von Dr. Elisabeth Kärcher
Am Ende hat mich Indien dann doch überrascht, nicht mit seiner Armut, nicht mit seinem Fortschritt, nicht mit der Vielfalt, der Widersprüchlichkeit oder der ungeheuren Lebendigkeit Indiens, sondern mit etwas, was ich am wenigsten erwartet hätte: dem festen Blick in die Zukunft.
Diese Zukunft bedeutet eine medizinische Herausforderung ungeheuren Ausmaßes. Hatten wir in Europa Jahrhunderte Zeit, erst an Pest, Cholera und Tuberkulose zu sterben, bevor die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Tumore den Schwerpunkt stellten, steht Indien vor einem Krankheits-Tsunami, dessen Welle in den nächsten Jahrzehnten aufbranden wird.
Alte Geißeln wie die Tuberkulose, Lepra, Cholera, Tetanus, Diphtherie, Masern, Malaria, Tollwut und Kinderlähmung sind noch auf lange Sicht ebenso wenig ausgeräumt wie Unterernährung und seine Folgen für Gehirn, Kindersterblichkeit und Organreifung. Die mobile Welt treibt HIV und Dengue Fieber ins Land, forciert die Unfallrisiken. Die Industrialisierung geht vielerorts mit giftigen Belastungen einher. Gleichzeitig wächst die Zahl der wohlernährten Diabetiker, Herzkranken und Tumorpatienten.
Indiens medizinischer Elite, die moderne Praxen führen oder ausgezeichnete Krankenhäuser bauen und erweitern, ist dies bewusst. Sie setzen auf Forschung, auf Nachwuchsqualifizierung, Ausbau von Spezialitäten, manchmal auch auf die Gewinnung ausländischer Patienten. Sie lassen sich den Mund nicht verbieten, arbeiten hart und sind stolz auf das, was sie erreicht haben. Und sie wollen mehr davon.
Unfallspezialisten wollen ein landesweites Konzept zur Unfallversorgung ausbauen, gestützt auf zweirädrige Unfallfahrzeuge, die im Verkehrsgewusel besser durchkommen, finanziert durch Beiträge von Autobesitzern.
In einer modernen Herzklinik Kolkatas zählt der Kardiologe die typischen tropischen Herzkrankheiten auf, mit denen er es zu tun hat: Schädigung durch einen übermäßigen Genuss eines bestimmten Gewürzes in der einheimischen Küche, bakterielle Herzentzündungen, Autoimmunerkrankungen, Folgen von Mangelernährung, Schädigungen durch Infektionen wie HIV und Tuberkulose, Toxische Schäden, Bluthochdruck und Herzgefäßerkrankungen (umgangssprachlich Verkalkungen), die genetisch bedingt früher und schwerer als bei Europäern auftreten.
Der Lungenfacharzt zeigt uns Patienten mit Tuberkulose ebenso wie mit tropischen Pilzinfektionen, Einwirkung von Verbrennungsabgasen und Asthma. Beim Augenarzt leuchten in einem Auge Flecken durch Vitamin-A-Mangel, in einem anderen eine weiße Pupille durch Grauen Star. Und reaktive Depressionen, Ängste und psychosomatische Störungen scheinen auch nicht seltener zu sein als in Deutschland.
Ja, Blutkonserven sind in der Regel unsicher in Indien, denn die Testung ist nicht ausführlich genug, aber auch: Ja, ein langer Flug mit einer unbehandelten schweren Verletzung ist lebensgefährlich und die Blutbank mancher Spezialeinrichtung ist auf höchstem Niveau. Ja, Injektionsnadeln werden mancherorts wiederverwendet, aber auch: Ja, mitten im dörflichen Gebiet gibt es hygienische Operationssääle. Ja, westliche Indienreisende bekommen häufig in der ersten Woche einen bakteriellen Durchfall, aber genauso richtig ist: ja, einheimischen Kindern geht es nicht besser.
Ja, Informationen werden versteckt, aber genauso: Ja, die Offenheit ist frappierend. Ja, die Schere zwischen arm und reich wird größer, aber auch: Ja, die Mittelschicht wächst. Ja, das Kastensystem versperrt Aufstiegschancen, aber ebenso beseitigt es diese auch nicht. Ja, Indien hat Englisch als Amtssprache, aber gleichzeitig gilt: Kein Inder hat Englisch als Muttersprache. Ja, Indien birgt schwelende Konflikte und latente Gewalttätigkeit, aber auch das gilt: Bei all den Problemen ist Indien erstaunlich friedlich.
Ein Arzt sagt es hinsichtlich seiner Behandlungsmöglichkeiten so: Wenn jemand Vorurteile hat, nützt es nichts zu sagen, dass wir gut sind. Und wer mit Vorurteilen nach Indien geht, wird sie bestätigt bekommen, so oder so – das ist die Freiheit Indiens.
Zurück: 1. German Doctors in Kolkata
Zurück: 2. Hausbesuche in den Slums
Zurück: 3. Rehabilitation statt Betteln
Zurück: 4. Die Donnerstags-Sprechstunde
Zurück: 5. Kräutergärten im Gangesdelta
Zurück: 6. Wo die Sandfliege sticht, herrscht Not
Zurück: 7. Lepra beim Hautarzt
Zurück: 8. Forschen fürs Leben
Zurück: 9. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
2007-04-17 Dr. Elisabeth Kärcher, Wirtschaftswetter
Text: © Dr. Elisabeth Kärcher
Fotos: © Dr. Elisabeth Kärcher
Infos zu Datenschutz + Cookies
zurück zu: Themen
zurück zu: Startseite
wirtschaftswetter.de
© 2003-2021 Wirtschaftswetter® Online-Zeitschrift