von Dr. Elisabeth Kärcher
Lepra ist wie der böse Geist in der Flasche. Ist die Diagnose erst entkorkt, breitet sie sich flüsternd aus und führt zu einer Stigmatisierung der Betroffenen. Die Diagnose sollen wir daher nur als Fachbegriff sagen, bedeutet uns der dermatologische Professor einer der Unikliniken Kolkatas vor Beginn der Spezialsprechstunde.
Wie üblich in langen Schlangen aufgereiht drängen die Patienten heran und mag es sie auch überraschen, dass deutsche Ärzte im Raum sind, so ist es offenbar ganz normal, dass die Schlange indischer Patienten ohrenspitzend bis zum Arztschreibtisch reicht. Die Tür zum Nebenraum, in dem zwei weitere Ärzte jeweils ihre Schlange abarbeiten, steht ebenso weit offen wie das Fenster zur Straße, wo neugierige Passanten stehenbleiben und an dem, was da vor sich geht, teilhaben.
Dass ich heute – mitten in dieser Öffentlichkeit – neben Patienten mit Fußpilz, Tropenakne, Schuppenflechte und Hautekzemen auch Lepra sehen würde, das hatte ich so nicht erwartet. Dass es dann eine ganze Vielzahl würden, erst recht nicht. Aber die größte Überraschung ist, dass die frühen Formen der Lepra so gar nicht in das Bild vom Aussatz passen wollen.
Für die Basisgesundheitsversorgung fern von erfahrenen Hautärzten macht es daher Sinn, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO Lepra simpel in zwei Kategorien einteilt: die mit vielen Hautveränderungen und die anderen. Wie bei Tuberkulose erhalten die Patienten hierfür ein festgelegtes Behandlungsprogramm über sechs Monate, das kostenlos ist. Monatlich muss die nächste Tablettenpackung geholt und die erste Dosis gleich vor Ort eingenommen werden.
Unter der Behandlung leben die Patienten ihr Leben weiter, das bedeutet für viele: waschen am Brunnen am Straßenrand, schlafen in einer Hütte oder unter einer Plane oder in Wohnhäusern, die vom Monsunregen durchfeuchten und schimmeln, Hungern, Einbußen bei der Arbeit. Es wird klar, warum es in Indien so schwer ist, Lepra endgültig auszurotten.
Dennoch ist Lepra nicht ausschließlich ein Leiden der Armen. Die Empfänglichkeit für die Erkrankung, die noch dreißig Jahre nach der Infektion ausbrechen kann, scheint genetisch bedingt zu sein. Während direkte Blutsverwandte häufiger erkranken, erkranken Ehegatten trotz enger Körperkontakte seltener als die anderen Menschen im Viertel.
Heute gibt es Lepra vor allem in Indien, Brasilien, Nepal, Madagaskar und Mosambique. In der Nase eines akut Leprakranken sind viele Mykobakterien nachweisbar, aber wie diese dann tatsächlich bei Kontakt zu anderen Menschen, eventuell auch zu Tieren zu Infektionen führen, so genau weiß das niemand, erklärt der Professor. Und Nichtwissen ist der beste Nährboden für Gerüchte und Ängste – und seit Jahrhunderten Begleiter der Lepra.
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2007-04-17 Dr. Elisabeth Kärcher, Wirtschaftswetter
Text: © Dr. Elisabeth Kärcher
Fotos: © Dr. Elisabeth Kärcher
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