eine Autotür nicht mehr, nachdem sie einmal geöffnet wurde. Die Radiostation warnt regelmäßig vor gefährlichem Wetter und Leichtsinnigkeit. Windchill erhöht den Kältewert, macht die gefühlte Temperatur noch eisiger und lässt unbedeckte Haut binnen Sekunden erfrieren. Minus 30 Grad ohne Wind fühlt sich weit wärmer an und ist ungefährlicher als minus 20 mit Wind. Windchill kann die tatsächliche Temperatur verdoppeln. Das ist tückisch, schaut man auf das Thermometer und entdeckt kuschelige minus 3 Grad, mag man denken die Handschuhe dürfen heut zuhause bleiben. Gerät man aber in den kalten Wind, bekommt man Frost Bite binnen weniger Minuten! Tauen die Hände dann im Warmen wieder auf, reagiert der Körper mit Übelkeit, und man übergibt sich. So oder so, mit der Kälte zu spaßen hat unangenehme Folgen, selbst wenn nichts ernsthaftes passiert ist.
Öffnet man die Haustür, steht man augenblicklich in einer weißen Wolke, wenn die warme Innenluft nach draußen strömt. Wenn Hauswände und Dachgebälk daraufhin laute Knackgeräusche von sich geben, kann man sicher sein, es mit mindestens minus 30 Grad zu tun zu haben. Gemauerte Wände könnten reißen, weshalb kanadische Häuser aus einem Holzgerüst bestehen, ähnlich dem Skelett deutscher Fertighäuser.
Selbst dreifach verglaste Fenster sind innen von einer dicken Eisschicht umrandet. Gefrorenes Kondenswasser sorgt dafür, selbst bei laufenden Innenventilatoren, welche zu hohe Luftfeuchtigkeit nach außen ziehen. Kanadische Heizsysteme sind gleichzeitig Luftaustauscher, damit man im Winter kein Fenster öffnen muss um an Frischluft zu gelangen. Dadurch wird zwar auch die Warmluft nach außen geleitet, was höhere Heizkosten verursacht, aber das ist unvermeidbar. Öffnet man bei minus 40 Grad zum Stoßlüften ein Fenster, erfrieren die Zimmerpflanzen, das Haus knackt gefährlich als würde es zerbersten, der Wärmeverlust wäre dramatisch, und würde erneut die Heizkosten erhöhen. So oder so, es muss gut geheizt, und es darf nicht gelüftet werden. Alles was ich über Frischluftzufuhr in Deutschland gelernt habe ("Sie lüften nicht genug, daher der Schimmel im Bad!") musste ich ablegen. In Kanada gelten andere Regeln.
Bei solchen Temperaturen muss man das Auto zehn Minuten vorwärmen, bevor man losfährt, oder selbst ein vorgewärmter Motorblock nimmt Schaden. Sämtliche Metall- und Plastikteile stehen unter enormer Belastung, und selbst Metall bricht wie Glas bei zu starker Beanspruchung. Ein Fieberglas-Trabant würde glatt komplett zersplittern wenn man die Tür zu fest zuschlägt. Amerikanische Corvettes haben das bereits bewiesen und im kalten Kanada ihr Leben ausgehaucht.
Nach dem Einsteigen in das Auto stellt man fest, dass der Sitz sich ungewöhnlich hart anfühlt. Ein Kissen mitzunehmen ist zu empfehlen, denn die Sitze sind steif gefroren. Das Auto rollt unrund für eine Weile, denn die Kälte friert die Reifen in ihrer geparkten Position – oben rund, unten flach. Die Kanadier nennen das Phänomen: Square Tires – eckige Reifen. Der Schnee über den man gerade gelaufen ist, knirscht extrem, und steht man draußen für nur fünf Minuten, knirscht die Winterjacke bei jeder Bewegung genau wie der Schnee. Die Welt wurde zur Tiefkühltruhe.
Geparkte Autos in der Stadt sondern weiße Wolken ab, denn ihre Besitzer lassen den Motor laufen bis sie mit dem Einkauf fertig sind. Dauerparker stecken das Motorblockwärmer-Kabel in eine der vielen dafür vorgesehenen Säulen auf Parkplätzen. Wo keine solche Säule vorhanden ist, läuft der Motor, oder man würde nicht mehr damit nach Hause kommen. Umweltschutzgedanken über laufende Motoren geraten in Vergessenheit bei der Vorstellung in ein minus 40 Grad kaltes Auto einsteigen zu müssen, was noch dazu höchstwahrscheinlich nicht einmal anspringen wird.
Kleine Hunde tragen niedliche Mäntelchen und Hundestiefelchen, Menschen tragen dicke Jacken, Thermohosen, Thermounterwäsche, Mützen, dicke Handschuhe, Schneestiefel, und atmen durch einen Schal. Ein tiefer Atemzug bei minus 40 Grad ist eine interessante Erfahrung. Die Kälte rinnt wie Glassplitter durch die Kehle und verstopft die kribbelnde Nase. Ich glaube sie hat das Potential Grippeviren zu töten. Bisher hatten wir noch keine Erkältung im Yukon. Vermutlich kann kein Bazillus der Kälte trotzen.
