von Nele Böhm
Kennen Sie den Begriff Recht auf Arbeit, genauer gesagt das Recht, bei freier Berufswahl und Sicherung der menschlichen Würde arbeiten zu können? Der Franzose Charles Fourier hat es im 18. Jahrhundert formuliert. Und es ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen als elementares Recht verankert.
Eine Arbeit zu haben, mit der man Sinnvolles zur Gemeinschaft beiträgt und für diese Arbeit angemessen entlohnt zu werden – das verleiht einem Menschen Würde, bestätigt ihn in seiner Existenz, ermöglicht ihm, Gemeinschaftssinn zu zeigen und vieles mehr.
Natürlich gibt es Menschen, die ohne all das leben können, die auf Kosten der Gemeinschaft von staatlicher Hilfe leben und das völlig in Ordnung finden. Die gibt es und hat es immer gegeben.
Doch lassen Sie uns über die anderen reden. Die, die daran verzweifeln, dass es keine Arbeit für sie gibt. Ja, ich kenne den Satz Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit. Ich habe meine Zweifel daran, dass das heute noch uneingeschränkt stimmt. Aber das ist ein anderes Thema.
Können Sie sich vorstellen, wie sich Arbeitslosigkeit und die Abhängigkeit von Sozialleistungen auf die Psyche auswirken? Wie sich ein kaufmännischer Angestellter fühlt, der jahrzehntelang für eine Firma gearbeitet hat und jetzt, mit Mitte 50, auf der Straße steht? Ein Jugendlicher, der mehr als 100 Bewerbungen verschickt hat und nichts als Absagen bekommt? Ein Langzeitarbeitsloser, der für einen Euro pro Stunde die städtischen Grünanlagen sauber hält? Ein Arbeiter, der schon seit der Lehre in seinem Betrieb arbeitet und jetzt, nach zwanzig oder dreißig Jahren, seinen Arbeitsplatz verliert?In den Medien ist immer beschönigend die Rede von Umstrukturierungen. Da versichern Firmenchefs, dass für alle Entlassenen gesorgt wird. Ja, schön wär’s. Wie sieht die Realität aus? Noch längere Warteschlangen vor der ARGE.
Ich sagte schon, ich habe das Glück Freiberufler zu sein und mit meiner Arbeit Geld zu verdienen. Dennoch kenne ich die Gefühle des Versagens und die Überzeugung, ein Verlierer zu sein, nur zu gut.
Da etwas entgegen zu halten, nicht in dieses Loch zu fallen, nicht sich selbst und sein Leben aufzugeben – das ist eine große Herausforderung. In so einer Situation werden Sie sehr schnell sehr dünnhäutig. Vermuten im Blick Ihres Gegenübers Mitleid oder gar Häme. Haben das Gefühl, Sie müssen sich ständig entschuldigen, unter anderem weil die GEZ Ihnen die Gebühren erlässt oder die Stadtbücherei den Jahresbeitrag senkt, wenn Sie den aktuellen Bescheid vorlegen.
Dabei ist allein das ein Spießrutenlauf. Der GEZ zum Beispiel genügt nicht das Deckblatt des Bescheides, auf dem die Summe angegeben ist, die Ihrer Bedarfsgemeinschaft monatlich zusteht. Nein, Sie müssen den gesamten, viele Seiten umfassenden Bescheid einschicken. In dem Wissen, dass wildfremde Menschen alle Details über Ihre finanziellen Verhältnisse lesen.
Mütter von Kindergarten- und Schulkindern erzählen mir, dass es ihnen oft genau so geht wie mir: Sie stürzen in die Krise über mögliche Reaktionen ihres Umfelds auf einen Riss im Anorak oder abgelaufene Schuhe ihrer Kinder. So was kommt vor. Auch in Familien, die nicht von Hartz IV leben müssen. Aber wer weiß, ob das Umfeld bei Kindern von Hartz IV Empfängern nicht besonders genau hinschaut?
Andere Mütter berichten von ihrem Stress wegen der staatlichen Zuschüsse für Klassenfahrten. Auf der einen Seite sind sie heilfroh, dass ihre Kinder überhaupt mit auf Klassenfahrt gehen können. Auf der anderen Seite ist es einfach ein scheußliches Gefühl, diesen Antrag zu stellen, den der Klassenlehrer sieht und die Schulsekretärin und von dem der Verwalter der Klassenkasse natürlich auch erfahren muss.
Man tut es trotzdem, natürlich. Springt über den eigenen Schatten, gesteht quasi öffentlich ein, dass man allein finanziell nicht klarkommt, bittet um Hilfe – und versucht sich einen Rest Stolz zu bewahren. Schreibt weiter Bewerbungen. bemüht sich weiter um Aufträge. Tut was man kann. Und vieles, wovon man dachte, man könnte es nicht. All das nur mit einem Ziel: unabhängig werden von staatlichen Sozialleistungen. Das gute Gefühl haben, selbst für sich und seine Familie sorgen zu können.
Im ersten Absatz habe ich von der Sicherung der menschlichen Würde gesprochen. Wissen Sie was – niemand wird es Ihnen abnehmen, die zu sichern. Das müssen Sie schon selbst tun. Fangen Sie besser gleich damit an. Wenn Sie erst im Hartz IV Bezug leben, ist das verdammt schwer.
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2008-10-26 Nele Böhm, Wirtschaftswetter
Text: ©Nele Böhm
Fotos Themenbanner: ©Cornelia Schaible
Illus: aph
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