Brillenträger lassen entweder die Brille oder den Schal zuhause, denn die Brille beschlägt beim Atmen in den Schal und sorgt für einen Blindflug. Der aufsteigende Atem unter den Gläsern lässt die Wimpern weiß gefrieren. Das sieht witzig aus, erschreckte mich aber doch ein bisschen. Ein Teil von mir war gefroren!
Ohne Handschuhe geht nichts, selbst wenn sie unhandlich sind. Keine Frau trägt eine Handtasche, denn der Inhalt würde steif gefrieren. Man bringt alles nötige in den Jackentaschen unter. Den Metallgriff einer Tür mit bloßen Händen anzufassen könnte Spontanerfrierungsanzeichen auf der Haut hinterlassen. Supermärkte haben elektrische Türen, wobei nun Ein- und Ausgang durch nur eine Tür erfolgt, um nicht so viel Wärme aus dem Innern entweichen zu lassen. Gekauftes Frischgemüse muss in der Jacke befördert werden oder in isolierten Taschen, sonst erleidet es Frostschäden auf dem Weg zum Auto.
Der Mud-Room in Häusern macht jetzt Sinn. Das ist der Eingangsbereich, der oft geräumig ist und sämtliche Winterkleidung beherbergt, die in ihrem Ausmaß eine ordinäre deutschen Garderobe überfordern würde. Die Kälte wird gepuffert, da eine Tür zum Wohnraum die Wärme im Haus hält wenn die Haustür geöffnet wird. Viele nutzen jetzt auch die Möglichkeit durch die Garage ins Haus zu gelangen. Dort können nasse Schuhe und sportliche Ausrüstungen prima "draußen" bleiben. Über dem 60. Breitengrad werden Häuser wintertauglich geplant, und jedes Haus hat die obligatorische Steckdose außen, um das Auto im Winter an den Strom anzuschließen.
Menschen, die draußen arbeiten müssen, polstern ihre Schuhe und Handschuhe mit kleinen Thermo-Päckchen, die eine chemische Flüssigkeit enthalten. Werden sie geknickt, entwickeln sie Hitze und halten die Wärme für ein paar Stunden. Man sollte es nicht für möglich halten, aber man kann sich tatsächlich so anziehen, dass die Kälte zu einem kleinen Übel wird. Meine Schneestiefel sind gut für bis zu minus 70 Grad. Unvorstellbar, aber so sagt das Etikett.
Nur das Atmen kann einem nicht erleichtert werden. Ich finde es derart unangenehm, dass ich mir nicht vorstellen kann zum Wintersport zu gehen bei diesen Temperaturen. Einen Abhang herunterfahren auf Skiern mit dem Wind im Gesicht? Selbst mit Ganz-Gesicht-Verbrechermaske aus warmem Fleece-Material muss man immer noch die Glassplitter atmen, die Brille beschlägt, und man ist ungefähr so attraktiv und beweglich in all der Ausrüstung wie das Michelin-Männchen. Ich warte lieber auf kuschelige minus 15 Grad, die man plötzlich als Wärmewelle empfindet. Ja wirklich, man passt sich an. Wir hatten erst kürzlich einen Wärmeeinbruch der uns plus 9 Grad bescherte. Ich ging nach draußen ohne Jacke. Wer hätte das gedacht? Gott sei Dank halten sich Perioden von mörderischen Tiefsttemperaturen stets nur für ein paar Tage, dann geht es wieder aufwärts und man kann wieder atmen.
Trotz der Kälte gehen die Menschen in den wenigen Stunden Tageslicht raus und genießen viele Arten von Wintersport. Ski-Langlauf ist besonders beliebt. Für das Snow-Shoeing ist der Schnee gerade mal hoch genug, Snowboard fahren geht allemal. Wir haben Bekannte, die sich ihren Husky vor die Skier spannen und sich von ihm ziehen lassen. Der Hund ist ganz verrückt danach. Ebenfalls ein großer Freizeitspaß sind Ski-Doos oder auch Snowmobile genannt. Manche Leute montieren einen kleinen Schneepflug an und räumen damit ihre Einfahrten und Bürgersteige. Auch Rasenmähertraktoren dienen als Schneepflüge. Der Schnee wird in Whitehorse nicht sehr hoch, im Vergleich zu Ontario, wo man sein Auto täglich neu ausgraben muss und die Straßen zu weißen Tunneln werden. Weiter oben im Norden, und in Alaska ist es weit schlimmer als hier. Mehr als einen halben Meter erreicht der Schnee selten, und wenn er zusammengesackt ist, schneit es erneut für ein bis zwei Tage, dann ist wieder Pause für manchmal ein paar Wochen. Wir hatten erwartet eingeschneit zu werden, sind aber froh, dass dem nicht so ist. Schneeräumen ist anstrengend in der Kälte, wenn die Einfahrt breit ist, und ich habe hier noch keine schmale Einfahrt gesehen.
Der städtische Schneepflug räumt die Straßen alle paar Wochen, indem er alles bis zum Asphalt abkratzt und abtransportiert auf Schneehalden. Das ist nötig um eine zu dicke Schneedecke zu vermeiden, die sich bei harten Temperaturen in Eis verwandelt. Was bleibt sind heimtückische Eisflecken, und man tut gut daran sich Reifen mit Spikes anzuschaffen, die einem eine gewisse Macht über die Natur geben. Sämtliche Trotzversuche des Menschen sind allerdings sinnlos wenn die Straße mit Black Ice überzogen ist. Wenn der Asphalt trocken aussieht aber tiefschwarz als hätte es geregnet, dann bedeutet das, er ist bedeckt von purem Eis. Hier helfen auch Winterreifen nichts mehr und man bleibt am besten Zuhause bei heißem Tee und einem guten Buch.
Das Zuhause wird zum Dauerdomizil, was manche Menschen in Depressionen stürzt, in das bereits erwähnte Cabin Fever. Außerhalb der Stadt, wo es nicht einmal Einkaufsmöglichkeiten gibt, die einen aus dem Haus führen, sitzt man fest, wenn die Straßen unpassierbar sind. So mancher dreht buchstäblich durch. Doch die meisten sind freiwillig dort, weil sie die Einsamkeit und Stille lieben und nirgends sonst sein möchten. Halbseidene Einstellungen gibt es kaum – entweder man liebt es, oder man verlässt die Gegend bei der erstbesten Gelegenheit.
Wer Winter liebt kommt in Whitehorse voll auf seine Kosten. Um zehn Uhr morgens wird es hell, und um halb vier wird es schon wieder dunkel, während es im Hochsommer erst nach Mitternacht für nur wenige Stunden dunkel wird, und nicht einmal tiefschwarz. Einen Spaziergang an einem Winterabend außerhalb der Stadt im frischen Schnee und bläulich milchigem Licht des Vollmonds sollte man sich nicht entgehen lassen. Die Eindrücke sind traumhaft.
Die von ewigem Eis bedeckten rauen Berggipfel unter dem sternklaren Himmel, der nicht von Lichtüberflutung einer Großstadt gedämpft wird und mehr Sterne zeigt als man je gesehen hat. Die weiße Platte eines zugefrorenen Sees, märchenhafte Bäume, starr und verzaubert, schwer mit dickem Schnee beladen wie mit weißer Zuckerglasur. Der Vollmond zwischen den Tannenspitzen, der mit aller Kraft leuchtet und die Natur unwirklich erscheinen lässt, gespenstisch gar, einladend weich und doch abweisend und unnahbar eisig. Gefährlich und faszinierend zugleich. Die Stille macht die eigenen Gedanken laut und störend, die Unbeweglichkeit der Landschaft verwandelt die Szenerie in ein Gemälde das man bestaunt. Doch die bittere Kälte, die an den Kleidern zerrt und sich durch die Handschuhe beißt macht bewusst, dass man Teil dieses Bildes ist. Mitten drin steht. Über all dem tanzende Geister, sich windend, auseinanderfallend, neu formierend, sich gegenseitig jagend und verdrängend, in grellen Regenbogenfarben leuchtend, mal pink, mal rot, mal grün. Über den gesamten Nordhimmel, zum Anfassen nah: Aurora Borealis – Nordlichter.
Man sagt sie kommen näher, wenn man pfeift. Eine andere Legende über die Lichter stammt von den Indianern. Sie glaubten die Lichter beleuchten den Pfad zum Jenseits für Verstorbene. Ist man zu nüchtern für solche Legenden oder lässt man sich durch sie noch mehr bezaubern – sie bleiben immer ein dramatisches Schauspiel, dem man stundenlang zuschauen möchte, mit dem Herzen eines Kindes, das über sein erstes Feuerwerk staunt. Ein Feuerwerk der Natur, Freude erweckend und wie erschaffen für uns, um sich ihr näher zu fühlen.
Oh ja, manch einer wird süchtig vom Yukon und möchte nie wieder zurück in eine Großstadt. Wann ist ein Mensch reif für den Yukon? Wenn er lange genug gesucht hat, da draußen in der Welt, und einiges fand, bloß nicht sich selbst. Inneren Frieden findet man hier, inmitten der Millionen Jahre alten Berge, die Erkenntnis, dass Stress und Hektik eine unnatürliche Erfindung der modernen Welt sind. Sinnlos und krank machend. Und wofür? Für einen noch größeren Flachbildschirm, ein noch größeres Auto?
Eine Sehnsucht formt sich im Yukon-infizierten Menschen: Zur Hölle mit dem Stress. Gib mir eine Blockhütte, Feuerholz, einen simplen Job und einen Hund. So sollte ein Mensch leben. Einfach. Wie großartig kann ich sein, da draußen in der Geschäftswelt? Es gibt nichts Großartigeres als die Natur.
2004-11-07 by Joy Fraser, Wirtschaftswetter
Text + Fotos: © Joy Fraser
Weitere Fotos: ©Cornelia Schaible
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